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Full text of "Beiträge zur Würdigung Schillers, Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen;"

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UNIVERSITY 
OF 

TORONTO 
LSBRARY 


GOETHEANUM   BÜCHEREI 


HEINRICH  DEINHARDT 

BEITRÄGE  ZUR 
WÜRDIGUNG  SCHILLERS 

Briefe   über   die 

ästhetische    Erziehung 

des   Menschen 

neu  herausgegeben  und  eingeleitet 
von 

DR.  GÜNTHER  WACHSMUTH 


Mi'J  SU. 


9-M.^H. 


1922 


DER  KOMMENDE  TAG  A.G.VERLAG 
STUTTGART 


Erste  Auflage 

1,-3.  Tausend 

Alle  Rechte  vorbehalten 

Der  Kommende  Tag  A.G.Verlag 

Stuttgart 


Druck  der  Union  Deutsche  Verlagsgesellschaft  Stuttgart 


GermaDy 


Einleitung  des  Herausgebers 

Das  Dichterische  im  Menschen  ist  wie  das  Feuer- 
element im  Inneren  der  Erde:  es  hat  drei  Wege  des 
OfFenbarens.  Die  Erscheinungswelt  der  Erde  unterliegt 
oft  einer  schöpferischen  Umwandlung  durch  die  Feuer- 
elemente des  Erdinneren  im  Vulkanischen.  Was  da  ge- 
schieht, ist  Ergebnis  eines  unorganischen,  gleichsam  un- 
bedachtsamen plötzlichen  Tuns,  die  gewaltsame  Eruption 
lang  verhaltener  innerer  Kräfte,  ein  Schaffen  aus  unge- 
zügeltem Befreiungsdrang  innerer  Impulse.  Der  Vulkan 
erlöst  das  ziellos  zur  Äußerung  drängende  Innere  und 
ergreift  die  Außenwelt  unbekümmert  um  die  Erforder- 
nisse einer  Weltenharmonie  von  Innen  und  Außen.  Er- 
lösung der  Innenwelt  wird  hier  zum  lieblos  Verderblichen 
für  die  Außenwelt. 

Der  Gegenpol  solchen  Wirkens  von  innen  nach  außen 
zeigt  sich  im  Nur-Gesetzmäßigen.  Hier  führt  das  Wärme- 
element —  in  seinem  Tun  und  Lassen  von  Anbeginn 
angeblich  »apriorisch«  festgelegt  —  den  Erdenzustand 
als  gesetzgebundenen  Mechanismus  vom  Urnebel  zum 
Wärmetod.  So  denkt  es  sich  ja  meist  unsere  abendlän- 
dische Naturwissenschaft.  Innere  Wärme,  in  mechanische 
Gesetze  eingespannt,  führt  zum  Wärme tod  von  Erde 
und  Welt! 


Aber  zwischen  den  Polaritäten  des  Vulkanischen  hier 
und  der  Gesetzesmechanik  dort  bleibt  dem  Feuerelement 
des  Erdinnern  ein  dritter  Weg:  das  organische  Wirken, 
das  schöpferische  Hineinverwobensein  in  den  |harmoni- 
schen  Werdeprozeß  von  Innen  und  Außen,  das  befruch- 
tende Miterleben  der  Außenwelt  durch  die  in  ihr  pul- 
sierende, erwärmende  Innenwelt;  ein  Wärmewirken  ohne 
Zerstörung  und  ohne  Wärmetod,  ein  Wärmewirken  als 
schöpferisch-tätiges  Element  des  organischen  Lebens. 

So  auch  das  Dichterische.^  Trägt  es  nur  ungezügelte 
Impulsivität 'aus  dem  Inneren  [des  Einzelnen  unbedacht 
in  die  Außenwelt  der  Mitmenschheit,  dann  wird  sein  Er- 
gebnis Zerstörung  sein,  oder  doch  Sinnlosigkeit,  Ver- 
geudung, Unwert.  Wert  erlangt  das  gleichsam  vulka- 
nische Element  der  Dichtung  erst  in  solcher  Lyrik  z.  B., 
die  im  Phantastischen  doch  erhaben,  im  Unbedachten 
doch  ästhetisch  ist. 

Gesetzesmechanik  hingegen  lebt  im  Philosophisch-Be- 
grifflichen. Wird  dieses  Element]zum  überwiegenden  Be- 
herrscher des  Dichterischen,  so  wird  Dichtung  in  Ge- 
dankenmechanik, Poesie  in  Logik,  das  ursprünglich  Schöp- 
ferische in  seinen  eigenen  Gesetzmäßigkeiten  absterben. 
Wie  viel  Dichtung  der  letzten  Zeiten  ist  nicht  in  die 
Sphären  dieser  beiden  Polaritäten  gemündet! 

Welches  der  dritte  Weg  ist,  den  die  Dichtung,  gleich 
dem  Feuerelemente  des  Erdinneren,  wählen  kann,  dies 
läßt  sich  nicht  aussprechen,  es  läßt  sich  nur  anschauend 
erfassen,  wenn  wir  uns  Menschen  vor  die  Seele  führen 
wie  Goethe  und  Schiller. 

Goethe  und  Schiller  mußten  ihren  Weg  gehen  durch 
die  Gefahren  der  Scylla  und  Charybdis  westlicher  und 
östlicher  Geistigkeit   des    achtzehnten   und   neunzehnten 

VI 


Jahrhunderts.  Das  Gigantische  des  von  ihnen  Vollbrachten 
liegt  —  neben  den  Inhalten  des  Geleisteten  selbst  — 
schon  auch  darin,  daß  sie  diesen  beiden  Gefahren  nicht 
erlegen  sind.  Dies  aber  war  für  die  zukünftigen  Epochen 
von  ganz  unmittelbarer  Bedeutung.  Die  westliche  Kultur 
hatte  damals  ein  bestricke,ndes  System  philosophischer 
Abstraktionen  ausgebildet,  durch  die  das  lebendige  Ge- 
dankenelement des  Menschen  in  eine  apriorisch  sein  sol- 
lende Gesetzesmechanik  eingespannt  wurde  und  damit 
den  Todeskeim  empfing. 

Schillers  Natur  setzte  ihn  der  Gefahr  aus,  von  diesem 
Todeskeim  alles  Dichterisch-Schöpferischen  angesteckt 
zu  werden.  Er  entrang  sich  der  Versuchung  und  blieb 
Sieger  in  den  »Briefen  über  die  ästhetische  Erziehung 
des  Menschen«.  Ein  Mensch  wie  Kant  z.  B.  unterlag. 
Schiller  streifte  die  Sphäre  Kants,  aber  da  wo  Leben- 
diges, Entwicklungsfähiges  in  Schiller  atmet,  da  ist  er 
schon  über  Kant  hinaus,  der  Gefahr  des  WestUchen  ent- 
ronnen, sonst  hätte  seine  Anschauung  über  das  Wesen 
und  Wirken  des  Ästhetisch-Schönen  im  Menschen  in 
ihm  nicht  geboren  werden  können. 

Goethes  Natur  neigt  mehr  zur  Gefahr  der  östhchen 
Abirrung.  Er  schreibt  einmal  (4.  Februar  1797)  einen 
Brief  an  Schiller,  in  dem  er  sagt:  »Vielleicht  bildet  sich 
die  Idee  zu  einem  Märchen,  die  mir  gekommen  ist, 
.weiter  aus.  Es  ist  nur  gar  zu  verständig  und  verständ- 
lich, drum  will  mir's  nicht  recht  behagen ;  kann  ich  aber 
das  Schiffchen  auf  dem  Ozean  der  Imagination  recht 
herumjagen,  so  gibt  es  doch  vielleicht  eine  leidliche 
Komposition  .  .  .«  Goethe  weiß  selbst  sehr  gut,  daß  er 
Gefahr  läuft,  vielleicht  auch  im  Ozeane  der  Imaginationen 
zu  ertrinken.  Auch  er  besiegt  den  Gegner  in  sich  selbst, 

VII 


und,  anstatt  sich  von  den  Bildern  seiner  Phantasie  trei- 
ben zu  lassen,  zügelt  und  ordnet  er  sie  zu  dem  ewig 
herrlichen  »Märchen  von  der  grünen  Schlange  und  der 
LiHe«. 

Rudolf  Steiner  hat  in  seiner  Schrift  »Goethes  Geistes- 
art in  ihrer  Offenbarung  durch  seinen  Faust  und  durch 
das  Märchen«^)  und  in  mehreren  Vorträgen  auf  dies  tief 
bedeutsame  Phänomen  hingewiesen,  wie  zu  gleicher  Zeit 
das  gleiche  Thema  von  zwei  größten  Menschen,  wie  Goethe 
und  Schiller,  so  grundverschieden  angeschaut  und  darge- 
stellt wird.  Das  Problem  der  Freiheit,  der  Staatsform,  der 
menschlichen  Gesellschaft  klärt  Schiller  —  die  westHche, 
philosophisch-abstrakte  Abirrung  und  die  des  Kantianismus 
vermeidend  —  in  der  Sphäre  des  Ästhetischen,  des  Künstle- 
risch-Schönen. Aber  selbst  in  dieser  Sphäre  arbeitet  Schiller 
doch  noch  mit  dem  Rüstzeug  des  Verstandesmäßigen,  trägt 
noch|  einen  Rest  toter  Geistigkeit  in  das  Gebiet  lebendiger 
Anschauung.  Goethe  klärt  das  gleiche  Problem,  indem  er 
es  bildhaft-imaginativ  sich  selbst  aussprechen  läßt.  Bei 
Sch|iller  gruppieren  sich  die  Gedanken,  bei  Goethe  die 
Bilder  zu  einer  Erkenntnis.  Was  Schiller  in  den  »Briefen 
über  die  ästhetische  Erziehung«  als  Postulat  hinstellt,  das 
tut  Goethe  im  »Märchen«  in  bezug  auf  den  gleichen 
Inhalt.  Schiller  entreißt  das  Gedankenelement  der  toten 
Abstraktion  ethisch-philosophischer  Lehrsysteme  und  for- 
dert es  in  die  Schranken  des  Künstlerisch-Lebendigen. 
Goethe  läßt  das  Gedankenelement  von  vornherein  in 
lebendiger  Bildgestalt  auftreten.  Will  Goethe  sich  selbst 
über  das  Problem  aussprechen,  so  läßt  er  den  goldenen 


^)  Dr.  Rudolf  Steiner,  Goethes  Geistesart.  Philos.-Anthrop.  Verlag 
Berlin. 

VIII 


König,  den  silbernen  König,  den  ehernen  König  als  Drei- 
heit,.  und  neben  diesen  den  abscheulichen  gemischten 
König,  die  sie  krönende  Liebe  und  manche  andere  Mär- 
chengestalten in  bewegten  Bildern  handelnd  ihr  Verhält- 
nis untereinander  und  zu  den  Weltfragen  dartun,  aus- 
leben. Ist  dieses  Bilderweben  zu  Ende,  so  hat  der  tief- 
sinnige Beschauer  das  Ergebnis  in  sich,  er  bedarf  nicht 
des  Aussprechens  und  Deduzierens  der  Wahrheit,  er 
weiß  sie,  und  sie  bleibt  lebendig  fortwirkend  in  ihm. 
Dies  ist  die  ewig  junge,  wachstumsfähige  Bilderwelt, 
die  durch  Goethesche  Geistesart  im  Menschen  gepflanzt 
wird. 

Nähert  sich  Goethe  jedoch  mit  dem  Mittel  des  Ver- 
standes der  problematischen  Frage,  so  bejaht  er  die 
Worte  Schillers  von  ganzem  Herzen.  Goethe  schrieb  am 
28.  Oktober  1794  an  Schiller  über  dessen  »Briefe  zur 
ästhetischen  Erziehung«  aus  Weimar:  »Hierbei  folgen 
Ihre  Briefe  mit  Dank  zurück.  Hatte  ich  das  erste  Mal 
sie  bloß  als  betrachtender  Mensch  gelesen  und  dabei  viel, 
ich  darf  fast  sagen  völlige  Übereinstimmung  mit  meiner 
Denkensweise  gefunden,  so  las  ich  sie  das  zweite  Mal  im 
praktischen  Sinne  und  beobachtete  genau:  ob  ich  etwas 
fände,  das  mich  als  handelnden  Menschen  von  seinem 
Wege  ableiten  könnte;  aber  auch  da  fand  ich  mich  nur 
gestärkt  und  gefördert,  und  wir  wollen  uns  also  mit 
freiem  Zutrauen  dieser  Harmonie  erfreuen.« 

So  werden  diese  zwei  gewaltigen  Gestalten  in  der  Ge- 
schichte mitteleuropäischer  Geistigkeit  dadurch,  daß  sie 
gemeinsam  —  und  doch  ein  jeder  auf  seine  Weise  — 
die  Gefahren  vulkanischer  östHcher  Phantastik  und  toter 
westlicher  Gedankenmechanik  vermeiden,  zu  einem  wachs- 
tumskräftigen  Wesenskern    für    die    organisch-lebendige 

IX 


Entwicklung  des  Geistigen   einer  Gesamtmenschheit  der 
Zukunft. 

Um  das  Wesen  der  von  Schiller  gebrachten  neuen  An- 
schauung voll  zu  verstehen,  wird  es  notwendig  sein,  die 
Genesis  des  Entwicklungsgedankens  selbst  zu  verfolgen. 
Man  kann  sagen :  Eine  frühere  Geistigkeit  betrachtete 
das  Menschenwesen  mehr  gemäß  seiner  Entwicklung  in 
der  Zeit,  den  Menschen,  wie  er  sich  umbildet  im  ewi- 
gen Werden.  Schiller  hingegen  geht  aus  von  einer  An- 
schauung des  Menschen  gleichsam  im  Raum,  wie  er 
jetzt  ist,  und  knüpft  erst  daran  seine  Postulate  über  das, 
was  werden  soll.  Es  ist  interessant,  wie  die  Philosophie 
sich  historisch  derart  ändert,  daß  sie  den  Menschen  zu- 
erst vorwiegend  in  der  Zeit,  später  vorwiegend  im  Räume 
betrachtet,  und  daraus  ihre  Erkenntnisse  und  Willens- 
richtungen bestimmt.  Buddha  schaute  hin  über  die  end- 
lose Wanderung  der  Menschheit  auf  dem  Wege  zur  Über- 
windung des  Leidens.  Das  allmähliche  Verstricktwerden 
des  Menschen  in  das  Sinnlich-Physische  ist  der  Werde- 
prozeß des  Leidens,  die  [allmähliche  Überwindung  des 
Physischen  ist  der  Werdeprozeß  der  Erlösung  der  Mensch- 
heit. Wer  diesen  schier  ewigen  Weg  des  von  Brahman 
sich  entfernenden  und  zu  ihm  zurückkehrenden  Men- 
schen durch  die  Äonen  hindurch  anschaut,  der  erfaßt 
im  Sinne  der  Lehre  Buddhas  das  Wesen  des  Menschen. 
Die  jeweilige,  vorübergehende  innere  Struktur  des  Men- 
schen ist  hierbei  von  verschwindend]  geringer  Bedeu- 
tung. Werden  und  Vergehen,  die  Elemente  des  Zeit- 
lichen, sind  das  Wesentliche  einer  solchen  Anschauung 
vom  Menschen.  Gleicherweise  dachte  noch  der  Ägypter, 
seine  Philosophie  gipfelt  im  »Totenbuch«,  welches  da- 
von spricht,  woher  der  Mensch  kommt,  wohin  er  geht, 

X 


was  aus  ihm  wird,  nicht  aber  wie  er  ist.  Erst  mit 
dem  Aufkommen  des  mehr  auf  das  menschliche  Ich  hin- 
gerichteten Gedankens  im  späteren  Griechentum,  im  Neu- 
platonismus  und  in  der  christlichen  Gnosis  setzt  eine 
punktuellere  Betrachtung  des  Menschenwesens  ein.  Der 
Mensch  will  nun  vor  allem'  erkennen,  wie  geistige  und 
physische  Elemente  räumlich  in  ihm  selbst  wirksam  sind, 
das  Problem  geht  dahin,  zu  entdecken,  wie  Gedanke, 
Gefühl  und  Wille  im  menschlichen  Organismus  räum- 
lich verankert  sind,  wie  der  Grundriß  der  geistigen  und 
physischen  Struktur  des  Menschen  gezeichnet  ist.  — 
Das  Hineinstellen  des  Menschen  in  ewige  makrokos- 
mische Zeitenrhythmen  macht  Platz  einer  Anschauung 
der  menschlichen  Struktur,  wie  sie  jetzt  ist,  im  Raum, 
in  ihrer  Wechselbeziehung  von  Materie  und  Geist. 

Das  Mysterienstandbild  der  ägyptischen  Weisen  und 
Priester  zu  Sais  trug  einst  die  Inschrift:  »Ich  bin,  die 
da  war,  die  da  ist,  die  da  sein  wird.«  Man  dachte  da- 
mals: Wer  vom  Werdenden  den  Schleier  hebt,  ver- 
steht Welt  und  Mensch.  —  Die  Erkenntnis  seit  Beginn 
des  Christentums  aber  will  sich  durchringen  zum  Ver- 
stehen des  »Ich  bin  der  Ich-bin«.  —  Wer  vom  Seien- 
den den  Schleier  hebt,  versteht  Welt  und  Mensch.  Doch 
man  trat  bisher  an  diese  Aufgabe  nur  mit  dem  Rüst- 
zeug des  abstrakten  Gedankens  heran,  daher  gelang  es 
letztlich  noch  keinem,  den  Schleier  zu  lüften. 

Noch  einmal  bricht  die  genetische  Philosophie  durch 
in  Lessings  »Erziehung  des  Menschengeschlechts«.  Er 
sagt  sich,  daß  man  kein  Verständnis  für  den  Sinn  und 
das  Geartetsein  des  Menschenwesens  finden  kann,  wenn 
man  nur  die  geistig-seelische  Organisation  des  heutigen 
Einzelmenschen  betrachtet,  sondern  erst  dann,  wenn  man 

XI 


jede  Einzelseele  immer  wieder  hineingestellt  weiß  in 
den  zeitlichen  Entwicklungsprozeß,  wenn  man  sie  ver- 
folgt, wie  sie  immer  wieder  und  wieder  herabsteigt  in 
die  Verkörperung  auf  Erden,  um  dasjenige  aufzunehmen, 
was  die  sich  fortentwickelnde  Erde  mit  ihren  wechseln- 
den Kulturen  ihr  immer  in  neuer  Weise  zu  bieten  hat. 
Lessing  will  die  menschliche  Seele  erkennen  als  eine 
Summe  von  Weltenerfahrung,  deshalb  muß  er  zur  An- 
erkennung der  Wiederverkörperungslehre  kommen.  Die 
Zeit  ist  ihm  eine  der  wichtigsten  Erzieherinnen  des 
Menschengeschlechts. 

Von  ganz  anderen  Gesichtspunkten  geht  Schiller  aus. 
Er  fragt  zuerst  nach  der  inneren  Struktur  des  jetzigen  Men- 
schen, um  aus  ihr  die  Erziehung  der  Zukunft  ableiten  zu 
können.  Er  geht  nicht  aus  von  dem  Nacheinander  der 
Seelenentwicklung,  sondern  betrachtet  zuerst  das  Neben- 
einander der  Triebe  im  Menschen,  wie  er  heute  ist.  Und 
da  sagt  er  sich,  daß  man  im  Menschen  vor  allem  eine 
GegensätzHchkeit  vorfindet  zwischen  zwei  Grundtrieben, 
dem  Vernunfttrieb  und  dem  Naturtrieb.  Beides  sind  keine 
Elemente,  die  den  Menschen  zur  wahren  Freiheit  hinführen 
können.  Schiller  suchte  aber  diejenigen  Seins-  und  Wir- 
kenssphären des  Menschen,  in  denen  er  wahrhaft  frei 
sein  kann.  Lebt  sich  der  Mensch  im  Gebiet  des  Natur- 
trieb es  aus,  so  ist  er  in  die  Naturnotwendigkeiten,  in 
den  Zwang  der  Naturgesetzlichkeit  eingespannt.  Die  phy- 
sische Natur  des  Menschen  als  Grundlage  seiner  dorthin 
gerichteten  Triebe  ist  eingebaut  in  das  Räderwerk  des 
geregelten  Naturgeschehens,  hier  ist  der  Mensch  unfrei. 
Aber  auch  am  Gegenpol  liegt  nicht  die  Erlösung.  Denn 
der  Vernunfttrieb  des  Menschen  unterliegt  der  Vernunft- 
notwendigkeit, dort  trägt  er  die  Zwangsjacke  der  Logik, 

XII 


der  geistigen  Gesetzmäßigkeiten,  nach  denen  die  Welt 
gleichsam  durchmathematisiert  ist.  Auch  hier  ist  er  un- 
frei. Pendelt  der  Mensch  nur  zwischen  Naturtrieb  und 
Vernunfttrieb  hin  und  her,  so  ist  er  eingespannt  in  Natur- 
notwendigkeit und  Vernunftnotwendigkeit.  Die  Freiheit 
wird  er  in  diesen  Sphären  niemals  finden  können.  Aber 
Schiller  weist  nun  dem  Menschen  noch  einen  mittleren 
Zustand  zu,  den  des  Spieltriebes.  Es  ist  die  Sphäre  des 
Schönen,  des  Ästhetischen,  es  ist  diejenige,  wo  er  sich 
nicht  durch  gedankliche  oder  leiblich-natürliche  Notwen- 
digkeit bestimmen  läßt,  sondern  im  mittleren  Zustande 
zwischen  beiden  frei  ist  im  Lieben  oder  Nichtlieben,  im 
ästhetischen  Erlebnis,  aktiv  im  künstlerischen  Schaffen, 
passiv  im  künstlerischen  Genießen.  Ja,  erst  aus  dieser 
Freiheit  heraus  gibt  er  dann  von  sich  aus  dem  Gedank- 
lichen und  dem  Naturgegebenen  neue  Normen  hinzu  in 
der  künstlerischen  Schöpfung,  sei  es  in  der  Dichtung, 
in  der  Plastik  oder  irgendeinem  anderen  Ausdrucks- 
mittel des  freien  Künstlers.  —  Die  Erfassung  dieses  mitt- 
leren Zustandes  des  Menschen  im  Spieltrieb  war  gewiß 
eine  der  genialsten  Konzeptionen  Schillers. 

Wo  Gedanke  und  Wille  des  Menschen  nichts  mehr 
vermögen,  weil  sie  in  die  Zwangsjacke  der  Notwendig- 
keiten eingeengt  sind,  da  kann  sich  der  Mensch  im  Spiel- 
trieb doch  noch  in  Gebiete  befreiend  erheben,  die  jen- 
seits des  abstrakten  Gedankens  und  des  naturbegrenzten 
Willens  liegen,  da  kann  gleichsam  das  Herz  des  Men- 
schen aus  dem  Erlebnis  der  symphonischen  Sphären  des 
Ästhetischen  und  des  Schönen  heraus  frei  und  schöpfe- 
risch in  die  Welten  der  Vernunftnotwendigkeit  und  Natur- 
notwendigkeit gestaltend  hineinwirken.  Goethe  sprach  es 
dichterisch  aus,    daß  dort  ein  Wissen  waltet,    das  durch 

XIII 


das  Denken  allein  nicht  herbeigezwungen  werden  kann, 
dessen  Erwerbung  noch  andere  Kräfte  erfordert,  die  aus 
dem  ganzen  Menschen  genommen  sein  wollen.  In  der 
Apotheose  am  Ende  des  Faustdramas  fleht  der  Pater 
Profundus  zu  höheren  Regionen,  zu  den  Liebesboten 
der  Engelsphären  hinauf,  ihm  zu  verkünden : 

»Was  ewig  schaffend  uns  umwallt, 

Mein  Innres  mög'  es  auch  entzünden. 

Wo  sich  der  Geist,  verworren,  kalt, 

Verquält  in  stumpfer  Sinne  Schranken, 

Scharfangeschloßnem  Kettenschmerz. 

O  Gott!   beschwichtige  die  Gedanken, 

Erleuchte  mein  bedürftig  Herz!« 

So  nahe  Schiller  dem  Erfassen  der  Wirklichkeiten  im 
Erkennen  des  Spieltriebes,  als  eines  freien  mittleren  Zu- 
stands  zwischen  zwei  Polen  des  Zwanges  kam,  so  näherte 
er  sich  doch  immer  wieder  der  Wahrheit  noch  von  der 
Seite  des  abstrakten  Gedankens.  Dadurch  aber  blieb  er 
immer  etwas  vor  dem  Ziele  stehen,  erlahmten  ihm  die 
unzulänglichen  Mittel  vorzeitig.  Goethe  tat  auch  hier 
wiederum,  was  Schiller  theoretisch  richtig  forderte;  Goethe 
näherte  sich  diesen  letzten  Wahrheiten  nicht  als  Philo- 
soph, sondern  als  Künstler,  und  weil  —  vielleicht  darf 
man  es  so  aussprechen  —  die  Welt  von  der  Gottheit 
nicht  abstrakt-philosophisch,  sondern  lebendig-künstle- 
risch von  Anbeginn  auferbaut  ist,  so  wird  ewig  nur  der- 
jenige zu  den  Urgründen  von  Natur  und  Welt  wissend 
vordringen,  der  sich  dieser  ihrer  eigenen  Mittel  bedient. 
Goethe  stellt  den  Weg  von  der  Notwendigkeit  zur  Frei- 
heit in  lebendigen  Bildern  dar,  Schiller  in  Begriffen.  Ge- 
wiß ist  auch  dies  notwendig,  aber  die  Begriffe,  die  der 
Wirklichkeit  abstrahiert  sind,   erlahmen,  ersterben  früher 

XIV 


als  die  Bilder,  die  ihrem  lebendigen  Wirken  abgeschaut 
sind  und  deshalb  lebendig-tätig  weiter  vordringen  kön- 
nen, die  Wirklichkeit  bis  in  ihr  tieferes  Wesen  hinein 
zu  spiegeln  vermögen. 

Die  Ansicht  der  letzten  zwei  bis  drei  Jahrhunderte  von 
der  Erdenentwicklung  als  einem  automatisch-mechanisch 
verlaufenden  Prozeß  zwischen  Urnebel  und  Wärmetod  — 
das  Ganze  notdürftig  überbaut  mit  einem  abstrakten  Ethik- 
system, um  ihm  irgendeinen  Sinn  zu  geben  —  ist  ein 
totgeborenes  Weltbild,  dessen  Mutter  die  quantitative 
Naturwissenschaft,  dessen  Vater  die  neuere  Philosophie 
ist.  Schiller  gelang  es,  sich  von  letzterem  Elemente,  dem 
Kantianismus,  loszuringen.  In  den  wunderschönen,  von 
innerster  seelischer  Wärme  getragenen  Worten,  die  er 
der  Schilderung  des  freien,  ästhetischen  Zustandes,  des 
Spieltriebes  im  Menschen  weiht,  erhebt  er  sich  hoch  über 
den  eiskalt-abstrakten,  toten  Pflichtbegriff  Kants.  Hätte 
Schiller  seine  Erkenntnisse  noch  mit  dem  imaginativen 
Elemente  Goethes  durchdrungen,  dann  hätte  er  das  letzte 
Bleigewicht  von  seinen  Füßen  geschüttelt  und  den  Frei- 
heitszustand des  Menschen  in  einer  Weise  darstellen 
können,  die  auf  Jahrhunderte  hinaus  das  Innerste  der 
Menschheit  in  solcher  Richtung  befruchtet  und  impul- 
siert  hätte.  —  Es  soll  gewiß  nicht  das  Großartige  der 
»Briefe  über  die  ästhetische  Erziehung«  in  Schatten  stellen, 
sondern  nur  hindeuten,  wo  die  Elemente  zu  ihrer  Frucht- 
barmachung und  Fortführung  in  Zukunft  gesucht  werden 
müssen,  wenn  wir  zu  zeigen  versuchen,  wo  die  Hem- 
mungen liegen,  die  dieses  Werk  bisher  verhinderten,  zu 
einem  wirksamen  Faktor  im  öffentlichen  Leben  der  heu- 
tigen menschlichen  Gemeinschaft  und  im  Seelenleben  der 
meisten  Einzclmenschen  zu  werden. 

XV 


Es  ist  deshalb  ein  großes  Verdienst  Deinhardts,  wenn 
er  den  Versuch  gewagt  hat,  mit  einer  solchen  Diskus- 
sion dieses  Werkes  Schillers  zu  beginnen,  die  neben 
seinen  Grenzen  vor  allem  aber  diejenigen  Ausgangs- 
punkte aufzeigen  will,  wo  aufbauend  weitergearbeitet 
werden  kann  an  dem,  was  Schiller  begann.  Deinhardt 
wollte  den  Blick  seiner  Mitmenschen  auf  die  erhebend 
schönen  Perspektiven  hinlenken,  die  sich  aus  einem  Fort- 
entwickeln der  Gedankenwelt  Schillers  erzeugen  würden. 
R.  Steiner  hat  einmal  erzählt,  daß  Deinhardt  zu  jenen 
Unglücklichen  gehörte,  die  trotz  allem,  was  sie  geben 
konnten,  im  Trubel  einer  modernen  Großstadt,  Wien, 
zugrunde  gingen;  »er  hatte  einmal  das  Unglück,  auf  der 
Straße  hinzufallen  und  ein  Bein  zu  brechen,  und  als  der 
Arzt  dann  kam  und  ihn  untersuchte,  sagte  dieser,  daß 
er  nicht  wieder  aufkommen  könnte,  weil  er  zu  schlecht 
ernährt  sei.  So  starb  er«. 

Deinhardt  kennzeichnet  ebenfalls  das  Tragische,  daß 
Schiller  mit  den  von  ihm  gewählten  Mitteln  zwar  der  Er- 
fassung der  WirkHchkeit  sich  wesentlich  nähert,  aber  sie 
doch  nicht  in  so  anschaulicher  Weise  ergreifen  kann,  daß  er 
das  Erkannte  nun  wiederum  als  lebendig  Wirksames  dem 
menschlichen  Einzel-  und  Gemeinschaftsleben  einimpfen 
kann.  Schiller  bleibt  beim  schönen,  richtigen  Postulat 
stehen,  wagt  es  aber  nicht  mit  den  —  wie  er  vielleicht 
selbst  fühlte  —  noch  nicht  ganz  wirklichkeitsgesättigten 
Begriffen  an  die  konkrete  Gestaltung  des  menschlichen 
und  sozialen  Lebens  heranzutreten.  Deinhardt  sagt  (S.  8) 
von  Schillers  Briefen:  »er  zwingt  sich  vielmehr,  mit  dem 
Verlangen  eines  , Staates  im  Staate',  des  ästhetischen  in 
dem  realen  —  einem  Verlangen,  das  den  Dualismus  beider 
bestehen    läßt  —  also    mit   einer   Art   von   Resignation, 

XVI 


welche  dies  nicht  weniger  für.  die  volle  Wirklichkeit  der 
Kunst,  wie  für  die  volle  Wirklichkeit  des  Staates  ist,  z  u 
enden.  Mit  anderen  Worten:  seine  Untersuchung  hält 
da  an,  wo  es  sich  darum  handelt,  über  das  unbestimmte 
Verlangen  —  die  hoffende  Voraussetzung  und  die  an  den 
Künstler  gerichtete  Mahnung  — ,  daß  die  Kunst  historisch 
erzieherisch  wirken  möge,  hinausgehend,  sie  als  einen 
ausdrücklich  zu  gestaltenden  Geschichtsfaktor,  also  die 
ästhetische  Erziehung  als  eine  zu  konstituierende  und 
auszuführende  in  das  Auge  zu  fassen«. 

Das  ist  es  eben.  Schillers  Worte  und  Gedanken  über- 
zeugen in  herrlicher  Weise  den  Kopf,  aber  das  Herz  des 
Menschen  wird  durch  sie  noch  nicht  impulsiert,  noch 
nicht  zu  freudig  freiwilligem  Tun  innerHchst  angetrieben. 
Das  heißt  nun  aber  für  den  heutigen  Menschen  nicht, 
daß  er  das  von  Schiller  Gegebene  nicht  brauche,  im 
Gegenteil,  es  bedeutet  für  uns,  dasjenige  Geisteselement 
aufzusuchen,  welches  das  von  Schiller  begonnene  Werk 
zu  ergänzen,  zu  erweitern,  durchzuführen  vermag!  — 
Da  das  von  Deinhardt  in  dieser  Richtung  Gesagte  dem 
Leser  im  folgenden  Bande  vorliegt,  wollen  wir,  da  die 
Entwicklung  seit  Deinhardt  ja  wiederum  gewaltig  fort- 
geeilt ist,  den  nachdenkUchen  Leser  auf  dasjenige  hin- 
weisen, was  aus  unserer  heutigen  Zeit  heraus  an  Geisti- 
gem geboren  wurde,  um  das  Werk  Schillers  lebendig 
fortzuführen. 

Die  von  Schiller  erkannte  Dreiheit  von  Triebsphären 
im  Menschen  fordert  gebieterisch  eine  Seelenlehre, 
welche  fähig  ist,  die  Richtigkeit  dieser  menschHchen 
Struktur  aus  konkreter  Erforschung  des  menschlichen  Or- 
ganismus, in  geistig-seehscher  und  leiblicher  Hinsicht, 
nun  auch  wirkHch  zu    erweisen.    Wer   dies    sucht,   wird 

Deinhardt,  Schiller.     II 

XVII 


die  fundamentalen  Grundlagen  solcher  Erkenntnis  finden 
in  jenem  Buche  Dr.  Rudolf  Steiners:  »Von  Seelenrät- 
seln« ^),  in  dem  er  der  Wissenschaft  und  Philosophie 
das  Werkzeug  gab,  dessen  sie  sich  in  Zukunft  wird  be- 
dienen müssen,  um  das  Wesen  des  Menschen  aus  seiner 
Organisation  heraus  auch  wirklich  zu  verstehen  und  die 
große  W^echselbeziehung  zwischen  Geistigem  und  Phy- 
sischem, wie  sie  uns  im  Menschen  entgegentritt,  bis  in 
ihre  konkretesten  Einzelheiten  hinein  erforschen  zu  kön- 
nen. Es  ist  die  Lehre  von  der  »Dreigliederung  des  mensch- 
lichen Organismus«,  wie  sie  Rudolf  Steiner  seit  der  Her- 
ausgabe des  Buches  »Von  Seelenrätseln«  auch  noch  in 
vielen  anderen  Schriften  und  Vorträgen  bewiesen,  aus- 
gebaut und  erläutert  hat.  Auf  diese  Literatur  kann  hier 
natürhch  nur  zur  Selbstorientierung  hingewiesen  werden. 
Wer  durch  solche  Methodik  das  intime  Ineinanderspielen 
von  Geistig-Seelischem  und  Physischem  im  Menschen 
anschauen  lernt,  der  steigt  auch  auf  zu  einem  tieferen 
Einblick  in  die  reale  Wirkensart  des  Künstlerischen  auf 
die  menschliche  Organisation.  Rudolf  Steiner  hat  bis  ins 
einzelne  gehend  dargestellt,  worauf  wir  hier  nur  hin- 
deuten können,  wie  das  wirklich  ästhetische  Verhalten  des 
Menschen  nun  konkret  darinnen  besteht,  daß  die  Sinnes- 
organ e  der  menschhchen  Wesenheit  in  einer  gewissen 
Weise  durch  das  Anschauen,  das  Erleben  des  Künstlerischen 
verlebendigt,  und  diese  Lebensprozesse  hinwiederum 
durchseelt  werden.  Die  Wirkung  des  Ästhetischen,  der 
Kunst,  ist  also  ein  realer  Prozeß  der  läuternden  Ver- 
geistigung des  Physisch-Materiellen,    der   sich  auf   dem 


^)  Dr.  Rudolf  Steiner,  Von  Seelenrätseln.  Philos.-Anthrop.  Verlag 
Berlin. 

XVIII 


Schauplatz  des  menschlichen  Organismus  abspielt.  Gleich- 
wie der  Makrokosmos,  wenn  er  nur  aus  dem  still- 
stehenden, starren  Fixsternsystem  des  Tierkreises  be- 
stünde, nur  ein  toter  Kosmos  wäre,  aber  durch  die  ewig 
wechselvolle  Bewegtheit  der  Planetensphären  verleben- 
digt, und  durch  deren  lebendige  Wesenheiten  durchgei- 
stigt wird, so  führt  im  Mikrokosmos  des  Men- 
schen die  wahre  Hingabe  an  den  Kunstgenuß  dahin, 
daß  die  tote,  starr-gesetzmäßige  Sinneswahrnehmung 
stärker  durchpulst  und  verlebendigt  wird  von  den  Le- 
bensprozessen, die  ihrerseits  vom  Erlebnis  des  Ästhe- 
tischen durchkraftet  und  durchseelt  werden.  Kunst- 
genuß, ästhetisches  Schaffen  und  Genießen  bewegt,  ver- 
lebendigt also  real  die  physische  Sinneswahrnehmung 
des  Menschenwesens,  durchseelt  wiederum  diesen  Lebens- 
prozeß, und  erhebt  somit  dasjenige  in  ihm,  was  sonst 
nur  als  physisch-naturhafter  Vorgang  abläuft,  in  die 
Sphären  des  Geistig-Schöpferischen.  Ist  der  Mensch 
aktiv  künstlerisch  tätig,  so  durchgeistigt  er 
die  Materie  außer  ihm.  Nimmt  derMensch  das 
Künstlerische  passiv  auf,  so  durchgeistigt  sich 
das  Materielle  in  ihm. 

Wer  unsere  Zeit  mit  wachen  Augen  miterlebt  hat, 
der  wird  auch  zu  dem  freudigen  Erlebnis  kommen,  daß 
in  der  Anschauung  des  Menschen,  wie  sie  die  Anthro- 
posophie gebracht  hat,  nun  endlich  ein  Erkenntnisele- 
ment aufgetaucht  ist,  das  nicht  —  wie  noch  Schiller  — 
resignierend  vor  der  Brücke  halt  zu  machen  braucht,  die 
von  der  theoretischen  Menschenerkenntnis  zur  prakti- 
schen sozialen  Gemeinschaftsbildung  hinüberführt,  son- 
dern daß  heute  die  geistigen  Grundlagen  gegeben  worden 
sind,  um  in  dem  aus  der  »Dreigliederung  des  mensch- 

XIX 


liehen  Organismus«  Erschauten  die  lebendige  Architek- 
tonik zu  finden,  welche  der  Mensch  in  Zukunft  auch  seiner 
sozialen  Gemeinschaftsbildung  wird  zugrunde  legen 
müssen,  wenn  er  nicht  gegen  die  Natur  arbeiten  und 
dadurch  untergehen,  sondern  mit  ihr  schöpferisch  wir- 
ken und  somit  zum  bewußt  aufbauenden  Element  der 
Weltentwicklung  werden  will.  Schiller,  als  einer  derjeni- 
gen, welche  sich  zu  der  Erkenntnis  der  lebendigen  Archi- 
tektur des  menschlichen  und  sozialen  Organismus  in 
der  Geistesgeschichte  am  tiefsten  durchgerungen  haben, 
würde  gewiß,  wenn  er  heute  lebte,  schneller  als  viele 
seiner  Epigonen,  die  umfassende  Tragweite  des  schöpfe- 
rischen Gedankens  der  »Dreigliederung  des  sozialen  Or- 
ganismus« ergreifen  und  stützen,  wie  sie  von  der  An- 
throposophie in  unserer  Zeit  vor  die  Menschen  hinge- 
stellt wird.  Wer  wahrhaft  will,  der  kann  also  in  heutiger 
Zeit  mithelfen,  das  von  Schiller  Begonnene  weiterzu- 
denken und  in  die  konkreteste  Wirklichkeit  schöpferisch 
einmünden  zu  lassen.  Nur  durch  solches  Wollen  und 
Tun  werden  Schillers  »Briefe  über  die  ästhetische  Er- 
ziehung des  Menschen«  ein  ewig  wirkungsvolles,  in  die 
Geschichte  der  Zukunft  immer  wieder  und  wieder  ein- 
greifendes Werk  sein  und  bleiben.  Dies  sei  den  Verehrern 
Schillers  in  unseren  Tagen  auf  das  allereindringlichste 
an  ihr  Herz  gelegt. 

Niemand  konnte  schöner  zum  Ausdruck  bringen,  wie 
es  dem  heutigen  Menschen  wieder  ermöglicht  ist,  das  Werk 
Goethes  und  Schillers  lebendig-organisch  fortführen  zu 
helfen,  als  der  Dichter  Albert  Steffen,  der  uns  sagt, 
was  wir  tun  sollen^): 


^)    Wochenschrift    »Das    Goetheanum«,    April    1922,     Nr.    37, 

XX 


»Solche  Übungen  (wie  sie  beschrieben  sind  in  dem 
Buche:  Wie  erlangt  man  Erkenntnisse  höherer  Welten?) 
sind  eine  Fortsetzung  der  Metamorphosenlehre.  In  noch 
erhöhterem  Maße  als  diese  befreien  sie  den  Menschen  von 
Naturtrieben  und  Gedankendogmen.  Sie  machen  ihn  stark, 
auf  sich  selbst  zu  stehen  und  in  Freiheit  den  Weg  zum 
Geiste  zu  suchen.  Sie  bilden  ihn  zum  selbständigen  Mit- 
gliede  jenes  Staates,  den  Schiller  den  ästhetischen  nennt. 
Daß  dieser  keine  Utopie  bleibe,  hängt  vom  Willen  der 
Einzelnen  ab,  die  sich  zusammentun.  Heute,  wo  im 
Westen  Europas  eine  nutzlose  Konferenz  der  anderen 
folgt  und  im  Osten  Hungersnot  und  Kannibalismus 
wüten,  wo  also  jene  Staatsformen  ad  absurdum  geführt 
werden,  denen  der  Formtrieb  und  der  Stofftrieb  Existenz 
verheben,  beginnt  man  nach  und  nach  einzusehen,  daß 
eine  Wandlung  der  Zustände  nur  von  einem  neuen  Gei- 
stesleben ausgehen  kann,  das  so  mächtige  Impulse  ent- 
wickelt, daß  der  Mensch  als  solcher  anders  werden  will. 

»Eine  Epoche  der  Selbstentwicklung  aus  Liebe  zum 
,Weltbürgertum'  muß  einsetzen,  wenn  die  Kultur  nicht 
zugrunde  gehen  soll. 

»Was  aber  könnte  die  Menschen  nach  all  den  Zu- 
sammenbrüchen noch  dazu  begeistern  ? 

»Nur  eine  Weltanschauung,  welche  die  Wirklichkeit 
des  Geistes  und  den  Weg,  wie  man  dazu  gelangt,  zu 
zeigen  imstande  ist.  Das  vermag  die  Anthroposophie, 
und  deshalb  treten  diejenigen,  denen  an  Europas  Schick- 
sal gelegen  ist,  für  ihren  Schöpfer,  Rudolf  Steiner,  mit 
ihrer  Vollkraft  ein.« 


Albert    Steffen:    »Schillers    Staatsformen    und    die    individuelle    Ent- 
wicklung«. 

XXI 


Möchten  die  jetzigen  und  die  kommenden  Menschen, 
die  auch  für  die  Zukunft  den  guten  Geist  Goethes  und 
Schillers  in  uns  lebendig  und  tätig  wissen  wollen,  Ohren 
haben,  um  diesen  Ruf  eines  Dichters  unserer  Zeit  zu 
hören ! 

Am  Goetheanum,  Dornach,  Juli  1922 


Dr.  Günther  Wachsmuth 


XXII 


ÜBER 

SCHILLERS  BRIEFE 

ÜBER  DIE  AESTHETISCHE  ERZIEHUNG 

DES  MENSCHEN 


I.  »Die  Resultate  seiner  Untersuchungen  über  das 
Schöne  und  die  Kunst«  zusammenhängend  darzustellen 
und  zu  einem  »Gesetzbuche  für  die  ästhetische 
Welt«  die  Grundlinien  zu  geben,  bezeichnet  Schiller  in 
den  beiden  ersten,  die  stattliche  Reihe  der  übrigen  ein- 
leitenden »Briefen«  über  die  ästhetische  Erziehung  als  die 
ihm  zuvorkommend  gestellte,  seinem  eigensten  Bedürfnis 
entsprechende  Aufgabe  dieser  »einseitigen  Korrespondenz«, 
die  den  Umfang  eines  Buches  gewinnt  und  deren  Form 
so  wenig  die  Strenge  wie  den  Reichtum  der  Gedanken- 
entwicklung beeinträchtigt.  Sofern  also  Schiller  seine  Ab- 
sicht ausgeführt  hat  —  und  dies  ist '  genügend,  wenn 
auch  nicht  allseitig  geschehen  —  haben  wir  in  den  »Brie- 
fen« die  umfassende  und  zusammenfassende  Darstellung 
der  Schillerschen  Ästhetik  zu  sehen,  womit  an  sich 
die  hervorragende  Stellung  undBedeutung  dieser  Schiller- 
schen Schrift  unter  seinen  übrigen,  welche  philosophische 
und  ästhetische  Themata  behandeln,  ausgesprochen  ist. 
Dennoch  ist  gerade  sie  —  im  Verhältnis  zu  ihrer  Wichtig- 
keit, und  obgleich  sie  einerseits  für  den  Zusammenhang 
der  philosophischen  und  poetischen  Arbeiten  Schillers  den 
Schlüssel  gibt,  andererseits  Gesichtspunkte  eröffnet,  welche 
zum  »Weitergehen«,  zum  Ausführen  und  Ergänzen  ein- 
laden und  auffordern  —  am  wenigsten  gewürdigt,  ver- 
arbeitet und  —  wenn  der  Ausdruck  erlaubt  ist  —  aus- 
gebeutet worden.  Ohne  auf  die  Gründe  dieser  auffallen- 

Deinhardt,  Schiller.      I 


den  Unterlassung  augenblicklich  eingehen  zu  wollen, 
dürfen  wir  doch  ohne  weiteres  die  Notwendigkeit  und 
die  Erwartung  aussprechen,  daß  das  Versäumte  nachge- 
holt werde,  und  zwar  nicht  nur  von  selten  der  Ȁsthe- 
tiker«, sondern  auch  von  selten  der  Pädagogen  und  über- 
haupt derer,  welche  die  Verwirklichung  einer  wahrhaft 
humanen  Kultur  ernstlich  interessiert  und  welche  sich 
für  verpflichtet  halten,  was  der  deutsche  Geist  in  der 
Richtung  auf  dieses  hohe,  aber  immer  gegenwärtige  und 
diesseitige  Ziel  errungen  und  geschafi"en,  festzuhalten  und 
auszugestalten.  Denn  wie  schon  die  Überschrift  beweist, 
stellen  die  Briefe  die  Ästhetik  unter  den  pädagogischen 
Gesichtspunkt  —  sie  fassen  den  ästhetischen  Zweck  zu- 
gleich als  pädagogischen  —  der  pädagogische  Zweck  aber 
kann  von  Schiller  nicht  als  ein  beschränkter,  auf  die 
vereinzelten  oder  unmittelbar  zu  erreichenden  Resultate 
der  ausdrücklichen  pädagogischen  Tätigkeit  hinauslaufen- 
der, sondern  muß  in  seiner  unbedingten  Allgemeinheit, 
folglich  als  Zweck  der  Kulturverwirklichung  gefaßt  wer- 
den. Sind  nun  die  »Briefe«  hinter  der  Absicht  Schillers 
in  ihrer  Ausführung  nicht  zurückgeblieben  —  wobei  so- 
gleich zu  bemerken  ist,  daß  sie  zu  den  am  sorgfältig- 
sten und  liebevollsten  ausgeführten  Arbeiten  des  Dich- 
ters gehören  —  so  müssen  sie  seinen  kulturhistorischen 
Standpunkt,  und  zwar  seine  auf  die  Zukunft  gerichtete 
und  insofern  praktische  Geschichtsbetrachtung  derartig 
entwickeln,  daß  sie  sein  ästhetisches  und  sein  histo- 
risches Wollen  in  ein  bestimmtes  Verhältnis  setzen, 
folglich  die  Einheit  in  Schillers  Bestrebungen  und  Lei- 
stungen, wie  sie  ihm  selbst  zum  Bewußtsein  gekom- 
men ist,  ausdrücklich  herausstellen.  Sie  sind  also  jeden- 
falls  für    die   Würdigung    Schillers,    für    die   Erkenntnis 


dessen,  was  er  war,  wollte  und  leistete,  von  besonderer 
Wichtigkeit,  aber  ihre  Bedeutung  reicht  über  dieses,  ge- 
wissermaßen biographische  Interesse  weit  hinaus,  und 
zwar  gerade  deshalb,  weil  sie  die  ihnen  zukommende 
Wirkung  noch  nicht  hervorgebracht,  die  Kraft  der  An- 
regung, die  in  ihnen  liegt,  nicht  entfaltet  haben,  wie 
dies  auch  von  einer  der  poetischen  Schöpfungen  Schil- 
lers, der  Braut  von  Messina,  gilt,  mit  welcher  der  Dichter 
kühn  in  eine  Zukunft  des  Dramas  hinausgrifF,  die  sich 
zwar  in  verschiedenartigen  Erscheinungen  wiederholt  an- 
kündigt, aber  nicht  in  die  »Zeit«  eintreten  wird,  bis  die 
Sintflut  des  gegenwärtigen,  ein  Allerhand  von  »Stoffen« 
zusammenschwemmenden  Kunstrealismus  abgelaufen  ist. 
—  Die  Briefe  enthalten  Gedanken,  welche  noch  lange 
nicht  ausgedacht,  viel  weniger  also  bestimmend  in  die 
Praxis  der  Kunst  und  Pädagogik  eingetreten  sind,  welche 
aber  aufgenommen  werden  müssen,  wenn  wir  nicht 
daran  verzweifeln  dürfen,  das  Ideal  der  humanen  Kultur 
trotz  des  »unaufhaltsamen  Fortschrittes«  der  Zivilisa- 
tion zu  realisieren  —  eine  Verzweiflung,  mit  welcher 
der  deutsche  Geist  »abdanken«  würde,  und  welcher  wir 
uns  fortgesetzt  zu  erwehren  haben,  wozu  jede  erneute 
Vertiefung  in  Schillers  »Hinterlassenschaft«  förderlich  ist, 
obgleich,  was  die  »Briefe«  anbetrifft,  der  vertrauensvolle 
Enthusiasmus,  mit  dem  sie  beginnen,  wie  wir  später  zei- 
gen werden,  schließlich  in  eine  Art  von  Resignation  aus- 
läuft. Diese  Resignation  haben  wir  zu  begreifen,  ohne 
sie  zu  teilen,  d.  h.  wir  müssen  es  uns  als  Ästhetiker 
und  Pädagogen  zumuten,  den  Grundgedanken  der  »Briefe«, 
die  durch  die  moderne  Zivilisation  insbesondere  be- 
dingte Notwendigkeit  der  ästhetischen  Erziehung,  »reali- 
stischer« zu  fassen,  als  es  von  Schiller  geschah,  und  mit 

3 


demselben  Ernst  zu  machen.  Wir  müssen  es  aber  um 
so  mehr,  wenn  wir  als  Ästhetiker  und  Pädagogen  nicht 
aufhören  können  und  wollen,  »Politiker«  zu  sein,  d.  h. 
ein  praktisches  historisches  Interesse  zu  haben.  Macht 
sich  also  dieses  Interesse  in  der  Gegenwart  erneut  gel- 
tend, so  ist  es  keine  Indifferenz  und  kein  Rückzug,  wenn 
wir  von  der  Politik  des  Tages  uns  abwendend,  an  der 
Aufgabe,  welche  die  Schillerschen  Briefe  stellen,  fort  zu 
arbeiten  suchen,  sondern  im  Gegenteil  wahrhaft  »zeit- 
gemäß«. Dies  sogleich  auszusprechen,  geben  uns  die 
einleitenden  »Briefe«,  mit  denen  wir  uns  zunächst  zu 
beschäftigen  haben,  das  Recht,  da  Schiller  in  diesen  dem 
etwaigen  Vorwurfe,  daß  es  unzeitgemäß  sei,  großen  poli- 
tischen Ereignissen,  welche  die  Aufmerksamkeit  jedes  Zeit- 
genossen in  Anspruch  nehmen,  gegenüber,  sich  mit  ästheti- 
schen Untersuchungen  zu  befassen,  von  vornherein  begegnet, 
und  zwar  nicht  beiläufig,  sondern  so,  daß  er  seine  Recht- 
fertigung zum  Ausgangs-  und  Angriffspunkte  für  seine 
Aufgabe  macht. 

2.  »Sollte  ich  von  der  Freiheit,«  schreibt  er  im  zweiten 
Briefe,  »die  mir  von  Ihnen  verstattet  wird,  nicht  viel- 
leicht einen  besseren  Gebrauch  machen  können,  als  Ihre 
Aufmerksamkeit  auf  dem  Schauplatze  der  schönen  Kunst 
zu  beschäftigen?  Ist  es  nicht  wenigstens  außer  der  Zeit, 
sich  nach  einem  Gesetzbuche  für  die  ästhetische  Welt 
umzusehen,  da  die  Angelegenheiten  der  moralischen  ein 
so  viel  näheres  Interesse  darbieten,  und  der  philoso- 
phische Untersuchungsgeist  durch  die  Zeitumstände  so 
nachdrücklich  aufgefordert  wird,  sich  mit  dem  vollkom- 
mensten aller  Kunstwerke,  mit  dem  Bau  einer  wahren 
politischen  Freiheit  zu  beschäftigen?«  Weiterhin  sagt  er, 
daß  man  bei  der  Wahl  seines  Wirkens  dem  Bedürfnisse 


und  Geschmacke  des  »Jahrhunderts«  eine  Stimme  ein- 
zuräumen habe,  daß  aber  diese  keineswegs  zum  Vorteile 
der  Kunst,  wenigstens  nicht  der  Kunst  des  Ideales  aus- 
zufallen scheine.  Denn:  »jetzt  herrscht  das  Bedürfnis 
und  beugt  die  gesunkene  Menschheit  unter  sein  tyran- 
nisches Joch;  der  Nutzen' ist  das  große  Idol  der  Zeit, 
dem  alle  Kräfte  fronen  und  alle  Talente  huldigen  sollen«. 
Nach  diesem  Ausfalle  auf  den  Utilitarismus  (praktischen 
Realismus)  seines  »Jahrhunderts«  —  was  würde  er  zu  dem 
des  unseren  sagen  ?  —  kommt  der  Briefsteller  auf  das 
große  Ereignis  seiner  Zeit,  das  er  zunächst  im  Auge 
hatte,  die  französische  »Staatsumwälzung«,  zurück  und 
bezeichnet  die  in  und  mit  demselben  aufgeworfene  Frage 
als  eine  »weltbürgerliche«,  an  deren  Entscheidung  sich 
jeder  Mensch  und  Weltbürger,  sofern  er  fähig  sei;  sich 
zum  Gattungsinteresse  zu  erheben,  mindestens  innerlich 
beteiligen  könne  und  müsse.  Den  Inhalt  dieser  Frage 
läßt  er  vorläufig  unbestimmt  —  er  begnügt  sich,  sie  als 
die  politische  Frage  der  Zeit  und  als  eine  zum  ersten- 
mal vor  den  »Richterstuhl  der  reinen  Vernunft«  gezogene 
bezeichnet  zu  haben  —  erklärt  aber,  es  nicht  nur  ent- 
schuldigen, sondern  rechtfertigen  zu  können  und  zu 
wollen,  daß  er  der  Versuchung,  sie  zu  verhandeln,  wider- 
stehe, und  »die  Schönheit  der  Freiheit  vorangehen  lasse«. 
»Ich  hoffe,  Sie  zu  überzeugen,«  fügt  er  hinzu,  »daß 
diese  Materie  weit  weniger  dem  Bedürfnisse  als  dem  Ge- 
schmacke des  Zeitalters  fremd  ist,  ja  daß  man,  um  jenes 
politische  Problem  in  der  Erfahrung  zu  lösen,  durch  das 
ästhetische  den  Weg  nehmen  muß,  weil  es  die  Schön- 
heit ist,  durch  welche  man  zur  Freiheit  wandert.« 
Um  indessen  diesen  Beweis  zu  führen,  ist  er  genötigt, 
auf  das  »Problem  der  Freiheit«  einzugehen,  es  also  zu- 

5 


nächst  zu  bestimmen,  was  er  in  dem  dritten  und  vierten 
Briefe  tut,  während  er  weiterhin,  bis  zum  neunten  Briefe, 
die  Schwierigkeit  oder  vielmehr  Unmöglichkeit  einer  un- 
mittelbaren praktischen  Lösung  auseinandersetzt,  um  so- 
dann den  Nachweis  anzutreten,  daß  nur  die  Wirkungen 
der  Kunst  imstande  sind,  die  Unmöglichkeit  des  »freien 
Staates«  stufenweise  in  die  Möglichkeit  umzuwandeln. 

Es  ist  leicht  zu  sehen,  daß  Schiller  hiermit  das  Be- 
dürfnis oder  die  Notwendigkeit  des  freien  oder  des  »ver- 
nünftigen« Staates  ideell  dem  Bedürfnis  oder  der  Not- 
wendigkeit des  ästhetischen  Verhaltens,  des  Kunstge- 
nusses und  des  künstlerischen  Hervorbringens  voranstellt, 
weil  er  eben  die  Wirkungen  der  Kunst  als  Mittel,  um 
die  reale  Möglichkeit  des  vernünftigen  Staates  herbeizu- 
führen, obgleich  als  das  absolute  Mittel,  darzustellen 
unternimmt.  Insofern  die  Kunst  Mittel,  und  zwar,  wie 
sich  sogleich  ergibt,  Erziehmittel  ist,  hat  sie  ihren  Zweck 
nicht  in  sich  selbst  und  ihre  Notwendigkeit  ist  eine  be- 
dingte, und  zwar  bedingt  durch  die  Notwendigkeit  eines 
vernunftgemäßen  Gesellschaftszustandes.  Damit  ist  zu- 
nächst die  VerwirkUchung  der  Gattungsidee  nicht  nur  über 
die  Befriedigung,  sondern  auch  über  die  Verwirklichung 
des  Individuums,  und  sodann  die  reale  Darstellung  des 
Gattungsbegriffes  über  seine  ideelle  gestellt.  Denn  die 
Gesichtspunkte,  unter  denen  sich  die  Kunst  betrachten 
läßt,  sind  die  der  individuellen  Befriedigung,  der  indivi- 
duellen Selbstverwirklichung  und  der  ideellen,  reaÜtäts- 
losen  Offenbarung  des  Menschlichen.  Das  hierin  liegende 
»Zugeständnis«  —  wenn  wir  es  so  nennen  wollen  — 
kann  durch  keine  der  folgenden  Auseinandersetzungen 
rückgängig  gemacht  werden.  Wir  haben  aber  auch  nicht 
zu  besorgen  —  wenn  uns  diese  Besorgnis  im  Interesse 


der  Kunst  anwandeln  sollte  —  daß  es  Schiller  nicht  ge- 
lingen möchte,  derselben  die  »Freiheit«,  die  ihr  Lebens- 
element ist,  trotz  ihrer  Beziehung  auf  einen  erzieheri- 
schen Zweck  zu  wahren.  Er  hat  auf  dem  Standpunkte, 
den  er  in  den  Briefen  einnimmt,  die  Kunstbetrachtung, 
welche  den  direkten  »moralischen«  Eindruck  des  Kunst- 
werks in  Anspruch  nimmt,  ungeachtet  seines  Kantia- 
nismus  weit  hinter  sich,  und  der  Beweis,  daß  die 
Kunst,  um  die  erzieherische  Wirkung,  welche  sie  üben 
muß,  in  der  Tat  zu  üben,  ihrem  eigenen  Gesetz  zu 
gehorchen  hat,  also  für  sich  selbst  Mittel  sein  muß, 
kann  ihm  nicht  schwer  fallen.  Dieser  Beweis  läßt  sich 
aber  noch  weiter  führen,  als  er  von  Schiller  wirklich  ge- 
führt wird,  nämlich  bis  zu  dem  Punkte,  wo  die  Um- 
kehr des  Verhältnisses,  also  der  Staat  als  Mittel  der 
Kunstentwicklung  und  Kunstbefriedigung  erscheint.  Die 
Möglichkeit  dieser  Umkehr  liegt  in  dem  Begriff  des  ab- 
soluten Mittels,  der  sich  nicht  entwickeln  läßt,  ohne 
auf  die  gegenseitige  Bedingtheit  hinzuleiten.  Hiernach 
müssen  Staat  und  Kunst  schließlich  als  die  sich  gegenseitig 
bedingenden  und  zusammengreifenden  Mittel  für  den 
einen  Zweck  der  Kulturverwirklichung,  folglich  auch  die 
Erziehung  zur  realen  Staatsgemeinschaft  als  notwendig 
ästhetische,  die  wahrhaft  ästhetische  Erziehung  als  not- 
wendig auf  die  soziale  Fähigkeit  gerichtete  aufgefaßt  wer- 
den. Indem  also  Schiller  dabei  stehen  bleibt,  die  Freiheit 
der  Kunst  als  Erfordernis  ihrer  erzieherischen  Kraft  auf- 
zuzeigen, und  nicht  dazu  fortgeht,  sie  zu  dem  Staate 
und  der  realen  Gemeinschaft  in  das  Verhältnis  des  Zweckes 
zu  setzen,  kann  er  dem  anfangs  gemachten  »Zugeständ- 
nisse«, mit  welchem  die  Realisierung  des  Ideals  als 
eine  unabweisbare  Forderung  ausgesprochen  ist,  unmög- 


lieh  vollkommen  gerecht  werden,  er  zwingt  sich  viel- 
mehr, mit  dem  Verlangen  eines  »Staates  im  Staate«,  des 
ästhetischen  in  dem  realen  —  einem  Verlangen,  das  den 
Dualismus  beider  bestehen  läßt  —  also  mit  einer  Art 
von  Resignation,  welche  dies  nicht  weniger  für  die  volle 
Wirklichkeit  der  Kunst,  wie  für  die  volle  Wirklichkeit 
des  wahren  Staates  ist,  zu  enden.  Mit  anderen  Worten: 
seine  Untersuchung  hält  da  an,  wo  es  sich  darum  han- 
delt, über  das  unbestimmte  Verlangen  —  die  hoffende 
Voraussetzung  und  die  an  die  Künstler  gerichtete  Mah- 
nung —  daß  die  Kunst  historisch  erzieherisch  wirken 
möge,  hinausgehend,  sie  als  einen  ausdrücklich  zu 
gestaltenden  Geschichtsfaktor,  also  die  ästhetische  Er- 
ziehung als  eine  zu  konstituierende  und  auszuführende 
in  das  Auge  zu  fassen.  Sie  ist  also  als  eine  zwar  nicht 
abgebrochene,  aber  sich  mit  dem  ungenügenden  Genügen 
an  dem  Dasein  der  Kunst  des  Ideales  und  der  spora- 
dischen und  momentanen  Existenz  des  ästhetischen  Staates 
abi>chließende  zu  betrachten,  und  muß,  um  zu  gegen- 
wärtiger Geltung  zu  gelangen,  wieder  eröffnet  und  in 
theoretisch- praktischer  Richtung  fortgesetzt  werden.  Hierzu 
liegen  aber  in  dem,  was  Schiller  gegeben,  überall  An- 
knüpfungs-  und  Ausgangspunkte,  die  herauszustellen  im 
Folgenden  unsere  Aufgabe  sein  wird. 

3.  Ich  würde  von  diesen  kurzen,  aber  immerhin  vor- 
greifenden Bemerkungen  |über  die  Grenzen  der  Schiller- 
schen  Leistung  hier,  im  Eingange  der  Besprechung,  die 
den  Briefen  gewidmet  werden  soll,  abgesehen  haben, 
wenn  ich  nicht  das  Bedürfnis  einer  ähnlichen  »Recht- 
fertigung« hätte,  wie  es  Schiller  ausgesprochen  hat  und 
zum  Motive  seiner  einleitenden  Untersuchungen  gemacht 
hat.  Zwar  meine  ich  nicht,   daß  die  immer  erneute  Be- 

8 


schäftigung  mit  den  Werken  unserer  Klassiker  irgend- 
wie zu  entschuldigen,  und  daß  überhaupt  die  Behand- 
lung ästhetischer  Gegenstände  und  Fragen  von  geringerem 
praktischem  Belange  wäre,  als  z.  B.  naturwissenschaft- 
liche Mitteilungen  oder  politische  Expektorationen  und 
Betrachtungen,  die  sich  an  das  Interesse  des  Tages  und 
die  nächsten  Ereignisse  halten.  Aber  einesteils  hat  das 
»unendliche«  Anwachsen  unserer  Schiller-  wie  Goethe- 
Literatur  unzweifelhaft  auch  seine  bedenkliche  Seite  — 
insofern  es  mit  der  Büchersucht,  an  der  die  Deutschen 
überhaupt  leiden,  zusammenhängt  —  anderenteils  kann 
und  darf  nicht  geleugnet  werden,  daß  der  gegenwärtige 
geschichtliche  Moment  eine  Sammlung  nationalen  Inter- 
esses und  eine  striktere  Beziehung  aller  Gedanken- 
arbeit auf  das,  was  der  Nation  not  tut  —  damit  sie  zur 
Nation  werde  —  in  Anspruch  nimmt.  Deshalb  ist  es 
jetzt  in  der  Tat  »angezeigt«,  einen  Beitrag  zur  Vermeh- 
rung der  Interpretations-Literatur  nicht  bloß  durch  das 
Bedürfnis  eines  fortgesetzten  »Studiums«  der  Klassiker, 
sondern  durch  ein  allgemeineres* Zeitbedürfnis  und  —  wo- 
mögHch  —  durch  die  direkte  Beziehung  auf  Zeitfragen 
zu  motivieren.  Eine  solche  »Rechtfertigung«  hat  von 
der  »Entschuldigung«  um  so  weniger  an  sich,  je  durch- 
greifender sie  ist,  d.  h.  je  entschiedener  sie  das  Zurück- 
gehen auf  die  früheren  Offenbarungen  des  deutschen 
Geistes  und  die  Verwertung  dessen,  was  unsere  Denker 
und  Dichter  geleistet,  als  Notwendigkeit  geltend 
macht.  Dies  kann  nun  zwar,  was  die  Schillerschen 
Briefe  anbetrifft,  nur  durch  die  eingehende  und  ihre  Be- 
deutung entwickelnde  Erörterung  geschehen,  es  konnte 
und  sollte  aber  im  voraus  darauf  hingewiesen  werden, 
daß  sich  diese  Erörterung  nicht  bloß  um  ästhetische  Fra- 


gen,  und  zwar  in  dem  gewöhnlichen  engeren  Sinne  be- 
wegen, sondern  den  Versuch  machen  wird,  die  Gesichts- 
punkte und  Postulate  Schillers  für  die  historische  Praxis 
zu  bestimmen,  also  an  diese  Praxis  heranzubringen,  wo- 
bei es  sich  insbesondere  um  die  nat]ionale  Erziehung 
handelt  —  ein  »Wort«,  das  man  nicht  aussprechen  kann 
oder  können  sollte,  ohne  an  Fichte  zu  denken.  Fichte 
hat  den  Gedanken  der  Nationalerziehung  so  energisch 
gefaßt,  wie  es  vor  und  nach  ihm  keiner  vermochte  oder 
versuchte,  und  diese  Energie  hat  ihren  historischen  Grund 
in  dem  tiefgefühlten  Bedürfnis,  dem  modernisierten  Rö- 
mertume  und  dem  Imperialismus  desselben  gegen- 
über das  deutsche  Volkswesen  gründlich  zu  erneuen. 
Gegenwärtig,  wo  der  Imperialismus  in  einer  neuen,  kei- 
neswegs verbesserten  Auflage  erscheint,  ist  es  zeitgemäß 
gefunden  worden,  auch  die  »Reden  an  die  deutsche  Na- 
tion« von  neuem  aufzulegen,  und  mit  vollem  Recht,  da 
der  Anteil  dieser  Reden  an  der  einstigen  deutschen  Er- 
hebung sehr  hoch  anzuschlagen  ist  und  dem  jetzigen 
Geschlechte  die  Redner,  die  mit  der  ergreifenden  Sieges- 
gewißheit des  eigensten  und  freiesten,  des  philosophi- 
schen Gedankens  zu  sprechen  vermöchten,  fehlen.  Da- 
bei ist  es  aber  auffallend,  daß  von  vielen,  welche  auf  die 
»Reden«  hinweisen,  die  Phrase  wiederholt  wird,  es  sei 
von  dem  »unpraktischen  Erziehungssysteme«,  welches  sie 
—  nebenbei?  —  enthalten,  »abzusehejn«.  Das  ist  eine 
Phrase  und  zwar  eine  doppelt  unglückliche,  weil  es  sich 
erstens  ganz  von  selbst  versteht,  daß  ein  aus  dem  philo- 
sophischen Gedanken  hervorgegangenes  und  idealistisch 
gestaltetes  Erziehungssystem  sich  nicht  unmittelbar  ver- 
wirklichen läßt,  also  in  dem  gemeinen  Sinne  des  Wortes 
»unpraktisch«  ist,  zweitens  aber  der  Plan  der  National- 

10 


erziehung,  den  die  Reden  enthalten,  den  eigentlichen, 
und  zwar  den  praktischen  Kern  und  Gehalt  derselben 
abgibt,  insofern  man  das  »Praktische«  in  einem  höheren 
Sinne  als  dem  der  unmittelbaren  Anwendbarkeit,  nämlich 
in  dem  des  die  historische  oder  Gesamtpraxis  in  man- 
nigfacher Vermittlung  bestimmenden  Prinzips  nimmt. 
Hierauf  —  auf  die  relative,  aber  entschiedene  Berechti- 
gung des  Fichteschen  Erziehungsideales  —  zurückzu- 
kommen, wird  uns  die  Erörterung  der  »Briefe«,  obgleich 
wir  dieselbe  auf  das  Notwendige  zu  beschränken  haben, 
nicht  nur  veranlassen,  sondern  nötigen.  Ich  behaupte 
aber  im  voraus,  daß  sich  die  Schillersche  Erziehungsidee 
und  das  Fichtesche  Erziehungsideal  zueinander  ergän- 
zend verhalten,  daß  sie  zu  ihrer  gegenseitigen  Ergän- 
zung gebracht  werden  müssen,  und  daß  daher  eine  er- 
neute Ausgabe  oder  doch  eine  erneute  Berücksichtigung 
der  »Briefe«  ebenso  zeitgemäß  ist  wie  das  Wiederer- 
scheinen der  »Reden«. 

Schiller  und  Fichte  haben  zu  Rousseau  —  dem  Vor- 
denker der  französischen  Revolution,  der  auch  im  Ge- 
biete der  pädagogischen  Ideen  eine  revolutionäre  Bewe- 
gung von  großer  Tragweite  hervorbrachte  • —  ein  be- 
stimmtes Verhältnis,  wie  sie  es  zu  Kant  haben.  Sie  sind 
beide  von  Rousseau  bedeutend  und  nachhaltig  angeregt 
worden,  und  beide  zu  einer  mehr  oder  weniger  direkten, 
aber  positiven  Kritik  der  Rousseauschen  Grundsätze 
fortgegangen,  wobei  sich  —  um  ihr  beiderseitiges  Ver- 
halten vorläufig  anzudeuten  —  Fichte  insbesondere  gegen 
den  Antisozialismus  Rousseaus,  Schiller  gegen  seine  Kunst- 
verachtung kehrt,  die  eine  Verleugnung  der  spezifisch 
menschlichen  Natur  ist.  Die  französische  Revolution  haben 
beide  von  vornherein  in  der  höchsten  Bedeutung  erfaßt, 


II 


die  ihr  beigelegt  werden  kann;  als  ein  in  der  Geschichte 
durchaus  neues  Ereignis  und  den  ersten,   die   bisherige 
Bewußtlosigkeit  der  historischen  Gestaltungen  negieren- 
den Versuch,   die  Gesellschaftsform   aus    dem  vernünfti- 
gen Bewußtsein  heraus  praktisch  darzustellen.    Während 
aber   Schiller    dem    tatsächlichen  Verlaufe    der    Revolu- 
tion  —  wie   auch   die   Briefe   beweisen   —    sein  Inter- 
esse bald  entzog,   indem   er  sich  von  der  Resultatlosig- 
keit  ihrer  Tendenz  überzeugte   und  das  Schauspiel,    das 
sie  darbot,  ihm  widerwärtig  wurde,  so  daß  er  ihr  gegen- 
über im  allgemeinen,    sich   nur   das   kühle  Interesse   des 
Historikers  vorbehaltend,  den  Standpunkt  des  Ignorierens 
annahm,  blieb  Fichte  auf  ihre  Entwicklung  derartig  ge- 
spannt, daß  er  die  allmähliche  Verfälschung  ihrer  Grund- 
sätze und  die  fortschreitende,  bis  zur  Umkehr  gedeihende 
Veräußerung  ihres  Prinzips  mit  leidenschaftlich  kritischer 
Teilnahme   verfolgte,    und   schließlich   gegen   die   Macht 
der  Lüge,  die  sich  ihm  in  den  Metamorphosen  des  re- 
volutionären Geschichtsdramas  offenbarte,  die  Ursprüng- 
lichkeit und  Wahrhaftigkeit  des    deutschen   Geistes 
anrief  und  aufbot.  Wie  dieses  verschiedene  Verhalten  in 
der  Persönlichkeit  der  beiden  Männer  begründet  ist,  läßt 
sich  unschwer  nachweisen,  auf  die  Frage  aber,  wie  sich 
Schiller  verhalten    haben  würde,    wenn   er   die   deutsche 
Erhebung   erlebt  hätte,  brauchen   wir   hier   nicht  einzu- 
gehen.   Das  nationale  Pathos    blieb    ihm   tatsächlich,    so 
lange   er  lebte,   fremd,  —  ohne  daß  es   deshalb  jemand 
einfallen  könnte,  ihm  die  »Deutschheit«  abzusprechen  — 
er  verharrte  in  der  »Weltbürgerlichkeit«  des  achtzehnten 
Jahrhunderts  und  hatte  sich  dabei  mit  dem  Interesse  für 
die   Zeitereignisse   innerlich   abgefunden  —  eine  Abfin- 
dung und  Auseinandersetzung,  die  gerade  in  den  Briefen, 

12 


und  zwar  in  den  nächsten,  welche  die  von  ihm  verspro- 
chene Rechtfertigung  ausführen,  ihren  entschiedenen  und 
bestimmten  Ausdruck  erhalten  hat,    und  wie  wir   sehen 
werden,    auf  eine  Kritik  der  modernen  Zivilisation  hin- 
ausläuft,  gegen   welche  sich   auch  Rousseau  und  Fichte 
mit  gleicher  Entschiedenheit  wie  Schiller,  aber  in  durch- 
aus verschiedener  Art  kritisch  verhalten,  wie  es  sich  aus 
den   folgenden  Erörterungen   gelegentlich   ergeben  wird. 
4.  Um  die  politische  Frage  der  Zeit,  deren  praktische 
Lösung,  wie  er  behauptet,   nicht  für  diese  Zeit  ist,   zu 
formulieren,    beginnt  Schiller  damit,    es   als   das   spezi- 
fische Vermögen   des   Menschen   auszusprechen,    daß   er 
das,  was  die  bloße  Natur  aus  ihm  machte,  aufheben  und 
umformen,   die  »Schritte,  welche   jene   mit  ihm  antizi- 
pierte, durch  Vernunft  wieder  rückwärts  tun,  das  Werk 
der  Not  in  ein  Werk  der  freien  Wahl  umschafFen«  kann: 
Ein  Werk  der  durch  das  Bedürfnis  oder  die  Not  wirken- 
den Natur  sei  der  Staat,  in  dem  sich  der  Mensch  finde, 
wenn  er  aus  seinem  »sinnlichen   Schlummer«  erwache. 
Mit  diesem   gegebenen  Staate  könne  er  vermöge  seiner 
menschlichen  Natur  nicht  zufrieden  sein,  bilde  sich  viel- 
mehr  einen  »Naturzustand«  in   der  Idee,    leihe   sich   in 
diesem  »idealischen«  Stande  einen  Endzweck,  den  er  im 
wirklichen   Naturzustande   nicht  gekannt,    und  verfahre, 
als  ob  er  damit  anfinge,   den  Stand  der  Unabhängigkeit 
aus   freiem  Entschlüsse  mit  dem  Stand  der  Verträge  zu 
vertauschen.  Das  Werk  blinder  Kräfte  und  blinder  Will- 
kür besitze  für  ihn  keine  Autorität,  er  könne  und  dürfe 
es  den  Vernunftforderungen  gegenüber  als  nicht  vorhan- 
den betrachten.   Auf  diese  Art  entstehe  und  rechtfertige 
sich  der  Versuch  eines  mündig  gewordenen  Volks,  seinen 
Naturstaat  in  einen  sittlichen  umzuformen.  —  Diese  kurze 


13 


Darstellung  läßt  es  einigermaßen  zweifelhaft,  wie  weit 
Schiller  den  Begriff  des  »Naturstaates«  ausdehnt  und 
wann  er  den  Willen  des  zum  Bewußtsein  erwachten 
»Menschen«,  seine  Freiheit  dem  Naturstaate  gegenüber 
geltend  zu  machen,  als  eintretend  oder  eingetreten  be- 
trachtet. Uns,  denen  die  französische  Revolution  schon 
in  die  Ferne  eines  historischen  Ereignisses  gerückt  ist, 
das  sich  den  übrigen  anreiht,  wird  es  schwer,  zu  einer 
Auffassung  derselben  zurückzugehen,  welche  sie  —  min- 
destens ihrer  Tendenz  nach  —  zum  Bruche  der  Mensch- 
heitsgeschichte mit  sich  selbst,  also  zu  dem  am  tiefsten 
greifenden  Ereignisse  der  Zeiten  macht,  und  es  sind  nur 
ihre  fanatischen  Anhänger  auf  der  einen,  ihre  fanatischen 
Feinde  auf  der  anderen  Seite,  welche  sie  unter  diesem 
Gesichtspunkte  zu  sehen  fortfahren.  So  widerstreitet  es 
auch  unserer  Gewöhnung,  alle  Staaten,  welche  nicht  aus 
dem  »Vernunftbegriff«  heraus  ausdrücklich  konstruiert 
sind,  »Naturstaaten«  zu  nennen,  da  sich  uns  der  Begriff 
des  »historischen  Staates«  im  Gegensatze  gegen  den  so- 
genannten Vernunftstaat  eingeschoben  hat  und  geläufig 
geworden  ist.  Hierzu  kommt,  daß  die  Schillersche  Dar- 
stellung »psychologisch«  beginnt  und  unvermittelt  zu  der 
geschichtlichen  Tatsache  gelangt,  was  nicht  nur  durch 
die  Kürze,  sondern  auch  durch  die  damals  herrschende, 
von  Rousseau  und  Kant  beherrschte  Anschauungs-  und 
Ausdrucksweise  bedingt  ist.  Aus  dem  folgenden  aber  er- 
gibt sich  sogleich,  daß  Schiller  in  der  Tat,  indem  er 
von  dem  erwachenden  und  sich  gegen  den  gegebenen 
Staat  kehrenden  »Menschen«  spricht,  die  französische  Re- 
volution im  Auge  hat,  und  daß  er  mit  dem  »Natur- 
staate« dasselbe  bezeichnet,  was  wir  gegenwärtig  den 
historischen   Staat  nennen.    Diese   Schillersche    Bezeich- 


H 


nung  ist  anti-Rousseauisch  —  denn  für  Rousseau  ist  der 
historische  Staat  der  durch  künstliche  Bedürfnisse  ent- 
standene und  zusammengehahene,  naturwidrige  Staat  — 
und  obgleich  Schiller,  indem  er  das  Verhalten  des  »er- 
wachenden« [Menschen  beschreibt,  einfach  den  Grund- 
gedanken des  Kontraktsozial  ausspricht,  stellt  er  sich  doch 
Rousseau  unmittelbar  entgegen,  weil  er  einerseits  den 
»Naturzustand«  der  Unabhängigkeit  ausdrücklich  als  [eine 
Fiktion  charakterisiert,  andererseits,  |wie  er  den  Natur- 
staat [in  dem  ausgedehnten  Sinne,  [den  er  dem  Worte 
gibt,Caus  dem  Bedürfnis  hervorwachsen  läßt,  so  den 
Akt  der  Befreiung  auf  das  höhere,  das  Vernunftbedürfnis 
des  Menschen  und  sein  spezifisches  Vermögen,  über 
die  Natur  hinauszugehen,  zurückführt.  Denn  Rousseau 
weiß  die  Annahme  eines  Naturzustandes  und  eines  ur- 
sprünglichen Vertrages,  der  denselben,  indem  er  ihn  auf- 
hebt, wahren  soll,  keineswegs  als  eine  willkürhche  Fik- 
tion, er  sieht  weiterhin  in  den  historischen  Staatsbildun- 
gen eine  Entartung  des  ursprünglichen  Staats,  die  für 
ihn  keine  Notwendigkeit  hat,  und  er  will  endlich  nicht 
nur  den  historischen  Staat,  sondern  den  Staat  überhaupt, 
soweit  es  möglich  ist,  aufheben,  also  die  »natür- 
liche« Unabhängigkeit,  d.  h.  Absonderung  der  Indivi- 
duen herstellen.  Sein  StaatsbegrifF  ist  also  ein  durchaus 
negativer,  und  indem  er  die  »Volkssouveränität«  festzu- 
stellen sucht,  bewegt  er  sich  beständig  in  dem  Wider- 
spruche, daß  der  Gesamtwille  die  Unabhängigkeit  der 
Einzelnen,  d.  h.  ihre  Beziehungslosigkeit  fortgesetzt  als 
Zweck  setzen;  also  sich  nicht  zum  positiven  Gesamt- 
willen gestalten,  aber  dennoch  die  Einheit  Aller  aus- 
drücken soll.  Dieser  Widerspruch  hat  seinen  Grund  in 
dem   weiteren,    daß   die  Absonderung  als  Naturzustand 

15 


des  Menschen,  die  Gesellschaft  als  ein  Notzustand  aus- 
gesprochen wird,  für  diesen  Notzustand  aber  eine  wahr- 
hafte Nötigung  nicht  existiert,  wenn  sie  nicht  in  der 
Natur  des  Menschen  selbst  liegt.  Rousseau  läßt  es  eben 
unmotiviert,  wie  der  Mensch  zur  Unnatur,  die  doch  eine 
Ursache  haben  muß,  gelangen  kann,  und  er  muß  es  un- 
motiviert lassen,  weil  er  sich  dagegen  sträubt,  das  Hin- 
ausgehen über  die  Natur  im  allgemeinen  und  die  An- 
lage zur  sozialen  Gebundenheit  insbesondere  als  das  Spe- 
zifische der  menschlichen  Natur  anzuerkennen.  Freilich 
läßt  auch  die  Schillersche  Darstellung,  indem  sie  die  »Ge- 
sellschaft« als  ein  natürliches  und  ursprüngliches  Bedürf- 
nis annimmt,  zugleich  aber  die  Negation  des  natürlich 
Gewordenen  als  ein  spezifisches  menschliches  Vermögen 
ausspricht,  eine  Frage  entstehen,  die  unbeantwortet  bleibt, 
die  Frage,  wie  es  möglich  ist,  daß  dieses  spezifische  Ver- 
mögen durch  lange  Jahrhunderte  »schlummern«  konnte, 
um  sodann  mit  einemmal  hervorzubrechen.  Es  fehlt  also 
hier  der  Begriff  der  geschichtlichen  Entwicklung,  ob- 
gleich sich  derselbe  weiterhin  als  Postulat  geltend  macht. 
Wir  würden  es  nicht  für  nötig  gehalten  haben,  auf 
die  Abstraktionen  des  Rousseauschen  Standpunktes,  in 
denen  Schiller  teilweise  befangen  bleibt,  einzugehen,  wenn 
wir  nicht  darauf  zurückkommen  müßten,  wo  es  sich  um 
ihre  politischen  und  pädagogischen  Konsequenzen  han- 
delt —  Konsequenzen,  welche  tief  in  die  Anschauungs- 
weise und  Praxis  der  Gegenwart  eingedrungen  sind,  so 
wenig  auf  die  Rousseauschen  Theorien  zurückgegangen 
wird,  was  darin  begründet  ist,  daß  diese  Theorien,  in- 
dem sie  die  gegenwärtige  Zivilisation  negierten,  den- 
noch zugleich  die  in  ihr  liegende  Tendenz  zu  einem 
abstrakten  Ausdruck  brachten.  Was  die  französische  Re- 

i6 


volution  anbetrifft,  welcher  Schiller  die  Bedeutung  eines 
Anfangs  zugesteht,  obgleich  er  dieses  Zugeständnis  so- 
gleich zu  modifizieren  gezwungen  ist,  so  ist  sie  jeden- 
falls, zwar  nicht  der  erste  Versuch  einer  idealen  Staats- 
gestaltung, aber  doch  der  erste,  in  eine  energische  und 
weitgreifende  Tat  ausschlagende  Versuch,  den  abstrakt 
oder  »rein«  gefaßten  Staatsbegriff  unmittelbar  zu  verwirk- 
lichen, wobei  jedoch  zu  bemerken  ist,  daß  sich  die  Leere 
dieses  Begriffes,  gerade  soweit  und  sofern  er  festge- 
halten wird,  rasch  mit  geschichtlichen  Reminiszenzen, 
insbesondere  aus  der  »klassischen«  Zeit  der  Römer,  füllt, 
während  zugleich  die  Widersprüche,  die  er  enthält,  zu 
praktischer  Darstellung  kommen.  Auf  diese  Widersprüche 
als  theoretische  geht  Schiller,  wie  es  sich  bei  dem  Stand- 
punkte, den  er  einnimmt,  von  selbst  versteht,  nicht  ein; 
er  begnügt  sich  und  muß  sich  begnügen,  zum  Zwecke 
seiner  »Rechtfertigung«  die  UnmögHchkeit  nachzuweisen, 
den  Vernunftstaat  unmittelbar  zu  realisieren,  um  sodann 
zeigen  zu  können,  daß  ein  Hauptmittel  zur  Ermöglichung 
dieses  Staates,  also  die  Voraussetzung  seiner  Möglich- 
keit schlechthin,  die  ästhetische  Bildung  ist.  Durch  die 
Schönheit  zur  Freiheit!  ist  der  Grundsatz,  den  er  voran- 
gestellt hat,  und  den  er  jetzt  schrittweise  auseinander- 
setzen muß.  Hierbei  läßt  er  zunächst  den  Begriff  des 
Vernunftstaates  und  der  Freiheit,  die  dieser  gewährt,  un- 
bestimmt —  er  begnügt  sich,  den  Gegensatz  des  Ver- 
nunft- und  Naturstaates  formell  festgestellt  zu  haben  — 
und  wir  dürfen  uns  nicht  verhehlen,  daß  diese  Unbe- 
stimmtheit nicht  durchaus  gehoben  wird,  und  insbeson- 
dere das  Verhältnis  zu  dem  Rousseauschen  Staatsideale 
nicht  klar,  d.  h.  nur  indirekt,  heraustritt,  obgleich  es  sich 
von  selbst  versteht,  daß  zum  Fortschritte  des  angetretenen 

D  e  i  n  h  a  r  d  t ,  Schiller.    2 

17 


Beweises  Bestimmungen,  welche  sich  auf  die  Bedingun- 
gen des  Vernunftstaates  beziehen,  nötig  sind  und  ge- 
geben werden. 

5.  Als  das  erste  »Bedenken«  gegen  die  unmittelbare 
Verwirklichung  des  Vernunftstaates  spricht  der  Briefsteller 
das  aus,  daß  die  »physische«  Gesellschaft,  die  im  Natur- 
staate zusammengehalten  sei,  keinen  Augenblick  aufhören 
dürfe,  daß  also  der  Naturstaat  fortbestehen  müsse,  wäh- 
rend an  der  Realisierung  des  Vernunftstaates  gearbeitet 
werde.  Damit  ist  an  sich  nur  die  Notwendigkeit  ausge- 
sprochen, daß  die  Umwandlung  des  Naturstaates  in  den 
sittlichen  stufenweise  vor  sich  gehen  muß,  und  diese 
stufenweise  Umwandlung  wäre  nur  eine  Frage  der  Zeit 
und  Zweckmäßigkeit,  wenn  nicht  die  Voraussetzung  ein- 
geschoben würde,  daß  der  Vernunftstaat  des  sittlichen 
Menschen  bedarf,  ohne  ihn  selbst  schaffen  zu  können, 
während  es  doch  mindestens  problematisch  sei,  ob  er 
ihn  vorfinde.  Als  Grund,  weshalb  der  Vernunftstaat  das 
Vorhandensein  des  sittlichen  Menschen  fordert  und  wes- 
halb er  ihn  nicht  schaffen,  also  die  Herrschaft  der  Sitt- 
lichkeit herstellen  kann,  wird  die  Natur  des  sittlichen 
Willens,  frei  zu  sein  und  durch  kein  äußeres  Gesetz  be- 
stimmt zu  werden,  ausgesprochen.  Worin  besteht  nun 
aber,  abgesehen  davon,  daß  der  Vernunftstaat  die  freie 
Sittlichkeit  voraussetzt,  der  Unterschied  desselben  von 
dem  Naturstaate  und  worin  liegt  die  Befreiung,  die  er 
gewährt?  Da  es  ein  Gebiet  physischer  Bedürfnisse,  deren 
geregelte  Befriedigung  eine  gesetzliche  Ordnung  verlangt, 
gibt,  so  muß  sich  der  Vernunftstaat  wie  der  Natur- 
staat mit  den  physischen  Bedürfnissen  »beschäftigen«. 
Ginge  aber  die  Tätigkeit  des  Naturstaates  in  dieser  Be- 
schäftigung  auf,  so  bestünde   gerade   deshalb    zwischen 

18 


ihm  und  dem  Vernunftstaate  kein  Unterschied,  da  dieser 
das  Gebiet  der  Sittlichkeit  frei  lassen  soll.  Folglich  muß 
der  Unterschied  beider,  wenn  ein  solcher  an  sich  statt- 
findet und  nicht  in  den  unterschiedenen  Charakter  der 
Staatsangehörigen  gesetzt  wird,  darin  liegen,  daß  der 
Naturstaat  auch  das  moralische  Verhalten  physisch,  d.  h. 
zwangsweise  bestimmt,  und  die  Befreiung,  die  mit  dem 
Vernunftstaate  eintritt,  bestände  in  der  Aufhebung  des 
Zwanges,  der  sich  auf  das  moralische  Verhalten  bezieht. 
Hieraus  folgt  aber,  daß  der  Naturstaat  den  Sittlichkeits- 
begriff hat  und  darstellen  will,  wie  denn  Schiller  an- 
derswo ausspricht,  daß  die  Kantischen  Ideen  der  prak- 
tischen Vernunft  die  immer  herrschenden  gewesen  sind. 
Andererseits  ist  es  nur  die  direkte  Bestimmung  des 
moralischen  Verhaltens,  welche  Schiller  aus  dem  Ver- 
nunftstaate hinwegnimmt,  während  er  eine  indirekte 
Bestimmung  desselben  allerdings,  wenn  auch  nicht  aus- 
drücklich, verlangt,  indem  er  sagt,  daß  der  sittliche  Wille 
Natur  sein  müsse,  um  bestimmt  werden  zu  können  und 
deshalb  die  Bildung  zur  natürlichen  Sittlichkeit,  die  eben 
die  ästhetische  ist,  fordert,  also  von  einer  weiteren  und 
zwar  vom  Staate  ausgehenden  Bestimmung  des  natürlich 
sittlichen  Willens  nicht  absieht.  Hiernach  ist  und 
bleibt  der  Unterschied  des  Naturstaates  und  Vernunft- 
staates —  immer  abgesehen  davon,  daß  der  letztere  »sitt- 
liche« Angehörige  haben  soll  —  nur  negativ  gefaßt. 
Der  positive  Unterschied  beider  müßte  in  ihrem  ver- 
schiedenen Verhalten  zu  der  Befriedigung  der  physi- 
schen Bedürfnisse  aufgezeigt  werden,  weil  er  eben  in 
dem  Gebiete  der  Bedürfnisbefriedigung  beginnen  muß, 
um  überhaupt  zur  Existenz  zu  kommen.  Denn  der  Staat 
hat  offenbar  das  entschiedenste  Recht  da,   wo  er  eine 

19 


unmittelbare  Notwendigkeit  ist  und  wo  er  nur  die  Schein- 
freiheit, nicht  aber  die  wirkHche,  die  vielmehr  mit  dem 
Kampfe  um  die  Befriedigungsmittel  unvereinbar  ist,  auf- 
heben kann;  er  sittlicht  aber  die  Bedürfnisbefriedigung, 
obgleich  zunächst  nur  äußerlich,  indem  er  die  Schein- 
freiheit aufhebt,  und  er  muß  es,  um  nicht  das  aufge- 
gebene Recht  durch  eine  Usurpation  ausgleichen  zu  müs- 
sen, weil  die  Anarchie  der  Bedürfnisbefriedigung  seinen 
Bestand  auflösen  würde,  wenn  er  sich  nicht  nachträg- 
lich und  ausdrücklich  als  die  Macht  des  Moralgesetzes 
zur  Geltung  brächte.  Was  die  reine  ästhetische  Befrie- 
digung anbetrifft,  so  ist  sie  ihrer  Natur  nach  nicht  we- 
niger eine  freie  wie  die  Betätigung  des  sittlichen  Wil- 
lens; ihr  gegenüber  endet  also  das  Recht  des  Staates,  der 
sich  begnügen  muß,  ihre  Vorbedingungen  zu  schaffen, 
die  nach  ihrer  einen  Seite  in  der  Regelung  der  physi- 
schen Befriedigung  und  ihrer  Mitteltätigkeiten  aus  dem 
Sittlichkeitsbegriffe  liegt.  Hieraus  folgt,  daß  sich  der 
volle  Gegensatz  des  sogenannten  Naturstaates  —  der 
sich  nach  der  treffenden  Definition,  die  Schiller  später- 
hin von  der  Barbarei  gibt,  sehr  wohl  als  den  barbari- 
schen Staat  bezeichnen  läßt  —  und  des  Vernunftstaates 
auf  die  regellose  oder,  weil  eine  Art  von  Regelung  nie- 
mals fehlt,  auf  die  unsittlich  geregelte  und  auf  die  sitt- 
lich geregelte  Bedürfnisbefriedigung  —  welche  zugleich 
die  ästhetische  und  die  unästhetische  sind  —  zurück- 
führen läßt.  Wo  aber  eine  sittlich-ästhetische  Regelung 
der  Bedürfnisbefriedigung  und  ihrer  Mitteltätigkeiten  mög- 
lich ist,  da  ist  trotz  der  Äußerlichkeit  derselben  der 
»sittliche  Mensch«  nicht  mehr  »problematisch«,  wenig- 
stens nicht  die  positive  Anlage  zur  freien  Sittlich- 
keit,  da  eine  solche  Regelung  ohne  das  freiwillige  Ein- 

20 


gehen  der  einzelnen  nicht  durchzuführen  ist.  Dabei  ist 
im  allgemeinen  zu  bemerken,  daß  jedes  Verhalten  des 
»Staates«  eine  bestimmte  Organisation  desselben  bedingt 
und  erfordert,  daß  also  die  gleiche  Bezeichnung  Unter- 
schiede einschließt,  welche  besonders  vorgestellt  und  be- 
griffen sein  wollen. 

Daß  Schiller  hier,  wo  er  dem  Beweise  zueilt,  daß  die 
natürliche  Sittlichkeit,  der  ästhetische  Charakter  und  dem- 
nach die  ästhetische  Bildung  für  die  Verwirkhchung  des 
Vernunftstaates  notwendig  sind,  bei  der  negativen  Fas- 
sung dieses  Staates  stehen  bleibt,  also  die  Konsequenzen 
einer  positiven  Auffassung  —  die  ihm  an  sich  nahe  He- 
gen und  von  ihm  punktweise  berührt  werden  —  nicht 
herausstellt,  würden  wir  in  gewisser  Weise  gerechtfertigt 
linden  und  nicht  hervorheben,  wenn  die  Ergänzung  später- 
hin, also  nach  der  Durchführung  des  von  ihm  zunächst 
angetretenen  Beweises,  folgte.  Dies  ist  aber  nicht  der  Fall, 
und  deshalb  fehlt  seinem  Beweise  Abschluß  und  Nutz- 
anwendung. Denn  die  Erkenntnis  der  historischen  Not- 
wendigkeit, so  wesentHch  sie  ist,  genügt  nicht;  sie  muß 
sich,  um  auf  die  Praxis  bestimmend  einwirken  zu  kön- 
nen, in  historisch-praktische  Postulate  auseinandersetzen 
und  auf  die  reale  MögHchkeit  des  Notwendigen  eingehen. 
Insbesondere  läßt  sich  das  ästhetische  Verhalten,  das  ein 
allgemeines  werden  muß,  wenn  sich  die  prak- 
tische Bedeutung,  die  ihm  Schiller  vindiziert,  reaHsieren 
soll,  so  wenig  es  vom  Staate  direkt  entbunden  und 
bestimmt  werden  kann,  ebensowenig  und  noch  weniger 
durch  die  theoretische  Darstellung  seiner  Notwendigkeit 
und  seines  notwendigen  Charakters,  so  begeistert  und 
begeisternd  diese  Darstellung  sein  möge,  hervorzaubern, 
erhöhen  und  ausbreiten.  Wir  dürfen  aber  mit  der  Aus- 


21 


dehnung,  die  Schiller  seinem  »Beweise«  gibt,  ohne  ihn 
abzuschüeßen,  keineswegs  unzufrieden  sein.  Er  hatte  hier 
die  Gelegenheit  und  mußte  sie  benutzen,  das  Prinzip 
seiner  Ästhetik  allseitig  zu  entwickeln  —  was,  um  dies 
im  voraus  zu  bemerken,  auffallenderweise  gerade  nach 
der  Seite  der  dramatischen  Kunst  am  ungenügendsten 
geschehen  ist  —  und  wie  diese  Ästhetik  keineswegs  als 
veraltet  gelten  darf,  sondern  im  Gegenteile  Gesichts- 
punkte enthält,  welche  der  experimentierenden  Kunst- 
leistung und  dem  zerstreuten  Kunstsinne  der  Gegenwart 
zu  Sammelpunkten  dienen  könnten  und  sollten,  so  ver- 
dienen die  psychologischen  und  historischen  Erörterun- 
gen, von  denen  die  Darstellung  ausgeht,  mindestens  eine 
ernste  Revision,  welche  sie  zu  den  gegenwärtig  herr- 
schenden Anschauungen  und  Ansichten  in  ein  Verhältnis 
setzt.  Der  Fortschritt  der  Darstellung  wird  allerdings 
durch  ihre  Kantische  Methode,  welche  fortgesetzt  zu  einer 
ausdrücklichen  und  sich  dennoch  nicht  durchsetzenden 
Vermittlung  der  abstrakt  gefaßten  Gegensätze  nötigt,  er- 
schwert und  verlangsamt;  aber  abgesehen  davon,  daß  die 
Kantische  Methode  auch  ihre  Vorzüge  hat,  entschädigt 
uns  Schiller,  wenn  wir  hier  und  da  länger  als  uns  er- 
wünscht ist  und  nötig  erscheint,  aufgehalten  werden, 
durch  eine  Fülle  treffender  und  anregender  Bemerkungen, 
überall  den  edel  energischen,  sicheren  und  freien  Geist 
offenbarend,  der  ihm  eignet. 

6.  Der  ästhetische  Charakter,  von  dessen  Übergewicht 
in  einem  Volke  die  Möglichkeit  des  Vernunftstaates  ab- 
hängig sein  soll,  wird  nicht  von  vornherein  als  solcher 
bezeichnet,  sondern  als  ein  Mittelcharakter  zwischen 
dem  physischen  und  moralischen  bestimmt,  welcher  von 
jenem   die  Natur,  von   diesem  die  Gesetzmäßigkeit   hat, 


22 


also  von  Eindrücken  abhängig,  aber  über  die  Willkür  und 
Materialität  des  Bedürfnisses  hinausgehoben  ist.  Damit 
ist  die  Notwendigkeit  einer  Vermittlung  ausgesprochen, 
die  durch  einen  Gegensatz  bedingt  sein  muß.  Diesen 
Gegensatz  bezeichnet  Schiller  als  den  des  empirischen  und 
des  reinen  oder  idealischen  Menschen,  den  der  erstere 
in  sich  trägt,  dessen  objektive  Darstellung  aber  der  Staat 
ist,  womit  dieser  der  Menge  der  empirischen  Individuen 
entgegengesetzt  wird.  Nach  dieser  Voraussetzung  wird 
als  der  zwiefache  Weg,  auf  welchem  der  Gegensatz  auf- 
gehoben werden  kann,  die  Unterdrückung  des  empirischen 
Menschen  durch  den  reinen,  also  durch  den  Staat,  und 
die  Erhebung  des  empirischen  Menschen  zum  idealischen 
oder  zum  Staate  ausgesprochen.  Weiterhin  heißt  es,  daß 
der  erstere  Weg  die  Vernunft,  der  letztere  aber  die  Ver- 
nunft und  das  Gefühl  befriedige,  weil  die  Vernunft  Ein- 
heit, das  Gefühl  aber  wie  die  Natur  Mannigfaltigkeit  ver- 
lange. Offenbar  wird  hiermit  das  »Gefühl«  unmotiviert 
als  ein  neben  der  Vernunft  und  zwar  ihr  gleichberechtigter 
Faktor  des  wahren  Staatsbegriffes  eingeführt,  da  der  Ver- 
nunftstaat derjenige  sein  muß,  welcher  die  Vernunft  be- 
friedigt. Sagen  wir  dagegen,  daß  zwar  der  Verstand  die 
abstrakte  Einheit  oder  Einförmigkeit,  die  Vernunft  aber 
die  Entwicklung,  also  die  fortgesetzte  Vereinigung 
des  Mannigfaltigen  und  die  fortgesetzte  Lösung  des  Gegen- 
sätzlichen fordere,  so  können  wir,  ohne  über  einen  Wider- 
spruch hinweggehen  zu  müssen,  die  Folgerung  des  Brief- 
stellers, daß  der  Staat  »nicht  nur  den  objektiven  und 
generischen,  sondern  auch  den  subjektiven  und  spezifischen 
Charakter  in  den  Individuen  zu  ehren  habe,«  anerkennen, 
wenn  wir  von  dem  Begriffe  der  »Schonung«,  der  in  dem 
»Ehren«  liegt,  absehen.  Denn  der  eben  ausgesprochenen 

23 


»Vernunftforderung«  gemäß  hat  der  Vernunftstaat  die 
Individualität  nicht  nur  zu  schonen,  sondern  sie  heraus- 
zustellen, was  nur  dann  möglich  ist,  wenn  sie  als 
menschliche,  nicht  an  sich  existiert  oder  eine  von 
Natur  gegebene  ist,  sondern  hergestellt  werden  muß, 
ohne  doch  mit  dem  idealischen  oder  »reinen«  Menschen 
des  Briefstellers  gleichbedeutend  zu  sein.  Denn  indem  der 
Staat  als  Repräsentant  des  reinen  Menschen  den  empi- 
rischen Individuen  unvermittelt  entgegengesetzt  wird,  ist 
der  reine  Mensch  als  Negation  des  empirischen,  der  Staat 
als  die  abstrakte  Einheit,  in  der  die  individuellen  Unter- 
schiede verschwinden,  gedacht,  die  Individualität  also  nur 
als  an  sich  vorhandene  und  aufzuhebende,  nicht  als  posi- 
tiv herzustellende.  Um  sie  als  solche  zu  denken,  ist  ein 
Mittelbegriff  notwendig,  welcher  dem  Briefsteller  nicht 
nur  hier  fehlt,  sondern  überhaupt  in  den  Briefen  nicht 
zu  seinem  Rechte  kommt,  der  Mittelbegriff  der  Gemein- 
schaft, der  allerdings  kein  Verstandes-,  sondern  ein  Ver- 
nunftbegriff ist.  Außer  der  Gemeinschaft  gibt  es  keine 
menschliche  Individualität,  weil  außer  ihr  die  individuellen 
Unterschiede  nicht  zum  Bewußtsein  und  zur  ausdrücklichen 
Darstellung  kommen,  was  zum  Begriff  des  Menschen  ge- 
hört, weil  sie  demnach  nicht  nur  zufällige,  sondern  auch 
gleichgültige,  nicht  bloß  gleichgültige,  sondern  auch  un- 
entwickelt formannehmende,  also  mißförmige  und  Kari- 
katuren des  MenschHchen  sind;  in  der  Gemeinschaft 
offenbaren  sich  die  Individualitäten  und  bilden  sich 
mittelst  dieser  Offenbarung:  sie  erwachsen  als  mensch- 
hche  aus  der  Gemeinschaft.  Indem  also  der  Staat  die 
Gemeinschaft  realisiert,  verwirklicht  er  die  Individuen, 
und  er  ist  in  demselben  Maße  »Vernunftstaat«,  in  welchem 
er  diese  Verwirklichung  ebenso  als  bewußten  Zweck  hat. 


H 


wie  die  organische  oder  lebendige  Gestalt  der  Gemein- 
schaft. Dies  vorausgesetzt,  versteht  es  sich  von  selbst, 
daß  wir  den  Sätzen,  mit  denen  der  Briefsteller  seine  Ge- 
danken fortführt,  beistimmen,  den  Sätzen,  daß  »der  päda- 
gogische und  politische  Künstler  —  im  Gegensatz  zu  dem 
mechanischen  und  ,schönen',  die  es  mit  einem  äußerlichen 
Stoffe  zu  tun  haben  —  den  Menschen  zu  ihrem  Material 
und  ihrer  Aufgabe  machen«  oder  machen  sollen,  daß 
»hier  die  Teile  sich  nur  dem  Ganzen  fügen  dürfen,  weil 
das  Ganze  den  Teilen  dient,«  und  daß  der  Staat  —  der 
Idee  —  »nur  insofern  wirklich  werden  könne,  als  sich  die 
Teile  zur  Idee  des  Ganzen  hinaufgestimmt  haben.«  Aber 
unsere  Beistimmung  kann  doch  nur  eine  bedingte  sein, 
weil  die  Motivierung  und  deshalb  auch  der  volle  Aus- 
druck des  zwischen  dem  mechanischen  und  pädagogischen 
Künstler,  dem  mechanischen  und  organischen  Staate  be- 
stehenden Unterschiedes  fehlt. 

7.  Dem  doppelten  Verlangen  gegenüber,  daß  der 
Staat  die  Einzelnen  zu  .'seiner  Aufgabe  macht,  und  daß 
sich  die  Einzelnen  zur  Idee  des  Ganzen  hinaufstimmen 
oder  hinaufgestimmt  werden,  müssen  wir  die  Frage  stellen, 
wie  denn  die  Einzelnen  an  sich  dazu  kommen,  sich  den 
Staat,  und  wie  der  Staat,  sich  :die  Einzelnen  als  Zweck 
zu  setzen.  Wenn  der  Staat  die  Individuen  unterdrückt, 
so  müssen  diese  den  Staat  notwendig  negieren,  d.  h.  seine 
Auflösung  wollen,  sofern  sie  überhaupt  zum  selbständigen 
Wollen  kommen;  der  Staat  muß  aber  die  Individuen 
unterdrücken,  sofern  sie  »empirische«  bleiben,  d.  h.  sich 
nicht  durch  sich  selbst  zur  Idee  des  Staates  erheben, 
wie  es  auch  sogleich  vom  Briefsteller  ausgesprochen  wird. 
Damit  ist  ein  Zirkel  gesetzt,  über  den  das  Postulat 
der  Erziehung,  welches   aus    dem  notwendigen  Verhält- 

25 


nisse  der  Einzelnen  und  des  Staates  begründet  werden 
soll,  nicht  hinausführt.  Vor  der  Notwendigkeit  der  Er- 
ziehung muß  für  den  praktischen  Staat  die  Möglichkeit 
derselben  erwiesen  sein,  sie  kann  aber  nur  durch  die  Tat- 
sache der  Selbsterziehung  der  Einzelnen,  und  zwar  da- 
durch, daß  diese  Selbsterziehung  wenigstens  eine  relativ 
allgemeine  ist,  erwiesen  werden.  Da  nun  die  Selbster- 
ziehung unmöglich  ist,  so  lange  die  Individuen  unter- 
drückt, d.  h.  äußerlich  normiert  werden,  so  bleibt  in  dem 
äußerlich  normierenden  Staate  der  »Erweis«,  daß  eine 
Erziehung,  welche  dies  der  Abrichtung  gegenüber  ist, 
also  die  Entwicklung  des  Individuums  freiläßt,  möglich 
und  zulässig  ist,  unmöglich.  Denn  die  Zulässigkeit  ist 
von  der  Möglichkeit  abhängig,  aus  demselben  Grunde, 
aus  welchem  der  vernünftige,  oder  freie  Staat  vom  Brief- 
steller für  »gefährlich«  erklärt  wird,  solange  die  Staats- 
angehörigen nicht  erzogen  sind.  Mit  anderen  Worten: 
dem  Staate,  der  die  Individuen  unterdrückt,  fehlt  die 
Idee  der  wirklichen  Erziehung  wie  die  der  freien  Sittlich- 
keit überhaupt,  und  wenn  sie  ihm  nicht  schlechthin  fehlt 
—  womit  in  ihn  selbst  ein  Zwiespalt  oder  Widerspruch 
gesetzt  ist,  der  notwendig  überwunden  werden  muß  — 
kann  die  Unterdrückung,  welche  er  übt,  nur  eine  relative 
sein.  Weiterhin  darf  man  aber  trotz  des  Rechtes  zur  Ab- 
straktion nicht  vergessen,  daß  der  konkrete  Staat  keine 
mystische  Person  ist,  sondern  aus  den  Regierenden  be- 
steht, und  diese  sind,  welchen  Teil  des  Volkes  sie  aus- 
machen mögen,  eben  der  freie  Teil  des  Volkes,  und 
können,  insofern  sie  die  Herrschaft  des  Sittengesetzes 
vertreten,  nur  »durch  sich  selbst«  zur  Idee  der  Sittlich- 
keit gelangt  sein.  Hieraus  folgt  zunächst,  daß  jede  Nor- 
mierung der  Gesellschaft,  die  von  sittlichen  Gesichtspunkten 

26 


ausgeht,  auch  wenn  sie  eine  äußerliche  oder  mechanische 
ist,  die  Tatsache  der  Selbsterziehung,  obgleich  nur  eine 
sporadische,  voraussetzt,  daß  aber  weiterhin  mit  dieser 
Tatsache  die  Idee  und  der  Wille  einer  ausdrück- 
lichen und  allgemeinen  Erziehung  zum  vernünftigen 
oder  freien  Staat  noch  nicht  gegeben  sind.  Die  sporadische 
Selbsterziehung  erweist  nur  die  sporadische  Mög- 
lichkeit der  Erziehung  und  gibt  nur  einen  beschränkten 
Begriff  derselben  ab,  der  sich  sofort  veräußert,  weil  jede 
Herrschaft  die  Tendenz  hat,  sich  als  solche  zu  befestigen, 
folglich  ihre  Notwendigkeit  als  eine  absolute  und  unver- 
änderliche zu  fassen.  Der  Begriff  dieser  Notwendigkeit 
aber  fällt  mit  dem  abstrakten  Sittlichkeitsbegriffe  nicht 
zusammen,  weil  es  das  Kennzeichen  einer  abstrakten 
Moral  ist,  daß  sie  von  den  Bedürfnissen  und  Bedingungen 
des  gesellschaftlichen  Lebens  als  eines  in  sich  zusammen- 
hängenden abstrahiert,  obgleich  sie  sich  notwendig  auf 
gesellschaftliche  Verhältnisse  beziehen  muß:  d.  h.  der 
Sittlichkeits-  und  der  Staatsbegriff  erhalten  ihre  Einheit 
erst  in  der  Idee  der  freien  Gemeinschaft,  einer  Idee, 
welche  den  mechanischen  Staat  oder  die  Herrschaft  aus-- 
schließt,  den  Staatsbegriff  aber,  der  an  sich  über  den 
abstrakten  Sittlichkeitsbegriff  hinausreicht,  verlangt  auch 
der  mechanische  Staat,  und  dieser  Begriff  des  Staates 
kann  ohne  die  Tatsache  der  Gemeinschaft  un- 
möglich hervortreten.  Folglich  hat  es  der  Staat  von  vorn- 
herein nicht  mit  von  einander  abgelösten,  sondern  mit 
vereinigten  Individuen  zu  tun,  die  wie  die  Regierenden 
zum  Staats  begriffe  gelangen,  sobald  der  Staat  kon- 
stituiert, d.  h.  den  gewordenen  Gemeinschaften  eine  be- 
stimmte Form  ausdrücklich  gegeben  wird.  Wir  haben 
also   die  Tatsache   der  Gemeinschaft   als  Voraussetzung 

27 


des  Staatsbegriffes  bei  den  Regierenden  und  bei  den 
Regierten  auszusprechen,  und  behaupten,  daß  die  Be- 
stimmtheit dieses  Begriffes  durchaus  von  der  Bestimmt- 
heit der  gewordenen  Gemeinschaft  abhängig  ist.  Denn 
der  Staatsbegriff  ist  notwendig  ein  anderer,  wenn  die 
elementaren  Gemeinschaften  unfreie  und  wenn  sie  relativ 
freie,  wenn  die  Selbsterziehung,  die  nur  in  der  Gemein- 
schaft stattfinden  kann,  eine  sporadische  und  wenn  sie 
eine  relativ  allgemeine  ist.  Hierbei  ist  aber  zu  beachten, 
daß  der  Staat  als  die  aus  drück  liehe  Form  der  Gesell- 
schaft den  gegebenen  Gesellschaftscharakter  zugleich  aus- 
prägt und  erhöht,  also  die  Entwicklung  der  Gesellschaft 
ebenso  bedingt,  wie  er  von  ihr  bedingt  wird,  was  dem 
einseitigen  Beweise,  daß  der  freie  Staat  die  Herrschaft 
der  freien  Sittlichkeit  voraussetzt,  gegenüber  geltend 
gemacht  werden  muß. 

Nehmen  wir  hiernach  die  Frage,  wie  die  Einzelnen  zur 
Staatsidee  und  wie  der  Staat  dazu  gelangt,  die  Einzelnen 
als  Zweck  zu  setzen,  wieder  auf,  so  ist  klar,  daß  sich 
ohne  den  Mittelbegriff  der  Gemeinschaft  schon  das  Ent- 
stehen des  Staatsbegriffes  und  des  wirklichen  Staates, 
insofern  dieser  die  Herrschaft  der  Sittlichkeit  noch  äußer- 
lich »realisiert«,  nicht  beantworten,  also  noch  weniger 
der  »Fortschritt«  zu  der  Idee  und  dem  Willen  des  freien 
Staates,  welcher  an  sich  der  Fortschritt  zu  der  Idee  und 
dem  Willen  der  wirklichen  Erziehung  ist,  erklären  läßt. 
Ist  das  Verhältnis  des  Staates  und  der  Individuen  nicht 
ein  von  vornherein  gegebenes,  so  läßt  es  sich  nicht  her- 
stellen,  d.  h.  die  ^abstrakte  Gegenüberstellung  beider, 
die  mit  dem  Rousseauschen  Standpunkte  zusammenhängt, 
führt  zu  unlöslichen  Widersprüchen,  sofern  nicht  der 
Begriff  der  historischen  Entwicklung  fern  gehalten  wird. 

2d> 


Dieselben  Widersprüche  aber  sind  an  sich  gelöst,  wenn 
von  der  Tatsache  der  Gemeinschaft  und  zwar  der  sich  durch 
sich  selbst  gestaltenden,  vorstaatlichen  und  vom  Staat 
umschlossenen,  nicht,  wie  es  auch  von  dem  Briefsteller 
geschieht,  von  der  Tatsache  des  fertigen  Staates,  aus- 
gegangen und  diese  Tatsache  als  eine  in  der  Natur 
des  Menschen  begründete,  der  Mensch  als  ein  soziales 
Wesen  begriffen  wird.  Die  soziale  Natur  des  Menschen 
setzt  die  Individuen  zu  dem  entstehenden  und  sich  fort- 
schreitend gestaltenden  Staate  in  ein  an  sich  gegebenes 
Verhältnis,  sie  begründet  die  Tatsache  der  relativ  allge- 
meinen Selbsterziehung,  die  freiwillige  Unterwerfung  unter 
den  normierenden  Staat  —  der  ohne  vorhandene  Ge- 
meinschaften kein  Objekt  hätte  —  und  das  Bedürfnis 
des  freien  Staatswesens,  welches  Bedürfnis  der  ausdrück- 
lichen Erziehung  ist,  sie  läßt  es  demnach  auch  begreifen, 
wie  der  Staat  Zweck  des  Individuums  und  das  Indivi- 
duum Zweck  des  Staates  werden  kann.  Denn  in  jeder 
Gemeinschaft  bleibt  sich  der  Einzelne  Selbstzweck,  indem 
er  die  Gemeinschaft  als  Mittel  seiner  Selbstbefriedigung 
und  Selbstverwirklichung  will;  das  Mittel  aber  ist  immer 
der  nächste  Zweck  und  als  absolutes  Mittel  ein  abso- 
luter Inhalt  dQs  bewußten  Willens,  also  ein  notwendiges 
Ideal,  woraus  sich  ergibt,  daß  die  Einzelnen  den  Staat 
—  die  umfassende  und  vermittelte,  an  sich  als  dauernd 
gedachte  Gemeinschaft  —  als  Staat,  aber  auch  fortge- 
setzt diejenige  Form  desselben,  welche  den  entwickelten 
Gemeinschaften  entspricht,  in  welcher  sie  also  die  posi- 
tive Möglichkeit  ihrer  Selbstverwirklichung  finden,  wollen 
müssen.  Sonach  ist  auch  in  demselben  Grade,  in  wel- 
chem der  Dualismus  der  Regierenden  und  Regierten 
sich  aufhebt,  die  Verwirklichung  der  Individuen  der  »Wille 

29 


des  Staats«,  d.  h.  der  einheitliche  Wille  derer,  welche 
den  Staat  ausmachen,  und  daß  jener  Dualismus  sich  auf- 
hebe, ist  mit  dem  Staate  der  freien  Sittlichkeit,  der  eine 
»Organisation«  sein  soll,  »die  sich  durch  sich  selbst  und 
für  sich  selber  bildet«,  gefordert.  Offenbar  aber  ist  diese 
»Organisation«  nur  möghch,  wenn  der  Staat  die  Einheit 
wirklicher  und  in  sich  freier  Gemeinschaften  ist,  da  er 
nur  als  diese  Einheit  eine  kohärente  und  sich  selbst  ge- 
staltende Existenz  darstellen  kann.  Wenn  die  Gesamtheit 
der  einzelnen  —  die  Masse  —  den  Staat  ausmacht,  so 
kann  der  Wille  dieser  Gesamtheit  einerseits  nur  mo- 
mentan hervortreten  und  nur  durch  eine  mechanische 
Vermittlung  zum  Ausdruck  kommen,  andererseits  sich 
nur  auf  die  gleichen  oder  unterschiedslosen  Einzelnen  be- 
ziehen —  wie  er  es  im  Rousseauschen  Staate  in  der  Tat 
soll  —  ist  also  ohne  organische  Vermittlung  und  ohne 
positiven  Inhalt;  er  erschöpft  sich  demnach  in  der 
Negation  des  historischen  Staates,  und  kann  sich  weiter- 
hin als  Gesamtwille  nur  dadurch  betätigen,  daß  er  den 
Dualismus  der  Regierenden  und  Regierten  von  neuem 
setzt  und  von  neuem  aufhebt  —  eine  Betätigung,  welche 
eine  mechanische  bleibt,  mit  welchem  Pathos  und  wel- 
cher Leidenschaft  sie  geübt  werden  mag  und  geübt  wer- 
den muß,  und  den  Charakter  des  Schauspiels  bezeichnet, 
das  uns  die  französische  Revolution  bietet.  —  Wollen  wir 
also  von  dem  »politischen  Künstler«  sprechen  —  eine 
Bezeichnung,  die  im  organischen  Staate  nur  bedingt  zu- 
lässig ist  —  so  bleibt  derselbe  insoweit  ein  mechanischer 
Künstler,  als  er  davon  absieht,  die  Neubildung  der  Ge- 
sellschaft positiv  zu  ermöglichen,  aber  ihre  Form  un- 
mittelbar bestimmen  will,  mag  er  hierbei  die  Freiheit  der 
Individuen  beabsichtigen  oder  nicht. 

30 


8.  Die  Notwendigkeit  der  Erziehung,  welche  der  Brief- 
steller daraus  ableitet,  daß  die  natürliche  Sittlichkeit 
herrschen  muß,  ehe  der  Staat  von  der  zwangsweisen 
Normierung  des  allgemeinen  Verhaltens  absehen  kann, 
folgt  unmittelbar  aus  der  sozialen  Natur  des  Menschen. 
Denn  um  in  der  Gesellschaft  existieren  zu  können, 
muß  der  Einzelne  ihr  gemäß,  d.  h.  gemäß  dem  histo- 
rischen Selbsterhaltungsbedürfnisse  und  dem  historischen 
Charakter  der  konkreten  Gesellschaft  bestimmt  sein, 
also  bestimmt  werden,  da  ihm  die  erforderhche  Be- 
stimmtheit von  Natur  nicht  zukommen  kann.  Wäh- 
rend er  demnach  außer  der  Gesellschaft  gar  nicht  zum 
Bewußtsein  und  zum  Wollen  seines  Selbst  kommt,  also 
seine  menschliche  Individualität  nicht  entwickelt,  muß  er 
in  der  Gesellschaft  die  Selbstbestimmung,  zu  deren  Be- 
griff er  gelangt,  beschränken,  die  Individualität,  die  er 
herausstellt,  normieren  lassen.  Damit  ist  der  Widerspruch 
gesetzt,  daß  die  Notwendigkeit  der  Gesellschaft  in  der 
Anlage  des  Menschen  zur  Selbstbestimmung  begründet 
ist,  dieselbe  Notwendigkeit  aber  die  Selbstbestimmung 
aufhebt,  sofern  sie  eine  unmittelbare  ist  und  soweit 
sie  zu  äußerlicher  Betätigung  kommt.  Aus  der  Notwen- 
digkeit aber,  die  Einzelnen  der  allgemeinen  und  beson- 
deren Bestimmtheit  der  Gesellschaft  gemäß  zu  normieren, 
d.  h.  sie  negativ  und  positiv  für  die  bestehende  Gesell- 
schaft zuzurichten,  ergibt  sich  von  vornherein  die  Not- 
wendigkeit, mit  der  normierenden  Tätigkeit  bei  den  Ein- 
zelnen einzutreten,  so  lange  und  so  weit  sie  bestimm- 
bar sind,  also  die  Notwendigkeit  der  ausdrücklichen 
Erziehung,  die  auch  nirgends  fehlt,  wo  die  Gesellschaft 
die  weitere  und  festere  Form,  welche  die  Bezeichnung  des 
Staates  zulässig  macht,  erhalten  hat.  Daß  jedoch  diese, 

31 


durch  das  Selbsterhaltungsbedürfnis  der  Gesellschaft  un- 
mittelbar bedingte  Erziehung  den  vorhin  bezeichneten 
Widerspruch  nicht  aufhebt,  sondern  verschärft  und  ver- 
tieft, ist  leicht  zu  begreifen,  da  sie  sich  der  noch  un- 
entwickelten Individualität  planweise  bemächtigt.  Indessen 
ist  zu  beachten,  daß  wir  von  einer  unbedingten  Auf- 
hebung der  Individualität  und  der  Selbstbestimmung  durch 
die  normierende  Tätigkeit  der  Gesellschaft  weder  ge- 
sprochen haben  noch  sprechen  können.  Wie  äußerlich 
diese  Normierung,  die  immer  das  Mittel  der  Erziehung 
hat,  sein  möge,  so  vermag  sie  doch  die  natürlich  ge- 
gebene Individualität  nur  zu  modifizieren,  und  bringt  sie 
gerade  durch  die  gleichmäßige  Form,  die  sie  den  Ein- 
zelnen aufprägt,  zur  Erscheinung,  während  die  Tendenz 
der  Selbstbestimmung,  sofern  der  Erzieher  auf  den  Willen 
wirken  muß,  durch  diese  Einwirkung  nicht  unterdrückt, 
sondern  nur  verinnert  und  der  Einzelne  genötigt  wird, 
für  seine  »Freiheit«  ein  unzugängliches  Gebiet  zu  suchen 
oder  seinen  selbständigen  Willen  mittelbar,  d.  h.  indem 
er  andere  bestimmt,  zu  betätigen.  Daher  wird  der  Wider- 
spruch, der  in  der  äußerlichen  Normierung  der  Indivi- 
duen gegen  die  Selbstbestimmung  des  Menschen  liegt, 
durch  die  ausdrückliche  Erziehung,  welche  positive  Fähig- 
keiten oder  Fertigkeiten  hervorzubringen  und  die  Nei- 
gungen, wehrend  und  fordernd,  zu  bestimmen  sucht, 
allerdings  nicht  gelöst,  sondern  erhöht,  zugleich  aber, 
insofern  die  Selbstgestaltung  der  Gemeinschaften  Raum 
behält,  zur  Reflexion  gebracht.  Denn  indem  die  Er- 
ziehung als  gesellschaftlicher  Zweck  gewußt  wird,  entsteht 
notwendig  die  Reflexion  auf  den  Unterschied  dessen, 
was  die  Individuen  sind  und  dessen,  was  sie  sein 
sollen,   und  sodann  auf  den  Unterschied  dessen,   was 

32 


sie  sein  sollen  und  was  sie  sein  können:  es  erzeugt  sich 
das  Ideal  der  Individualität  neben  dem  Ideal  des  Staates 
und  jenes  wird  zum  Maßstabe  für  die  Vollkommenheit 
der  bestehenden  Erziehung  wie  des  bestehenden  Staates. 
Ist  aber  die  Verwirklichung  der  vollen  Individualität  als 
Zweck  der  Erziehung  gesetzt,  so  ist  einerseits  als  ihre 
Aufgabe  die  fortgesetzte  Vermittlung  der  Selbstbestim- 
mung begriffen,  andrerseits  die  »ästhetische«  Erziehung, 
deren  Notwendigkeit  zu  beweisen  das  Ziel  des  Brief- 
stellers ist,  gefordert.  Denn  die  ästhetische  Erziehung 
Hegt,  wie  der  Briefsteller  späterhin  ausführt,  in  der  all- 
seitigen Betätigung,  welche  keinen  anderen  Zweck  hat, 
als  die  Individualität  herauszustellen,  diese  Betätigung 
aber  ist  als  zusammenhängende  nur  im  Umkreise  der 
Erziehung  möglich  und  ergibt  sich  hier  als  notwendig, 
sofern  die  Verwirklichung  der  vollen  Individualität  Er- 
ziehungszweck ist.  Dabei  ist  aber  sogleich  zu  bemerken, 
daß,  wenn  die  Einzelnen  a  1  s  Einzelne  erzogen  werden  — 
was  trotz  einer  äußerlichen  und  mechanischen  Gemein- 
schaftlichkeit der  Erziehung  möglich  ist  —  ihre  Betäti- 
gung eine  wahrhaft  allseitige  nicht  sein  kann,  wie  sie 
auch  in  diesem  Falle,  indem  sie  in  die  Gesellschaft  ein- 
treten, derselben  vereinzelt  und  ohne  selbständige  gesell- 
schaftliche Befähigung,  also  unfrei,  gegenüberstehen. 

9.  Nachdem  der  Briefsteller  ausgesprochen  hat,  daß 
der  pädagogische  und  politische  Künstler  den  Menschen 
als  ihren  Zweck  zu  setzen  haben,  kommt  er  wieder  dar- 
auf zurück,  daß  das  Verhalten  des  Staates  gegen  seine 
»Bürger«  durch  das  Verhalten  derselben  gegen  sich  selbst, 
also  durch  das,  was  sie  schon  sind,  bedingt  ist.  Er  sagt 
nämlich,  daß,  wenn  sich  in  den  Individuen  der  subjek- 
tive und  objektive,  der  empirische  und  der  ideale  Mensch 

Deinhardt,  Schiller.     3  • 

33 


kontradiktorisch  gegenüberstehen,  der  Staat  dem  objek- 
tiven oder  idealen  Menschen  zum  Siege  verhelfen  müsse, 
indem  er  die  empirische  oder  subjektive  Individualität 
mit  dem  »Ernst  des  Gesetzes  unterdrückte,  während  er, 
wenn  die  Individuen  in  sich  selbst  einig  sind,  nur  ihre 
innere  Gesetzgebung  zu  formieren  hat.  Damit  ist  wieder- 
holt ausgesprochen,  daß  der  »freie«  Staat  die  Sittlichkeit 
der  Individuen  voraussetzt,  und  daraus  folgt,  daß  er 
die  Verwirklichu  ng  der  Individualität  nicht  zu  sei- 
nem Zwecke  hat,  da  die  Unterdrückung  der  empiri- 
schen Individuen  eine  negative,  die  Formierung  des  an 
sich  vorhandenen  sittlichen  Willens  eine  formelle  Tätig- 
keit ist.  Dieser  Widerspruch,  auf  den  wir  nicht  noch- 
mals einzugehen  brauchen,  läßt  die  Frage  offen,  wer 
der  Erzieher  der  Individuen  sein  soll,  da  es  der  Staat, 
indem  er  die  Individuen,  wie  sie  sind,  zu  behandeln  hat, 
nicht  sein  kann.  Wie  wir  späterhin  sehen  werden,  be- 
antwortet der  Briefsteller  diese  Frage,  indem  er  die  ästhe- 
tische Erziehung  —  welche  nach  dem  oben  Gesagten  die 
Erziehung  schlechthin  ist  —  der  Kunst  und  den  Künst- 
lern zuweist,  aber  es  nicht  umgehen  kann  und  umgehen 
will,  das  ganze  Gebiet  der  ästhetischen  Selbstbefriedi- 
gung, das  innerhalb  des  Volkslebens,  insbesondere  aber 
innerhalb  des  Jugendlebens  liegt,  in  das  Auge  zu  fassen. 
Dabei  bleiben  jedoch  die  pädagogische  Kunst  oder  viel- 
mehr —  da  die  Kunst  an  sich  pädagogisch  wirken  soll, 
ohne  diese  Wirkung  ausdrücklich  zu  bezwecken  —  die 
Kunst  der  Pädagogik  und  der  pädagogische  Künstler  un- 
berücksichtigt, so  nahe  diese  Berücksichtigung  dem  Brief- 
steller zu  liegen  scheint,  d.  h.  notwendig  gewesen  wäre, 
wenn  er  es  nicht  überall  vermieden  hätte,  die  Grenzen 
der  eigentlichen  Praxis  zu  berühren.  Hätte  er  jedoch  die 
• 

34 


Tätigkeit  des  pädagogischen  Künstlers  oder  des  Erziehers 
schlechthin  einer  besonderen  Betrachtung  unterzogen,  so 
hätte  er  bei  der  Annahme,  daß  der  »empirische«  und 
der  ideale  Mensch  sich  urspünglich  entgegengesetzt  sind, 
über  einen  ähnlichen  Widerspruch  hinweggehen  müssen, 
wie  der  ist,  daß  der  Staat  den  Menschen  als  Zweck 
setzen,  aber  seine  Tätigkeit  darauf  beschränken  soll,  das 
empirische  Individuum  zu  unterdrücken  und  dem  idealen, 
wenn  es  zum  tatsächlichen  Bestände  gelangt  ist,  einen 
allgemeinen  Ausdruck  zu  leihen.  Denn  ist  der  abstrakte 
Gegensatz  des  empirischen  und  des  idealen  Individuums, 
dessen,  was  der  Mensch  von  Natur  ist,  und  dessen,  was 
er  sein  soll  —  ein  Gegensatz,  der  noch  näher  als  der 
des  sinnlichen  und  des  vernünftigen  Menschen  weiterhin 
bestimmt  wird  —  vorausgesetzt,  so  kann  die  Tätig- 
keit des  Pädagogen  gleichfalls  nur  eine  negierende  sein, 
d.  h.  er  müßte  die  Entwicklung  des  vernünftigen  Men- 
schen, welche  Entwicklung  der  Selbstbestimmungsfähig- 
keit ist,  abwarten,  was  er  selbstverständlich  nicht  kann, 
sofern  er  nicht  als  »schöner«  Künstler  wirkt.  Er  hätte 
also  tatsächlich  den  Menschen  nicht  zum  Zweck,  da  jeder 
Zweck  die  ausdrückliche  Vermittlung  des  Gewollten  in 
Anspruch  nimmt.  Wir  müssen  aber  weiter  gehen  und 
behaupten,  daß  auch  die  Wirksamkeit  des  schönen  Künst- 
lers, den  abstrakten  Gegensatz  der  sinnlichen  und  gei- 
stigen oder  vernünftigen  Natur  des  Menschen  vorausge- 
setzt, unmöglich  ist,  daß  also  die  Tatsache  dieser  Wirk- 
samkeit einen  Gegenbeweis  gegen  das  kontradiktorische 
Nebeneinander  der  sinnlichen  und  geistigen  Natur  des 
Menschen,  sowie  gegen  das  abstrakte  Nacheinander 
der  sinnlichen  und  geistigen  Bedürfnisse  und  Fähigkeiten 
abgibt.  Wir  werden  auf  diesen  Punkt,  da  der  Briefsteller 

35 


wiederholt  von   dem   abstrakt   gefaßten  Gegensatze  aus- 
geht,   um  seine  Vermittlung   zu  finden,   zurückkommen, 
dürfen   aber   die  Charakteristik,   welche   er,   an    die   von 
ihm  ausgesprochene  Notwendigkeit,  dem  objektiven  Men- 
schen   zum   Siege  über   den   subjektiven   zu   helfen,  an- 
knüpfend,   von  der  Wildheit,   der  Barbarei   und  Bildung 
gibt,  ohne  weitere  Bemerkungen  und  indem  wir  das  Rich- 
tige, das  in  ihr  Hegt,  anerkennen,  anfügen.  »Der  Mensch«, 
sagt  er,  »kann   sich  auf  eine   doppelte  Weise  entgegen- 
gesetzt sein,    entweder  als  Wilder,  wenn  seine  Gefühle 
über  seine  Grundsätze  herrschen,  oder  als  Barbar,  wenn 
seine  Grundsätze  seine  Gefühle  zerstören.  Der  Wilde  ver- 
achtet die  Kunst  und  erkennt  die  Natur  als  seinen  un- 
umschränkten Gebieter;    der  Barbar  verspottet   und  ent- 
ehrt die  Natur,  aber  verächtlicher  als  der  Wilde  fährt  er 
häufig   genug  fort,   der  Sklave   seines  Sklaven    zu   sein. 
Der  gebildete  Mensch  macht  die  Natur  zu  seinem  Freunde, 
und  ehrt  die  Freiheit,  indem  er  bloß  ihre  Willkür  zügelt.« 
10.  Was  der  Briefsteller  in  den  letzten  Worten  als  den 
Charakter  der  Bildung  bezeichnet,  ist  die  Voraussetzung, 
die  er  für  den  freien  Staat  in  Anspruch  nimmt,  und  in- 
dem er  dazu  fortgeht,  dieser  Forderung  das  »jetzige  Zeit- 
alter  und    die  gegenwärtigen  Ereignisse«  gegenüber   zu 
stellen,   findet   er  in   der  bestehenden  »Zivilisation«  die 
Wildheit   und    die  Barbarei  dualistisch  vertreten.   Der 
Naturstaat,  sagt  er,  wanke,  die  Vernunft  sei  zur  Erkennt- 
nis der  menschlichen  Rechte  gekommen  und  die  Massen 
seien  bereit,  sie  nicht  bloß  zu  fordern,  sondern  zu  neh- 
men; so  scheine  die  innere  und  äußere  Möglichkeit  ge- 
geben,   den  Menschen  endlich  als  Selbstzweck  zu  ehren 
und  wahre  Freiheit  zur  Grundlage  der  politischen  Ver- 
bindung zu  machen  —  es  fehle  aber  die   moralische 

36 


Möglichkeit  und  der  freigebige  Augenblick  finde  ein  un- 
empfängliches Geschlecht.  Denn  was  das  Drama  der  Zeit 
öfi:'enbare,  sei  Verwilderung  auf  der  einen,  Erschlaffung 
auf  der  anderen  Seite,  die  Äußersten  des  menschlichen 
Verfalls  in  einem  Zeiträume  vereinigt.  Weiterhin  schreibt 
er  den  »zahlreicheren  niederen  Klassen«  rohe  Triebe 
und  Leidenschaften,  die  entfesselt  kein  Maß  kennen,  den 
höheren  »zivihsierten«  Schlaffheit  und  Depravation  des 
Charakters  zu,  die  er  darein  setzt,  daß  die  auf  ihrem 
rechtmäßigen  Felde  —  dem  der  Eindrücke,  die  sie 
machen  soll  —  verleugnete  Natur  auf  dem  morali- 
schen Gebiete,  dem  der  Grundsätze,  mittels  einer  mate- 
rialistischen Sittenlehre  Raum  gewonnen,  und  daß  im 
Schöße  der  raffiniertesten  Geselligkeit  der  Egoismus  sein 
System  gegründet  habe.  »Unser  freies  Urteil,«  heißt  es, 
»unterwerfen  wir  der  despotischen  Meinung  der  Gesell- 
schaft, unser  Gefühl  ihren  bizarren  Gebräuchen,  unseren 
Willen  ihren  Verführungen ;  nur  unsere  Willkür  behaupten 
wir  gegen  ihre  heiligen  Rechte.«  Damit  sind  in  der  Tat 
die  Grundzüge  der  sozialen  Verderbnis  oder  der  falschen 
ZiviHsation  ausgesprochen:  das  Raffinement  der  Bedürf- 
nisse, welches  die  Natur  verkehrt,  die  sinnliche  Befrie- 
digung versteckt,  um  sie  zu  erhöhen,  und  sich  in  der 
Sophistik  des  der  egoistischen  Genußsucht  dienenden 
Verstandes  fortsetzt,  auf  der  einen,  der  Mangel  der  Ge- 
meinschaftsidee und  des  Gemeinschaftsgefühles  bei  der 
äußersten  und  äußerlichsten  Mannigfaltigkeit  sozialer  Be- 
ziehungen auf  der  anderen  Seite.  Der  Charakter  dieser 
Zivilisation  aber  macht  sich  in  allen  Schichten  der  Ge- 
sellschaft geltend;  wir  finden  die  niederen  Klassen  in 
weiter  Ausdehnung  körperlich  verkümmert  und  erschlafft 
—  wozu  insbesondere  die  Art  der  Arbeit  beiträgt  —  das 

37 


natürliche  Gefühl  aber  und  die  sittlichen  Begriffe  zersetzt, 
während  in  den  höheren  Ständen  die  gesellige  Form  und 
die  einseitig  gepflegte  Verstandesbildung  nirgends  aus- 
reichen, um  die  Gefühlsroheit,  die  Verwilderung  der  Triebe 
und  den  maßlosen  Egoismus  zu  verbergen.  Wir  können 
also  nicht  zugeben,  daß  die  niederen  Klassen  einseitig 
das  rohe  Gefühl  und  die  Verwilderung  —  die  nur  inner- 
halb der  Zivilisation  möglich  ist,  weil  sie  in  der  Unge- 
bundenheit  besteht,  die  sich  unter  ihrer  Herrschaft  ge- 
heim entwickelt  —  die  höheren  einseitig  die  raffinierte 
Schwäche  vertreten.  Insofern  aber  in  den  niederen 
Klassen  die  physischen  Fähigkeiten  weniger  erschöpft, 
die  natürlichen  Gefühle  weniger  abgeschwächt  und  ver- 
kehrt sind,  wie  es  in  den  höheren  der  Fall  ist,  sind  jene 
offenbar  erziehungsfähiger  wie  diese,  da  es  leichter  ist  den 
rohen  Stoff  zu  formen,  als  die  Verbildung  zu  überwinden, 
leichter  und  dankbarer,  die  vorhandene  Natürlichkeit  zu 
veredeln,  als  die  nicht  vorhandene  künstlich  zu  restau- 
rieren. Dennoch  geht  der  Briefsteller,  wie  wir  später 
sehen  werden,  auf  die  eigentliche  Volkserziehung  —  von 
den  Wirkungen,  die  er  der  rechten  Kunst  zuschreibt,  ab- 
gesehen —  nicht  ein,  und  für  die  Bildung  seines  »ästhe- 
tischen Staates«  im  Staate,  hat  er  offenbar  diejenigen 
Kreise  der  höheren  Stände  im  Auge,  die  der  Natur  und 
Natürlichkeit  nicht  entfremdet  oder  sich  ihnen  neu  zu 
»befreunden«  befähigt  sind.  Jedenfalls  können  wir  nicht 
sagen,  daß  die  Charakteristik,  welche  der  Briefsteller  von 
seinem  Zeitalter  gibt,  auf  das  unsere  schon  weniger 
anwendbar  sei. 

Wenn  wir  hier  von  der  dualistischen  Gegenüberstel- 
lung der  niederen  und  höheren  Klassen  nicht  absehen 
wollen,   so  müssen  wir  sagen,   daß  sich   ihr  Gegensatz, 

38 


seit  die  Briefe  geschrieben  wurden,  nach  der  einen  Seite 
allerdings  gemildert,  nach  der  anderen  aber  verschärft  hat, 
so  daß  der  Briefsteller  gegenwärtig  teils  noch  weniger, 
teils  mehr  berechtigt  sein  würde,  die  Doppelseitigkeit 
der  ziviHsierten  Entartung,  oder  eigentlich  die  Nicht- 
zivilisation  unter  der  Decke  zivilisierter  Zustände  und 
die  Üb  er  Zivilisation  in  den  niederen  und  höheren  Stän- 
den vertreten  zu  finden.  Die  Bedürfnisse  sind  dem  Cha- 
rakter nach  gleichmäßiger,  die  Möglichkeit  der  Befriedi- 
gung aber  ungleichmäßiger  geworden,  der  Luxus  und 
das  Elend  haben  sich  nebeneinander  rasch  entwickelt, 
und  die  Zivilisation  ist  im  allgemeinen  auf  der  einge- 
schlagenen Bahn,  trotz  der  Reaktionen,  die  teils  von 
selbstsüchtiger  Restaurationssucht,  teils  von  der  Idee  einer 
gesunden  und  wahrhaft  humanen  Kultur  ausgingen,  vor- 
geschritten. Auf  die  Folgerungen,  die  sich  aus  dieser  Tat- 
sache für  die  Notwendigkeit  einer  allgemeinen  Erziehung 
schlechthin  und  für  Art  und  Charakter  desselben  insbe- 
sondere ergeben,  kommen  wir  später,  obgleich  ein  Ein- 
wurf, welchen  sich  der  Briefsteller  macht,  die  Grundfrage 
einer  solchen  Erörterung  berührt,  ohne  sie  jedoch  zu  for- 
mulieren und  festzuhalten.  Der  Briefsteller  fürchtet  näm- 
lich nicht,  daß  seine  Schilderung  des  Zeitalters  übertrie- 
ben gefunden  werden  könne,  er  erwartet  aber  den  Ein- 
wand, daß  »sein  Gemälde  überhaupt  allen  Völkern  gleiche, 
die  in  der  Kultur  begriffen  sind,  weil  alle  ohne  Unter- 
schied durch  Vernünftelei  von  der  Natur  abfallen  müssen, 
ehe  sie  durch  Vernunft  zu  ihr  znrückkehren  können«. 

II.  Offenbar  drückt  ein  solcher  Einwurf  den  unauf- 
haltsamen Fortschritt  der  einmal  angetretenen  Kulturent- 
wicklung, also  die  Notwendigkeit  aus,  daß  er  zu  seinem 
Äußersten   gediehen  sein   müsse,   ehe   die  Rückkehr  zur 

}9 


Natur  stattfinden  könne;  die  praktische  Folgerung  aber, 
die  mit  dem  Einwände  gegeben  ist  und  seine  nicht  her- 
vortretende Spitze  bildet,  ist  die,  daß  es  unnütz  sei,  den 
Entartungen  der  Zivilisation  ausdrücklich  entgegen  zu 
arbeiten  oder  die  »Rückkehr  zur  Natur«  bewirken  zu 
wollen,  ehe  sie  sich  »von  selbst«  mache.  Erst  und  nur 
diese  Folgerung  —  der  Ausdruck  des  pessimistischen 
laisser-faire-Prinzips  —  steht  der  Tendenz  Schillers,-  die 
Notwendigkeit  und  Möglichkeit  einer  Erziehung  zu 
beweisen,  welche  eine  wahrhaft  humane  Kultur  im  vor- 
aus begründet,  entgegen.  Denn  wenn  das  Gemälde 
des  Briefstellers,  indem  es  allen  Zeitaltern  einer  ent- 
wickelten Zivilisation  gleicht,  zu  viel  beweisen  soll,  so 
kann  dieses  »Zu  viel«  nur  die  Unmöglichkeit  sein,  einem 
historischen  Entwicklungsgesetze  entgegen  zu  treten  und 
entgegen  zu  \virken,  wobei  jedoch  sogleich  zu  bemerken 
ist,  daß  die  Geschichte  kein  Beispiel  für  den  unmittel- 
baren Übergang  aus  einer  entarteten  Zivilisation  zu  ge- 
sunden Kulturzuständen  bietet,  daß  also  die  Vertreter  des 
pessimistischen  laisser-faire-Prinzipes,  wenn  sie  einen  sol- 
chen Übergang  für  die  Zukunft  erwarten,  gleichfalls  eine 
Ausnahme  von  der  Regel  oder  vielmehr  einen  wesent- 
lichen Unterschied  zwischen  der  modern-christlichen  und 
den  älteren  Zivilisationen  annehmen  müssen.  Der  Brief- 
steller läßt  aber,  wie  gesagt,  die  Spitze  des  Einwurfs, 
den  er  gegen  seine  Beweistendenz  macht,  nicht  hervor- 
treten, sondern  begnügt  sich,  in  dem  Griechentum 
den  historischen  Beweis  zu  finden,  daß  der  Charakter 
der  Natürlichkeit  und  die  Höhe  der  Kultur  sich  nicht 
ausschUeßen,  sondern  zusammen  bestehen  können.  Daß 
nun  diese  Einheit  einmal  da  war,  beweist  allerdings  ihre 
künftige   Möglichkeit,    aber   nicht,    daß   sie   innerhalb 

40 


einer  gegebenen  und  sich  entwickelnden  Zivilisation,  deren 
Fortschritt  als  solcher  über  die  Barbarei  nicht  hinaus- 
führt, sondern  sie  nur  modifiziert,  hergestellt  werden 
kann.  Dabei  unterläßt  es  der  Briefsteller  auffallenderweise, 
die  öffentliche  Erziehung  als  die  eigentliche  Basis 
der  griechischen  Kulturstaaten  aufzuzeigen,  obgleich  mit 
dieser  Tatsache  historisch  bewiesen  ist,  daß  die  ästhe- 
tische Kultur  —  diejenige,  in  welcher  sich  Naturkraft 
und  geistige  Entwicklung  vereinigt  erhalten  —  den  Grund 
und  das  Mittel  eines  systematischen  Erziehungswesens 
bedarf.  Wir  haben  uns  aber,  um  diese  Unterlassung  zu 
erklären,  daran  zu  erinnern,  daß  es  die  abstrakte  Gegen- 
überstellung des  Staats  und  der  Individuen  dem  Brief- 
steller unmöglich  macht,  die  Erziehung,  welche  er  im 
Auge  hat,  als  Staatsaufgabe  zu  fassen,  daß  er  vielmehr 
nach  einem  vom  Staate  durchaus  unabhängigen  Faktor 
dieser  Erziehung  suchen  muß  und  als  solchen  die  Kunst 
in  Bereitschaft  hat.  Sonach  fehlt  ihm  der  Grund,  auf  die 
Erziehung  der  Griechen,  die  von  vornherein  eine  öffent- 
liche und  :staatHche  war,  einzugehen.  Indem  er  sich  aber 
vorbehält,  die  erziehliche  Wirksamkeit  der  Kunst  zu  cha- 
rakterisieren und  zu  verlangen,  begegnet  er  dem  Ein- 
wände, den  ersieh  macht,  nur  insoweit,  als  derselbe 
ein  Entweder-Oder  des  Naturzustandes  und  des  Kultur- 
zustandes, also  die  Unvereinbarkeit  der  natürlichen  Kraft 
und  Sittlichkeit  mit  der  höheren  geistigen  und  geselligen 
Entwicklung  ausspricht,  während  er  die  darin  enthaltene 
Folgerung  auf  sich  beruhen  läßt,  d.  h.  sie  weder  aus- 
drücklich hervorhebt,  noch  ausdrücklich  bekämpft,  weil 
sie  teilweise  seinem  eigenen  Standpunkte  entspricht  oder 
sein  Hintergedanke  ist,  den  er  mindestens  andeuten 
wollte.   Denn  um    der   Wirksamkeit   der   Kunst,    welche 


41 


sich  von  dem  Verderbnis  der  Zeit  rein  erhält,  in  einem 
Grade  zu  vertrauen,  wie  er  es  tut,  muß  er  auf  das  Be- 
dürfnis der  Zeitgenossen  rechnen  und  Gewicht  legen, 
und  kann  dieses  Bedürfnis  nicht  nur  als  ein  objek- 
tives, sondern  muß  es  zugleich  als  ein  subjektives,  als 
die  in  den  Gemütern  mindestens  geheim  vorhandene  Sehn- 
sucht, der  Unnatur  der  Zivilisation  zu  entrinnen,  auf- 
fassen. Diese  Sehnsucht  bleibt  eine  impotente,  weil  ihr 
die  Gewöhnung  an  die  Befriedigungen  der  Zivilisation 
und  die  Unmöglichkeit,  auf  ihre  Vorzüge  und  »Schätze« 
zu  verzichten,  entgegenstehen,  dieses  Gegengewicht  aber 
ist  in  dem  Glauben  an  das  Entweder-Oder  des  Natur- 
und  Kulturzustandes  begründet,  weshalb  es  der  Brief- 
steller mit  Recht  für  die  erste  Aufgabe  derjenigen  Philo- 
sophie und  Kunst,  welche  erziehlich  im  historischen  Sinn 
wirken  soll,  hält,  daß  sie  jenen  Glauben,  welcher  der 
Unglaube  an  die  volle  Existenz  der  Menschheit  ist,  be- 
kämpft und  das  Ideal  einer  schönen  Kultur  der  unschönen 
Wirklichkeit  entgegensetzt,  um  das  gläubige  Streben  nach 
diesem  Ideale  hervorzurufen.  Eine  solche  wirkende  »Tat« 

—  wie  deren  der  Briefsteller  später  ausdrücklich  fordert 

—  sollen  die  »Briefe«  selbst  sein,  und  wir  müssen  an- 
erkennen, daß  sie  es  sind,  aber  zugleich  die  Überzeugung 
aussprechen,  daß  eine  ganze  Reihe  derartiger  »Taten« 
nicht  genügt,  um  dem  historischen  Willen,  den  sie  reizen 
und  entstehen  lassen,  Gestalt  und  Dauer  zu  geben.  Der 
Mangel  und  die  Schwäche  dieses  Willens  haben  ihren 
Ausdruck  in  dem  optimistischen  und  in  dem  pessimisti- 
schen laisser-faire-Prinzipe,  welches  gründlich  und  in 
allen  Gebieten  des  sozialen  Lebens  überwunden  werden 
muß,  wenn  nicht  die  Taten  der  Philosophie  und  Kunst 
ein  müßiges  Spiel   bleiben  sollen.   Diese  »Taten«  heben 

42 


sich  daher  insoweit  selbst  auf,  als  sie  dem  laisser- 
faire-Prinzip  ausdrücklich  Raum  geben,  und  setzen 
sich  durch,  insofern  sie  es  ausdrücklich  ausschließen, 
obgleich  andrerseits  anerkannt  und  festgehalten  werden 
muß,  daß  die  philosophische  und  die  künstlerische  Lei- 
stung sich  auf  ihrem  Gebiete  zu  vollbringen  haben, 
daß  also  der  Philosoph  und  der  Künstler  als  solche 
für  die  Kulturverwirklichung  arbeiten,  und  dadurch, 
daß  sie  unmittelbar  zu  »nützen«  und  diesem  oder  jenem 
guten  Zwecke  zu  dienen  suchen,  nicht  praktischer,  son- 
dern unpraktischer  werden. 

12.  »Der  Ruhm  der  Ausbildung  und  Verfeinerung,« 
sagt  der  Briefsteller,  »den  wir  mit  Recht  gegen  jede  an- 
dere bloße  Natur  geltend  machen,  kann  uns  gegen  die 
griechische  Natur  nicht  zu  statten  kommen,  die  sich 
mit  allen  Reizen  der  Kunst  und  mit  aller  Würde  der 
Weisheit  vermählte,  ohne  doch  wie  die  unserige  das 
Opfer  derselben  zu  sein.«  Dieser  Verlust  der  Natur  durch 
die  Zivilisation  wird  sodann  näher  dahin  bestimmt,  daß 
zwar  die  Gattung  als  solche  zu  einer  noch  nicht  da- 
gewesenen Höhe  gelangt  sei,  aber  auf  Kosten  der  In- 
dividuen, indem  sich  diese  —  nicht  vereinzelt,  sondern 
in  ganzen  Klassen  —  verkümmert  oder  einseitig  ent- 
wickelt zeigen.  »Ganze  Klassen  entfalten  nur  einen  Teil 
ihrer  Anlagen,  während  daß  die  übrigen,  wie  bei  ver- 
krüppelten Gewächsen,  nur  mit  matter  Spur  angedeutet 
sind.«  Der  einzelne  Grieche  war  ein  ganzer  Mensch, 
indem  er  die  Bildung  seines  Volkes,  seines  Stammes  und 
seiner  Zeit  repräsentierte,  der  modern  zivilisierte  Mensch 
ist  durch  das,  was  er  »ist«,  durch  Stand  und  »Beruf« 
einseitig  besimmt:  er  repräsentiert  seine  Klasse  und  die 
besondere,   in  enge  Grenzen  eingeschlossene  Leistungs- 

45 


fähigkeit,  welche  dieser  eigen  ist.  Die  moderne  Geseil- 
schaft leistet  daher  im  ganzen  mehr,  als  irgendeine  frü- 
here, indem  die  besonderen  Fähigkeiten  und  Tätigkeiten 
als  solche  bis  zum  Äußersten  ausgebildet  werden  und 
sich  objektiv  zu  einer  Gesamtleistung  vereinigen,  diese 
objektive  Vereinigung  aber,  die  durch  den  Austausch 
und  die  gegenseitige  Benutzung  der  Kräfte  stattfindet,  läßt 
die  subjektive  Einseitigkeit  und  Beschränktheit  nicht  nur 
bestehen,  sondern  muß  sie  fortgesetzt  erhöhen  und  aus- 
prägen, weil  sie  die  Möglichkeit  der  Absonderung  wie 
im  allgemeinen  gewährt  so  dadurch  steigert,  daß  auch 
der  Austausch  und  die  Vermittlung  der  Leistungen  zu 
besonderen  Klassengeschäften  werden.  Für  das,  was  der 
Briefsteller,  indem  er  seine  Auseinandersetzung  in  dieser 
Richtung  fortsetzt,  charakterisieren  will,  haben  wir  gegen- 
wärtig die  auf  dem  Gebiete  der  modernen  Nationalöko- 
nomie entstandene  Bezeichnung  »Arbeitsteilung«,  und 
sind  längst  gewöhnt,  diese  als  das  eigentliche  »Prinzip« 
der  »Kulturentwicklung«  im  allgemeinen  und  der  Industrie- 
entwicklung insbesondere  dargestellt  zu  finden.  Schiller 
berücksichtigt  in  seiner  Charakteristik  insbesondere  die 
Arbeitsteilung  auf  geistigem  oder  quasi-geistigem  Gebiet, 
die  Scheidung  der  Wissenschaften  und  Künste;  die  Tren- 
nung des  Staates  und  der  Kirche,  die  Bestimmtheit  der 
verschiedenartigen  Staatsgeschäfte,  während  er  den  Gegen- 
satz der  »geistig«  und  »körperlich«  arbeitenden  Stände 
und  die  Verschiedenartigkeit  der  äußerlich  produktiven 
Arbeiten  kaum  berührt,  obgleich  er  seine  Schilderung  des 
Zeitalters  mit  der  dualistischen  Gegenüberstellung  der 
höheren  und  niederen  Gesellschaftsklassen  begonnen  hat. 
Wir  dürfen  uns  hierüber  nicht  wundern,  da  die  einseitig 
psychologische  Betrachtungsweise  —  mittels    deren  hier 

44 


die  »Geistesvermögen«  in  ihrer  abstrakten  Einteilung  ver- 
schiedenen Klassen  zugewiesen  werden  —  und  das  Ab- 
sehen von  der  inneren  Gestaltung  der  »materiellen«  Pro- 
duktion ein  Charakterzug  der  Zeitbildung  sind,  in  wel- 
cher Schiller  steht.  Soll  aber  der  Gegensatz  der  modernen 
Zivilisation  und  der  griechischen  Kultur  zu  seinem  vollen 
Ausdrucke  kommen,  so  ist  es  nicht  möglich,  von  der 
materiellen  Unterlage  der  antiken  und  modernen  Staaten, 
also  von  den  ökonomischen  und  industriellen  Verhält- 
nissen abzusehen,  weil  die  Bestimmtheit  derselben  an 
sich  die  Bestimmtheit  der  Staats-  und  Kulturgestaltung 
ausdrückt,  indem  die  letztere  in  der  ersteren  ihre  posi- 
tive Möglichkeit  hat. 

In  dieser  Beziehung  muß  hervorgehoben  werden,  daß 
die  antiken  Staaten  die  Sklaverei  zur  Unterlage  haben, 
und  daß  sich  ohne  diese  Unterlage  z.  B.  die  Fähigkeit 
der  einzelnen  Athener,  als  Einzelne  die  griechische  Kultur 
schlechthin  zu  repräsentieren,  nicht  denken  läßt.  Die  an- 
tiken Staaten  haben  also  den  Gegensatz  der  »körperlich« 
und  der  »geistig«  arbeitenden  Stände  oder  Gesellschafts- 
klassen zunächst  deshalb  nicht,  weil  die  Sklaven,  denen 
die  materiellste  Arbeit  zugewiesen  ist,  als  Individuen  und 
Staatsbürger  gar  nicht  in  Betracht  kommen,  während  die 
Freien,  indem  sie  zu  dem  Staate  in  ein  unmittelbares 
Verhältnis  treten,  an  den  Staatsleistungen  und  dem 
Staats  vermögen  einen  relativ  gleichen  Anteil  haben, 
womit  —  innerhalb  des  griechischen  Lebens  —  das 
Nebeneinander  kleiner  selbständiger  Staaten  gegeben 
ist.  Dabei  entwickelte  sich  in  der  Blütezeit  der  griechi- 
schen wie  auch  der  römischen  Kultur  die  materielle  Ar- 
beitsteilung mit  der  Massenproduktion  —  auf  welche  die 
Ausdehnung  der  Sklaverei  an  sich  hinwies  —  viel  weiter, 

45 


als  man  gewöhnlich  annimmt,  aber  unterhalb  des  Staats- 
bürgertums, im  Gebiete  der  individuellen  und  bürger- 
lichen Rechtlosigkeit.  Daher  ersparten  sich  die  antiken 
Staaten  die  Aufgabe,  die  Freiheit  und  freie  Entwicklung 
der  Individuen  mit  der  Bedürfnisarbeit  und  der  durch 
das  wachsende  Bedürfnis  bedingten  Arbeitsteilung  zu  ver- 
einbaren  —  eine  Aufgabe,  welche  sich  der  moderne 
Staat  nicht  ersparen  kann,  sofern  er  die  Sklaverei  gründ- 
lich überwinden,  also  die  versteckte  Neugestaltung  der- 
selben unmöglich  machen  und  die  prinzipiell  anerkannte 
Rechtsgleichheit  verwirklichen  will.  Im  antiken  Staate 
gibt  es  keine  materielle  Arbeitsteilung  soweit  eben  die 
Freiheit  reicht,  aber  als  die  des  Freien  unwürdige  Arbeit 
wird  auch  keineswegs  das  materielle  Schaffen  an  sich, 
sondern  nur  die  einseitig  vom  Bedürfnis  bedingte  Tätig- 
keit, die  den  Charakter  der  individuellen  Betätigung 
verliert,  angesehen.  Für  die  griechische  Anschauung  ins- 
besondere existierte  niemals  der  abstrakte  Gegensatz  kör- 
perlicher und  geistiger  Betätigung,  und  der  Gedanke,  daß 
die  eine  der  anderen  »geopfert«  werden  könne  oder  müsse, 
blieb  dem  Griechentume  fremd.  Daher  war  durchaus 
selbstverständlich  die  eine  Seite  der  griechischen  Erzie- 
hung die  Gymnastik,  und  dem  Griechen  würde  eine 
Motivierung  gymnastischer  Übungen  durch  Gesundheits- 
rücksichten und  allerhand  praktische  Vorteile,  wie  sie 
von  modernen  Pädagogen  gegeben  wird,  sehr  sonderbar 
vorgekommen  sein.  Plato,  der  sich  darauf  einläßt,  die 
Gymnastik  zu  motivieren,  indem  er  sie  der  musischen 
Erziehung  gegenüber  stellt,  bringt  beide  unter  den  Ge- 
sichtspunkt der  sittlichen  Bildung  und  fordert  die 
Gymnastik  als  Anspannungs-,  die  Musik  als  Sänftigungs- 
mittel  des  Gemüts,  jene  also  für  die  Kräftigung  des  Wil- 

46 


lens,  diese  für  die  Ausbildung  der  Empfindung.  Diese 
Motivierung  ist  im  griechischen  Sinne,  obgleich  sie  die 
Notwendigkeit,  welche  die  Gymnastik  für  den  Griechen 
hatte,  noch  nicht  ausreichend  ausdrückt.  In  dem  griechi- 
schen Wesen  lag  das  Verlangen  der  vollen  und  zur 
Form  gebrachten  Individualität,  und  daher  war  dem  Grie- 
chen eine  Erziehung  ohne  Gymnastik,  ohne  die  unmittel- 
bare Selbstbetätigung,  welche  die  Individualität  heraus- 
stellt und  formt,  undenkbar.  Aber  die  Entwicklung  und 
Gestaltung  der  griechischen  Kultur  wäre  für  uns  undenk- 
bar ohne  die  griechische  Erziehung,  und  diese  ist  eine 
vom  Staate,  der  seine  Bedingungen  verwirklicht,  von 
vornherein  gesetzte  und  geordnete.  Wir  sehen  also,  daß 
die  griechische  Freiheit  und  Bildung  nicht  einfach  als  das 
»glückliche  Produkt«  der  griechischen  Natur  —  der  äußeren 
und  inneren  —  sondern  als  das  bestimmte  Resultat  sozialer 
Voraussetzungen,  die  nicht  ohne  Kämpfe  mannigfacher 
Art  zu  erreichen  waren,  und  sozialer  Schöpfungen  zu 
begreifen  ist,  daß  insbesondere  die  materielle  Arbeits- 
teilung als  Unterlage  der  griechischen  Kultur  nicht  fehlte, 
aber  vom  Gebiete  der  Freiheit  ausgeschlossen  blieb,  und 
daß  diese  glückliche  Negation  durch  die  Position 
einer  systematischen  Erziehung,  welche  den  Staatszweck 
mit  dem  Zwecke,  die  Individuen  herzustellen,  verband, 
ergänzt  wurde. 

In  diesem  Ergebnis  liegen  historisch-praktische  Kon- 
sequenzen, die  wir  späterhin  ausdrücklich  ziehen  müssen. 
Zunächst  aber  ist  noch  festzustellen,  daß  der  Negation 
der  Arbeitsteilung  auf  dem  Gebiete  der  Freiheit  die  Ne- 
gation eines  privilegierten  »geistigen  Besitzes«  notwen- 
dig entsprach,  daß  »Glauben  und  Wissen«  in  so  leben- 
digen und  zusammengeschlossenen  Gemeinschaften,  wie 

47 


sie  die  griechischen  Staaten  darstellten,  wirkliches  Ge- 
meingut sein  und  bis  in  die  Zeiten  der  politischen  und 
sittlichen  Auflösung  bleiben  mußten;  und  vom  Staate 
unabhängige,  über  ihn  hinausreichende  Gestaltungen  durch 
die  Natur  dieses  Staates  ausgeschlossen  waren.  Die  kasten- 
artige Absonderung,  welche  in  die  Anfänge  des  griechi- 
schen Kulturlebens  hineingetragen  erscheint,  wurde  inner- 
halb seiner  Entwicklung  entschieden  überwunden,  und 
die  schwachen  Spuren  derselben,  welche  sich  während 
der  Blütezeit  der  griechischen  Kultur  noch  zeigen,  wie 
in  den  religiösen  Geheimbünden  und  der  exoterischen 
und  esoterischen  Teilnahme  am  »Wissen«,  sind  eben 
nichts  als  belanglose  Überbleibsel  einer  längst  durchbro- 
chenen Vergangenheit.  Das  Staatsinteresse,  welches  das 
Interesse  an  der  schönen  Gestalt  des  Staates  war,  hielt 
Religion,  Kunst  und  Wissenschaft  zusammen,  und  ihr 
gemeinsamer  Inhalt  blieb  infolge  hiervon  und  der  Natur 
des  griechischen  Geistes  gemäß  der  anthropologische. 
Hierdurch  aber  war  diejenige  geistige  »Arbeitsteilung«, 
die  auf  der  Gattungsbestimmtheit  der  geistigen  Leistun- 
gen beruht,  so  wenig  ausgeschlossen,  daß  vielmehr  diese 
Gattungsbestimmtheit  erst  von  den  Griechen  durchgesetzt 
und  an  die  modernen  Kulturen  vererbt  wurde,  während 
der  Orient  teils  die  unmittelbare  Einheit,  teils  die  erneute 
Vermischung  der  Religion,  der  Kunst  und  Poesie,  der 
theoretischen  und  praktischen  Wissenschaften  zeigt,  die 
moderne  Kultur  aber  eine  entschiedene  Neigung  zu  Ver- 
mittlungs-  und  Übergangsgattungen  der  geistigen  Pro- 
duktion unverkennbar  offenbart.  Wir  können  es  daher 
beispielsweise  als  eine  Eigenheit  des  griechischen  Wesens 
nicht  anerkennen,  daß  bei  den  Griechen  »die  Poesie  und 
die  Spekulation  im  Notfall   ihre  Verrichtungen  tauschen 

48 


konnten«.  Allerdings  aber  hebt  die  Reinheit,  mit  der  die 
Gattungen  der  geistigen  Produktion  sich  voneinander  ab- 
scheiden, den  einheitlichen  Charakter  dieser  Produktion 
nicht  auf,  ist  vielmehr  durch  denselben  bedingt.  Denn 
wie  der  Zweck  des  geistigen  Produzierens  überall  die 
Darstellung  des  Menschlichen,  in  seiner  allgemein  gül- 
tigen Erscheinung  ist,  so  macht  sich  überall  das  Bedürf- 
nis der  klar  bestimmten,  dem  besonderen  Inhalte  ad- 
äquaten, vollkommenen  Form  geltend,  wodurch  die  sub- 
jektive Willkür  des  Darstellers  in  die  engsten  Grenzen 
gebannt,  und  das  Abspringen  von  der  gegebenen  Dar- 
stellungsart ebenso  wie  die  Abstraktion  von  dem  Zwecke 
der  Äußerung  überhaupt  ausgeschlossen  ist. 

13.  Schiller  motiviert  die  Unmöglichkeit,  daß  sich  die 
griechische  Kultur,  wie  sie  war,  erhalten  und  fortsetzen 
konnte,  einseitig  psychologisch,  indem  er  sagt,  daß  »der 
Verstand  durch  den  Vorrat,   den  er  schon  hatte,  unaus- 
bleiblich genötigt  werden  mußte,  sich  von  der  Empfin- 
dung und  Anschauung  abzusondern,   und   nur   ein   be- 
stimmter Grad  von  Klarheit  mit  einer  bestimmten  Fülle 
und  Wärme  zusammenbestehen  kann«.  Daß  sich  die  grie- 
chische Weltanschauung  in   ihrer  ruhig  schönen  Abge- 
schlossenheit nicht  zu  behaupten  vermochte,  ist  in  dem  Ent- 
wicklungsgesetze des  menschheitlichen  Geistes  begründet; 
sie   konnte  aber  der  Auflösung  um  so  weniger  wider- 
stehen,  als  sie  das  gemütvolle  Genügen  an  einer  gege- 
benen historischen  Existenz  zur  Voraussetzung  hatte  und 
diese  Voraussetzung  verhältnismäßig   rasch    zusammen- 
schwand. Dieser  rasche  Verfall  der  griechischen  Kraft  und 
Freiheit  nach  einer  kurzen,  wenn  auch  fast  wunderbaren 
Kulturblüte  ist  durch  den  allgemeinen  Satz,  daß  das  histo- 
risch Gestaltete  dem  Schicksale  der  Erstarrung  oder  Auf- 

Deinhardt,  Schiller,  a 

49 


lösung  nicht  entgehen  kann,  noch  nicht  erklärt.  Denn 
die  Anwendbarkeit  dieses  Satzes  ist  eine  relative,  nicht 
nur,  weil  die  Perioden  der  »Entwicklung,  der  Blüte  und 
des  Verfalls«  bei  verschiedenen  Kulturen  und  den  Völkern, 
welche  deren  Träger  sind,  eine  sehr  verschiedene  Zeit- 
dauer zeigen,  sondern  auch  eine  gewisse  Wiedererneu- 
ungsfähigkeit  derselben  Kultur  auf  demselben  Boden  wie 
derselben  Völker  als  eine  Tatsache  anerkannt  werden 
muß,  die  sich  in  demselben  Maße  entschiedener  darstellt 
und  an  Umfang  gewinnt,  in  welchen  die  Teilnahme  an 
der  bestimmten  Kulturentwicklung  sich  ausdehnt,  also 
die  Beziehungen  der  Völker  zu  einander  einerseits  um- 
fassender, andrerseits  reger  und  lebendiger  werden  —  folg- 
lich in  demselben  Maße,  in  welchem  der  Begriff  der 
Menschheit  und  der  Menschheitsgeschichte  zur  Wirklich- 
keit kommt.  Hiermit  ist  für  die  kurze  Zeitdauer  der  grie- 
chischen Kulturblüte  an  sich  ein  Grund  ausgesprochen : 
das  beschränkte  Terrain  und  die  Abgeschlossenheit  des 
griechischen  Lebens,  welches  für  sich  Gestalt  annimmt  und 
sich  sodann  an  dem  tatsächlichen  Gegensatze,  in  den  es  zum 
Orient  tritt,  zwar  rascher  entwickelt,  aber  von  den  fremd- 
artigen Elementen,  die  es  zu  bewältigen  hat  und  zu  bewäl- 
tigen sucht,  durchsetzt  und  desorganisiert  wird.  Indessen 
reicht  dieser  Grund  nicht  aus,  weil  er  nicht  den  Mangel 
ausdrückt,  der  die  griechische  Freiheit  und  Kultur  —  die 
beide  außereinander  nicht  gedacht  werden  können  —  an 
und  in  sich  unhaltbar  machte,  obgleich  er  für  die  Ent- 
wicklung derselben  eine  positive  Bedeutung  gehabt  hatte. 
Denn  die  Unfähigkeit  der  Griechen,  ihre  Freiheit,  folg- 
lich den  schönen  Charakter  ihrer  Kultur  zu  behaupten, 
stellte  sich  heraus,  ehe  ihnen  die  Aufgabe,  den  Orient 
zu  erobern,  aufgedrungen  wurde,  wie  sie  es  mußte, 

50 


und  die  sittliche  Auflösung  hatte  begonnen,  seit  der 
Gedanke  »der  griechischen  Einheit  mit  einem  vorherr- 
schenden Staate  an  der  Spitze«  zur  Geltung  gekommen 
war  —  womit  keineswegs  gesagt  sein  soll,  daß  der  Ein- 
heits-  und  Herrschaftsgedanke  mit  der  daran  sich  knüpfen- 
den Rivalität  der  hervorragenden  Staaten  den.  Untergang 
der  griechischen  Freiheit  einseitig  herbeigeführt  hat,  wohl 
aber,  daß  er  sich  mit  dem  Wesen  dieser  Freiheit  nicht 
vertrug  und  die  schon  vorhandene  Erschöpfung  des  freu- 
digen Freiheitsgeistes  offenbarte.  Die  einzelnen  griechi- 
schen Staaten  oder  Städte  hatten  Herrschaftsgebiete,  welche 
sie  voneinander  absonderten  und  ihre  Freiheit  ermög- 
lichten, das  Ungenügen  an  diesen  Herrschaften  aber  war 
das  Ungenügen  an  der  Freiheit  selbst,  welches  sich  not- 
wendig entwickelt,  wo  ihr  Gebiet  ein  abgeschlossenes, 
ohne  exzentrische  Abstufung  und  Gliederung  ist,  und  zwar 
sowohl,  wenn  lebhaftere  innere  Reibungen  mit  der  Er- 
öffnung weiterer  Herrschaftsaussichten  zusammentreffen, 
wie  es  nach  überstandenen  Existenzkrisen  und  bei  jeder 
ungewöhnlichen  Aufregung  des  Tätigkeitstriebes  statt- 
findet, als  auch  dann,  wenn  der  unbeschäftigte  und  da- 
durch erschlaffende  Tätigkeitsdrang  sich  in  das  Bedürfnis 
des  möglichst  unmittelbaren  Besitzes  und  Genusses  um- 
setzt. Die  Freiheit  muß  sich  fortgesetzt  verwirklichen, 
also  ausdehnen  und  erhöhen,  um  fortgesetzt  der  allge- 
meine Zweck  zu  sein  und  als  stärkendes  Lebenselement 
empfunden  zu  werden;  sie  verlangt,  um  ihre  einende, 
erhebende  und  schöpferische  Kraft  zu  offenbaren,  die  Ar- 
beit ihrer  Herstellung,  welche  wohl  leichter,  ebenmäßiger 
und  bei  vorhandenem  Schönheitssinn  auch  schöner  von 
statten  geht,  wenn  es  sich  darum  handelt,  die  Gemein- 
schaft der  ausnahmsweise  Freien  zu  gestalten,  aber  auch 

51 


mit  dieser  Gestaltung  abschließt,   um   das  doppelte  Un- 
genügen  der  Unfreien  und  Freien  hervortreten  zu  lassen. 
Wir  kommen  hiermit  darauf  zurück,   daß  das  Gebiet 
der  Freien    in    den    griechischen   Staaten    ein    sehr  be- 
schränktes war  und  blieb,  indem  es  da  begann,  wo  die 
Bedürfni.s arbeit  aufhörte.    Der  Staat  war   die  Stadt, 
die  arbeitenden  Landbewohner   standen   in  untergeord- 
neten Verhältnissen  und  hatten  kein  politisches  Gewicht, 
die  Sklaven  gaben  eine  völlig  indifferente,  aber  unent- 
behrliche Masse   ab,   indem  sie,   die   materielle  Arbeits- 
teilung und  die  konzentrierte  Produktion  vertretend,  die 
Mittel  der  Zivilisation  zu  schaffen  hatten.  Diese  Zustände 
gestalteten  sich  allmählich,   aber  erst   nachdem  und  nur 
da,  wo  sie  sich  gestaltet  hatten,  entfaltete  sich  »rasch  und 
glücklich  die  Blüte  der  griechischen  Kultur  und  Freiheit«, 
welche,  wie  wir  behaupten,  eine  kurze  sein  mußte,  weil 
sie   eben   solche  Voraussetzungen   hatte.   Die  Bedürfnis- 
arbeiten  an  sich  und  insbesondere  die  Teilung  der  Be- 
dürfnisarbeiten,  ohne  welche  es   keine  Zivilisation  gibt, 
sind  allerdings   ein  Hemmnis   für  die  Allgemeinheit  der 
Bildung  und  Freiheit,  welches  als  solches  viel  zu  wenig 
gewürdigt  wird;   indem   aber   der   freie   Staat,   um    sich 
selber  zu  bilden,    dieses  Hemmnis  benutzt  und  umgeht, 
statt  es  zu  überwinden,  fehlt  ihm  die  eigentliche  Wurzel 
der  Dauer  und  Erneuungsfähigkeit.    Nur  wenn  die  Ge- 
staltung des  Staates   als  solche  die  Gestaltung  der  Be- 
dürfnisarbeit ist,  gewinnt   er  eine  lebendige  und  erwei- 
terungsfähige Unterlage,  die   natürlich-sittliche  Basis  für 
das   freie  Spiel   der  Kräfte   und  Neigungen,    die  sich   in 
der  Arbeit  fortgesetzt   bilden   und  bestimmen,   um   sich 
von    ihr    und    dem    Bedürfnis    ausdrücklich    loszulösen, 
das   Medium   um   seine   notwendigen   Metamorphosen 

52 


positiv  zu  ermöglichen.  Was  also  der  griechischen  Kultur 
und  Freiheit  zu  einem  festeren  Bestände  und  einer  rei- 
cheren Entwicklung  mangelte,  obgleich  in  diesem  Mangel 
die  hemmnislose,  ebenmäßige  und  unmittelbar  schöne 
Gestalt,  in  welcher  sie  uns  entgegentreten,  begründet  liegt, 
ist  nicht  sowohl  die  Arbeitsteilung  an  sich  als  die  Auf- , 
nähme  derselben  in  die  Aufgabe  der  Staatsformation,  und 
da  diese  Formation,  wie  wir  sagten,  von  der  öffentlichen 
Erziehung  ausging,  so  müssen  wir  die  Einseitigkeit  dieser 
darin  sehen,  daß  sie  die  Bildung  zur  praktischen  Arbeit 
nicht  einschloß. 

14.   Indem  Schiller  den  Charakter  der  modernen  Zeit, 
deren  Unfähigkeit  zu   einem   freien  Staatswesen   er   be- 
weisen will,   in    die  Arbeitsteilung   setzt,   betont  er   den 
Widerspruch,   in  welchem  dieselbe  zur  Selbstzwecklich- 
keit    und   Idealität    des   Individuums,    also    zur   Freiheit 
steht,    so   entschieden    als   möglich.    Dagegen    sind    wir 
längst  gewöhnt,  von  unseren  Nationalökonomen  die  Ar- 
beitsteilung als  den  großen  Faktor  der  Zivilisation  enthu- 
siastisch  preisen  zu   hören,   und   die  Tatsache   derselben 
auch  auf  dem  Gebiete  der  »geistigen«  Produktion  zu  all- 
gemeiner Befriedigung  vorschreiten  zu  sehen.  In  der  Tat 
bedarf  es   kaum   eines  Beweises,    daß   die  Arbeitsteilung 
das  Produkt   der  Arbeit   potenziert,   indem   sie   zugleich 
die  Beziehungen   der  Individuen   durch   die  Notwendig- 
keit des  Austausches  kompliziert,  daß  sie  also  die  Zivili- 
sation, die  den  Überschuß  über  die  notdürftige  Produk- 
tion verlangt  und   die  Abhängigkeit   der  Individuen  von 
einander  zur  Voraussetzung  hat,  ermöglicht  und  bedingt, 
wie  wir  denn  hervorgehoben  haben,  daß  auch  die  antike 
Kultur  die  Tatsache  der  Arbeitsteilung  und  der  massen- 
haften Produktion  hinter  sich  hat.  Dessenungeachtet  ist 

53 


es  sehr  einseitig,  die  das  Produkt  der  Arbeit  potenzierende 
Kraft  der  Arbeitsteilung  als  eine  unbegrenzte  Größe  zu 
betrachten,  auch  wenn  man  bei  der  Betrachtungsweise, 
der  es  auf  die  Größe  des  Produkts  als  solche  ankommt, 
stehen  bleibt.  Denn  zunächst  ist  die  Wirksamkeit  der 
Arbeitsteilung  durch  die  Konzentration  der  Arbeitsmittel 
und  Arbeitskräfte  bedingt,  die  Möglichkeit  dieser  Kon- 
zentration aber  ist  eine  beschränkte,  und  sie  wird  un- 
fruchtbar, wenn  ihre  Grenzen  überschritten  und  Ar- 
beitskräfte und  Arbeitsmittel,  deren  Ergiebigkeit  durch 
eine  gewisse  Verteilung  bedingt  ist,  gewaltsam  zusam- 
mengezogen werden  —  wie  es  die  »Macht  des  Kapitals« 
allerdings  vermag.  Ferner  erfordert  die  Vermittlung  des 
Austausches,  welche  die  fortschreitende  Arbeitsteilung 
nötig  macht,  Mittel  und  Kräfte,  deren  Wert  von  dem 
erhöhten  Produkt  in  Abzug  zu  bringen  ist,  und  insofern 
diese  Vermittlung  trotz  oder  wegen  ihrer  Künstlich- 
keit eine  unzureichende  bleibt  oder  wird,  insofern  sie 
insbesondere  Produktion  und  Konsumtion  nicht  im  Ver- 
hältnis erhält  und  der  Überproduktion  in  bestimmten 
Richtungen,  also  der  Entwertung  der  Produkte  Raum 
gibt,  fällt  der  Abzug  von  dem  erhöhten  Gesamtprodukt, 
den  sie  an  sich  bedingt,  um  so  schwerer  ins  Gewicht. 
Weiterhin  kommt  in  Betracht,  daß  die  Arbeitsteilung  eine 
unberechenbare  Summe  individueller  Kräfte  und  Fähig- 
keiten, indem  sie  den  Einzelnen  auf  eine  engbegrenzte 
Tätigkeit  anweist,  brach  legt  oder  in  ein  totes  Kapital 
verwandelt,  also  diesen  Verlust  auszugleichen  hat  —  eine 
Ausgleichung,  die  niemals  nachweisbar  ist,  weil  sich  eben 
der  Verlust  nicht  bestimmen  läßt.  Will  man  dagegen 
sagen,  daß  die  Einzelnen  das  Kapital  von  Kräften  und 
Fähigkeiten,  welches  die  gegenwärtige  Arbeitsteilung  tötet, 

54 


in  vielfacher,  unzulänglicher  und  nicht  zusammengreifen- 
der Tätigkeit  vergeuden  würden,  so  setzt  man  unberech- 
tigterweise das  Entweder — Oder  der  Einzelarbeit  und  der 
gegenwärtigen  Form  der  gemeinsamen  Arbeit,  bei 
welcher  die  Arbeitsteilung  immer  weiter  getrieben  und 
die  Tätigkeit  des  Einzelnen  immer  mehr  mechanisiert 
werden  muß,  weil  die  äußerlich  vereinigten  und  ein- 
gestellten Kräfte  unmittelbar,  also  maschinenhaft  zusam- 
mengreifen sollen.  Offenbar  aber  wäre  diejenige  Arbeit 
die  produktivste,  in  welche  die  Einzelnen  ihre  ganze  Kraft 
und  Fähigkeit  legen  könnten,  während  sie  doch  eine  zu- 
sammengreifende oder  gemeinsame  bliebe  oder  würde,  und 
so  lange  nicht  eine  derartige  Kollektivarbeit  als  schlecht- 
hin unmöglich  nachgewiesen  ist  —  ein  Beweis,  zu  dem 
die  Berufung  auf  die  bisherige  Praxis  nicht  genügt  — 
können  unsere  Nationalökonomen  über  die  Ausgleichung 
des  Kraftverlustes,  den  die  Arbeitsteilung  durch  die  fort- 
gesetzte Vereinseitigung  der  Tätigkeiten  bedingt,  mit 
gutem  Gewissen  keine  Rechenschaft  geben,  auch  wenn 
wir  von  ihnen  kein  anderes  als  das  nationalökonomische 
Gewissen  verlangen.  Sie  können  dies  um  so  weniger, 
als  bei  der  eingeengten  und  einseitigen  Tätigkeit,  welche 
die  gegenwärtige  Arbeitsteilung  in  großer  Ausdehnung 
bedingt,  die  Individuen  nicht  vereinzelt,  sondern  klassen- 
weise verkümmern  und  verkrüppeln,  was  doch  zuletzt 
auch  von  dem  nationalökonomischen  oder  quasi-national- 
ökonomischen  Standpunkte  als  ein  unersetzbarer  Verlust 
an  Produktionsfähigkeit  angesehen  werden  muß. 

Gehen  wir  aber  darüber  hinaus,  einseitig  die  Größe 
des  Arbeitsproduktes  in  Betracht  zu  ziehen,  so  müßte 
zunächst  das  durch  die  Arbeitsteilung  erhöhte  Produkt 
durch  eine  verhältnismäßige,  und  zwar  im  Verhältnis  zum 

55 


»Kraftverlust«  stehende  Verteilung  Gemeingut  werden, 
weil  außerdem  eine  große  Anzahl  von  Individuen  oder 
ganze  Klassen  bei  der  Arbeitsteilung  trotz  der  Steigerung 
des  Gesamtproduktes  statt  zu  gewinnen  Einbuße  erleiden 
könnten,  und  wenn  dies  »zufälligerweise«  diejenigen  In- 
dividuen und  Klassen  wären,  welche  sich  oder  ihr  Selbst 
am  entschiedensten  an  die  gemeinsame  Arbeit  hingeben, 
die  »Wohltat«  der  Arbeitsteilung  für  sie  einen  doppelten 
Verlust  bedeuten  würde.  In  der  Tat  aber  besteht  dieses 
Mißverhältnis  —  durch  die  äußerliche  Vermittlung  der 
Kollektivproduktion  und  des  Austausches  ermöglicht  — 
und  zwar  nicht  zufälliger-,  sondern  notwendigerweise, 
sofern  die  Vereinigung  zur  Arbeit  eine  äußerliche,  die 
Hingabe  an  dieselbe  durch  die  Not  bedingt  ist,  folglich, 
um  das  Getriebe  der  Produktion  zu  unterhalten,  die  Not 
der  arbeitenden  Klassen  unterhalten  werden  muß,  und 
sich  dadurch  von  selbst  unterhält,  daß  der  Produktüber- 
schuß teils  für  die  erneute  Konzentration  der  Arbeits- 
mittel und  Arbeitskräfte  dient,  teils  in  einer  übermäßigen 
und  überflüssigen  Konsumtion  aufgeht,  welche  notwen- 
dig da  stattfindet,  wo  das  Produkt  sich  sammelt  und  das 
Genußbedürfnis  ein  raffiniert  materielles  bleibt  und  wird. 
Damit  berühren  wir  den  zweiten  Punkt,  welcher  für  die 
Beurteilung  des  Gewinnes,  den  die  Arbeitsteilung  ge- 
währt, in  Betracht  kommt:  die  Qualität  des  Produktes 
oder  das  Verhältnis,  in  welchem  dieses  qualitativ  zu  der 
notwendigen  Bedürfnisbefriedigung  steht.  Wenn  wir  fin- 
den, daß  die  Befriedigung  in  großem  Umfange  Schein- 
befriedigung ist,  indem  sie  teils  durch  Surrogate  statt- 
findet, also  das  Bedürfnis  nur  beschwichtigt  und  täuscht, 
teils  es  nicht  zu  naturgemäßer  Entwicklung  kommen  läßt, 
sondern   als  Vorbefriedigung   gleichzeitig  abstumpft  und 

56 


überreizt,  wozu  das  äußerliche  Raffinement  der  gebotenen 
Mittel  dient,  so  müssen  wir  sagen,  daß  der  Überschuß 
des  Produktes  vermöge  seiner  Qualität  wertlos  ist.  Daß 
aber  innerhalb  unserer  Zivilisation  die  Befriedigung  eine 
Scheinbefriedigung  in  diesern  Sinne  sein  und  immer  mehr 
werden  muß,  sofern  sich  nicht  Art  und  Charakter  der 
Arbeitsteilung  ändern,  folgt  schon  teilweise  aus  der  un- 
verhältnismäßigen Verteilung  des  Produkts,  und  weiter- 
hin daraus,  daß  die  Aneignungsfähigkeit  sich  in  Korre- 
spondenz mit  der  Leistungsfähigkeit  entwickelt,  daß  also 
bei  einseitiger  und  beschränkter  Kraftbetätigung  das  Be- 
dürfnis sich  notwendig  veräußert,  indem  es  die  innere 
Bestimmtheit  verliert,  also  zugleich  schwächt  und  als  Be- 
dürftigkeit steigert,  daß  mit  einem  Worte  die  Befriedi- 
gung um  so  weniger  eine  individuelle  sein  kann,  je 
weniger  es  die  Kraftbetätigung  oder  die  Arbeit  ist.  So- 
nach gibt  es  für  die  Vereinseitigung  des  Individuums 
durch  die  Einseitigkeit  und  Beschränktheit  der  Arbeit 
keinen  Ersatz,  weil  sich  in  dem,  was  dafür  gilt,  in  der 
Möglichkeit  einer  »allseitigen«  Befriedigung,  d.  h.  einer 
solchen,  für  welche  von  allen  Seiten  gearbeitet  werden 
soll,  die  Veräußerung  der  Individualität  nicht  aufhebt, 
sondern  fortsetzt  und  erweitert.  —  Was  die  Arbeitstei- 
lung auf  dem  Gebiete  der  geistigen  oder  quasi-geistigen 
Produktion  anbetrifft,  so  gilt  auch  für  sie,  daß  sie  ge- 
wisse Grenzen  nicht  überschreiten  kann,  ohne  die  wahr- 
hafte Aneignungsfähigkeit  für  das  geistige  Gemeingut 
aufzuheben  und  die  geistige  Individualität  zu  verkrüp- 
peln und  zu  verkümmern,  abgesehen  davon,  daß  die  Ein- 
seitigkeit »geistiger«  Beschäftigung  die  individuelle  Ent- 
wicklung von  vornherein  beeinträchtigt,  und  daß,  so  lange 
der   durch  Individuen  und   Klassen  vertretene   Gegen- 

57 


satz  körperlicher  und  geistiger  Arbeit  nicht  überwun- 
den ist,  von  der  Verwirklichung  der  Individuen  inner- 
halb der  Gesellschaft  und  durch  sie  nicht  die  Rede  sein 
kann. 

15.  Wir  haben  natürlich  die  Gesichtspunkte  für  eine  Kritik 
der  bestehenden  ))Arbeitsteilung«  nur  andeuten  können, 
obgleich  wir  in  dieser  Kritik  nach  verschiedenen  Seiten 
weiter  gehen  als  der  Briefsteller,  der  in  der  psychologi- 
schen Betrachtungsweise  verharrt.  Den  Schluß  aber,  zu 
dem  er  gelangt,  daß  zur  Verwirklichung  der  wahren 
Kultur,  die  in  der  modernen  Zivilisation  aufgehobene 
»Totalität  der  menschUchen  Natur  wiederhergestellt 
werden  müsse«,  haben  wir  entschieden  anzuerkennen, 
wie  wir  ihn  denn  in  verschiedenen  Wendungen  und  An- 
wendungen schon  ausgesprochen  haben.  Indem  nun  der 
Briefsteller  die  Frage  aufwirft,  ob  nicht  vielleicht  die  Auf- 
gabe der  Restauration  dem  Staate  zuzuweisen  oder  von 
ihm  zu  erwarten  sei,  und  sie  verneint,  weil  der  Staat, 
wie  er  jetzt  beschaffen,  das  Übel  veranlaßt  habe,  und  als 
Vernunftstaat  die  wiederhergestellte  Menschheit  voraus- 
setze, gewinnt  er  den  Übergang  zu  seiner  Forderung, 
daß  ein  vom  Staat  völlig  unabhängiger  Faktor,  und  zwar 
die  Kunst,  für  die  Umbildung  des  herrschenden  Charak- 
ters der  modernen  Völker  eintreten  müsse.  Wir  haben  aber 
unsererseits  zu  fragen,  inwiefern  sich  behaupten  läßt,  daß 
der  bestehende  Staat  den  herrschenden  Zeitcharakter  ver- 
anlaßt oder  verschuldet  habe.  Denn  offenbar  hat  sich  die 
Arbeitsteilung,  die  diesen  Charakter  nach  der  Darstellung 
des  Briefstellers  ausmacht,  unabhängig  vom  Staate  und 
seinen  verschiedenen  Formen  entwickelt,  und  die  bureau- 
kratische  Arbeitsteilung,  welche  der  Briefsteller  ausdrück- 
lich   kennzeichnet,    ist    mehr   Folge   als   Ursache,    mehr 

s8 


durch  die  Äußerlichkeit  des  Gesellschaftsverbandes  be- 
dingt als  sie  bedingend.  Sonach  wäre  dem  Staate  kein 
anderer  »Vorwurf«  zu  machen  als  der,  daß  er  es  unter- 
lassen, entweder  das  Gebiet  der  Arbeitsteilung  von  dem 
Gebiete  des  Staatsbürgertums  streng  abzuscheiden,  wie 
es  von  den  antiken  Staaten  geschah,  oder  die  Arbeits- 
teilung von  vornherein  in  seine  Hand  zu  nehmen,  d.  h. 
dem  Interesse  der  Freiheit  und  der  Idee  der  Gemeinschaft 
entsprechend  zu  organisieren.  Jene  Abscheidung  aber 
widerspricht  dem  modernen  Rechtsgedanken,  und  die  Or- 
ganisation der  Arbeit  kann  um  so  weniger  vom  Staate 
ausgehen,  je  entschiedener  derselbe  der  Menge  der  In- 
dividuen entgegengesetzt  wird  und  entgegengesetzt  ist. 
Der  Staat  hat  also  unterlassen,  was  er  als  eine  der  Be- 
völkerung gegenüberstehende  Macht  nicht  vermochte, 
und  seine  Tätigkeit  mußte  eben  deshalb  eine  negativ 
regelnde  bleiben,  wobei  anerkannt  werden  muß,  daß  diese 
negative  Regelung,  die  äußerlich  normierende  Tätigkeit 
des  Staates  die  Individuen  an  sich  nur  oberflächlich  be- 
stimmt, also  sie  keineswegs  in  der  Art  zu  vereinseitigen 
vermöchte,  wie  sie  es  durch  die  bestehende  Arbeitstei- 
lung sind,  die  sich,  wie  gesagt,  als  eine  vom  Staat  un- 
abhängige Tatsache  entwickelt  hat.  Ließe  sich  demnach 
der  Gegensatz  des  Staates  gegen  die  Menge  der  Indivi- 
duen überhaupt  nicht  aufheben,  so  bliebe  er  allerdings 
gegen  den  Bestand  und  die  Entwicklung  derjenigen  Tat- 
sache, welche  die  fortgesetzte  Veräußerung  der  Freiheit 
und  Gemeinschaft  ist,  machtlos.  Aber  in  diesem  Falle 
wäre  der  »freie  Staat«  überhaupt  unmöglich,  weil  die 
Aufgabe  der  Restauration,  durch  welche  der  gegenwär- 
tige Charakter  der  Arbeitsteilung  aufgehoben  werden  soll, 
eine  positive  und  praktische,  und  zwar  eine  Aufgabe  der 

59 


Gesamtpraxis  ist,    die   den   politischen  Willen  und 
seine  konsequente  Betätigung  in  Anspruch  nimmt. 

Wir  müssen  also,  um  die  Möglichkeit  der  Freiheit  an- 
nehmen zu  können,  die  Möglichkeit  annehmen,  daß  sich 
der  Gegensatz  des  Staates  und  der  nur  äußerlich  zusam- 
mengehörigen Individuen  stufenweise  vermittelt  und  hebt, 
was  nur  dadurch  geschehen  kann,  daß  sich  wirkliche  Ge- 
meinschaften dem  Staate  entgegengestalten,  und  der  poli- 
tische Wille  durch  seine  konkrete  Auseinandersetzung, 
indem  ihn  also  die  entstehenden  Gemeinschaften  an-  und 
aufnehmen,  zum  faktischen  Allgemeinwillen  wird.  In  die- 
sem Vermittlungsprozesse  bildet  sich  die  Staatsform  not- 
wendig um,  und  der  Staatswille,  der  in  die  Gesellschaft 
eingreift  und  eintritt,  indem  er  ihre  Selbstgestaltung  nor- 
miert, erhält  seinen  Inhalt  —  den  Begriff  des  allgemein 
Notwendigen  —  an  und  aus  den  Gestaltungen,  welche 
das  bewußt  und  frei  gewordene,  von  dem  Zwange 
der  Not  sich  ablösende  Bedürfnis  hervorbringt.  Hierzu, 
d.  h.  um  die  Selbstgestaltung  der  Gesellschaft,  die  als 
zusammenhängende  eine  politische  ist,  einzuleiten,  ist 
allerdings  vor  allen  Dingen  erforderlich,  daß  der  Geist 
der  Gemeinschaft  erzeugt,  die  Entwürdigung,  die  in 
der  Unfreiheit,  der  Individualitätslosigkeit  der  Betäti- 
gung liegt,  zum  Gefühl  und  zum  Bewußtsein  gebracht, 
der  Trieb  der  selbständigen  Gestaltung  geweckt  und  ge- 
nährt wird,  und  wir  haben  von  vornherein  anzuerkennen, 
wie  späterhin  mit  und  nach  Schiller  zu  beweisen,  daß  in 
dieser  Richtung  die  Kunst,  der  Kunstgenuß  und  das 
Spiel  im  weitesten  Sinne,  insofern  es  einen  ästhetischen 
Charakter  erhält,  eine  wesentliche  Wirksamkeit  aus- 
üben können  und  müssen.  Aber  die  Idee,  die  keinen 
Übergang   zur  Wirklichkeit  findet,   der  Trieb,   der  nicht 

60 


zu  ernster  Betätigung  gelangt,  verkümmern  und  sterben 
ab,  und  wie  das  Ideal  notwendig  ist,  um  den  Willen  zu 
bestimmen,  so  kann  es  nur  durch  den  Willen,  der  es  zu 
verwirklichen  strebt  und  den  Widerspruch,  in  dem  es  zu 
den  Zuständen  steht,  Schritt  vor  Schritt  überwindet,  leben- 
dig und  wirksam  erhalten  werden.  Daher  findet  die  Selbst- 
gestaltung der  einzelnen  wie  der  Gesellschaft  nicht  statt, 
wenn  sie  nicht  fortgesetzt  stattfindet,  d.  h.  so  weit 
als  möglich  durchgesetzt,  und  wo  sie  unmittelbar  her- 
gestellt werden  kann,  unmittelbar  hergestellt  wird;  sie 
hat  keine  Zukunft  ohne  Gegenwart,  und  die  Charakter- 
umbildung des  Volkes,  welche  vor  sich  gehen  soll,  ohne 
daß  die  Unfreiheit,  die  in  dem  Zwange  der  Not  und 
in  dem  Gegenüber  des  Staats  und  der  Individuen  ge- 
geben liegt,  tatsächlich  überwunden  würde,  ist  eine  Illu- 
sion. Der  »freie  Staat«  muß  seine  Voraussetzungen  schaf- 
fen, d.  h.  er  ist  insoweit  frei,  als  er  sie  geschaffen  hat 
und  der  pohtische  Wille  innerhalb  der  Gesellschaft 
wirksam  ist.  Deshalb  können  wir  auch  nicht  zugeben, 
daß  die  Kunst  ein  vom  politischen  Willen  schlechthin 
unabhängiger  Faktor  der  Charakterbildung  sein  oder  blei- 
ben soll.  Denn  der  politische  Wille,  sofern  er  auf  die 
Charakterbildung  gerichtet  ist,  muß  die  entsprechende 
Wirkung  der  Kunst  wollen,  ja  er  muß  den  edlen  Ge- 
nuß als  solchen,  d.  h.  ohne  Reflexion  auf  einen  wei- 
teren Zweck  wollen,  die  Kunst  aber,  die  zu  ihren  Wir- 
kungen der  Mittel  bedarf,  verliert  nichts  und  am  aller- 
wenigsten die  nötige  Unabhängigkeit,  wenn  sie  als 
öffentliche  Angelegenheit  betrachtet  und  behandelt  wird, 
sie  nimmt  vielmehr  erst  dann  die  ihr  gebührende  Stel- 
lung ein.  Diese  Stellung  hatte  sie  bei  den  Griechen  — 
wozu  wir  nur  an  das  Theater  Athens  zu  erinnern  brau- 

6i 


chen  —  und  ein  solches  Verhältnis  zum  Staate  hat  mit 
dem  Mäzenatentume  und  »augusteischen  Zeitaltern«  nichts 
zu  tun.  Aber  allerdings  können  wir  nicht  von  der  Kunst 
fordern,  daß  sie  ihre  Unabhängigkeit  dem  behebigen,  d.  h- 
gerade  bestehenden  Staate  preisgibt  und  ihm  zu  dienen 
sucht,  sondern  vielmehr  vom  Staate,  daß  er  sich  zu  der 
Kunst  in  das  rechte  Verhältnis  und  diese  in  ihre  Würde 
einsetzt,  um  ihre  Wirkungen  zu  ermöglichen  und  ihren 
Ausartungen  begegnen  zu  dürfen. 

i6.  Wir  haben  oben  bemerkt,  daß  sich  Fichte,  dessen 
Reden  an  die  deutsche  Nation  das  Gegenstück  der 
Schillerschen  Briefe  abgeben,  gegen  den  Zeitcharakter 
oder  den  Charakter  der  gegenwärtigen  Zivilisation  ebenso 
entschieden  kritisch  verhält  wie  Schiller.  Die  eine  und 
die  andere  Kritik  treffen  darin  zusammen,  daß  sie  gegen 
die  Selbstveräußerung  der  Individualität,  wie  sie  durch 
die  Zivilisation  bedingt  ist,  gerichtet  sind,  und  eine  Bil- 
dung verlangen,  welche  die  Ganzheit  und  Selbstheit  der 
einzelnen  rekonstituiert.  Während  aber  Schiller  die  ein- 
seitige Ausbildung  besonderer  Fähigkeiten  als  Verküm- 
merungsgrund der  Individualität  hervorhebt,  betont  Fichte 
den  Verlust  des  Selbst  in  der  Mannigfaltigkeit  äußerlich 
angebildeter  und  auf  Äußerhches  gerichteter  Bedürfnisse; 
jener  charakterisiert  also  den  Schaden,  welchen  die  Ar- 
beitsteilung als  solche  anrichtet,  dieser  negiert  den  »Vor- 
teil« einer  allseitigen  Befriedigung,  den  sie  gewähren  soll, 
indem  er  ihn  als  einen  sittlichen  Nachteil  kennzeichnet. 
Entsprechend  hat  jener  als  das  Mittel,  um  die  Einseitig- 
keit der  Betätigung  aufzuheben,  den  ästhetischen  Genuß 
und  die  ästhetische  Bildung,  dieser  als  Mittel,  um  die 
Bedürftigkeit  zu  überwinden,  eine  Erziehung  im  Auge, 
welche  zur  Selbstgenügsamkeit  im  Sinne   des   freudigen 

62 


und  stolzen  Entbehrens,  zur  Befriedigung  am  Selbsttun 
und  zum  Bewußtsein  des  Gemeinschaftszweckes  bildet. 
Die  Fichtesche  Erziehung  ist  daher  eine  gemeinsame  im 
strengsten  Sinne  und  eine  unmittelbar  und  einseitig  vom 
Staate  beherrschte  und  geordnete,  also  schlechthin  poli- 
tische, während  Schiller  von. der  faktischen  Gemeinschaft 
durchweg  absieht  und  den  Staat  als  Faktor  der  Erziehung 
ausschließt. 

Schon  aus  diesen  Andeutungen  ist  zu  erkennen,  wie 
sich  der  Schillersche  und  Fichtesche  Gedanke  ergänzen, 
worin  also  die  Einseitigkeit  des  einen  und  des  anderen 
liegt,  und  in  wie  weit  sich  diese  Einseitigkeit  in  der 
Ergänzung  aufhebt.  Schiller  akzentuiert  die  Wirkungen 
der  Kunst  und  des  ästhetischen  Verhaltens,  aus  welchem 
er  die  Kunst  entstehen  und  in  welches  er  den  Kunst- 
genuß auslaufen  läßt,  und  um  dies  so  entschieden  wie 
möglich  zu  tun,  abstrahiert  er  von  der  erziehlichen  Wirk- 
samkeit des  Staates  im  allgemeinen  und  von  der  allgemeinen 
Praxis  der  ausdrücklichen  Erziehung  insbesondere ;  Fichte 
dagegen  gelangt,  indem  er  die  Wirksamkeit  des  politi- 
schen Willens  akzentuiert,  zur  Praxis  der  öffentlichen 
Erziehung,  und  abstrahiert  hierbei  insoweit  von  den  Wir- 
kungen des  Kunstwerks,  als  es  nicht  ein  unmittelbar  und 
selbsttätig  dargestelltes,  sondern  ein  zum  Genüsse  sich 
darbietendes  ist.  Beide  setzen  der  Verderbnis  der  Zivili- 
sation, die  sie  gehoben  wollen,  ein  Ideal  gesunder  und 
wahrhafter  Kultur  entgegen,  dessen  historische,  also  be- 
dingte Wirklichkeit  sie  im  Griechentume  finden,  obgleich 
nur  Schiller  ausdrücklich  auf  dieses  zurückgeht;  das  Schil- 
lersche Ideal  aber  entspricht  mehr  dem  athenischen,  das 
Fichtesche  mehr  dem  spartanischen  Griechentume,  und 
während  Schiller  für  die  moderne  Restauration  der  wahr- 

65 


haften  und  schönen  Kuhur  von  der  Nationalität  absieht, 
stellt  Fichte  seine  Aufgabe  dem  deutschen  Volke,  das  er 
allein  zu  der  schöpferischen  Tat,  die  das  Ideal  in  die 
Wirklichkeit  übersetzt,  befähigt  findet.  Er  will  aber  die 
Verwirklichung  des  Ideals  als  unmittelbare,  als  eine  Tat 
des  politischen  Willens,  welche  mit  der  Vergangenheit 
bricht  und  die  Zukunft  positiv  gestaltet,  indem  sie  diese 
Gestaltung  von  dem  Scheinleben,  das  die  Vergangenheit 
fortsetzt,  und  von  allen  Berührungen  mit  der  Verderb- 
nis der  Zivilisation  abscheidet  und  absondert,  während 
Schiller  die  Verwirklichung  des  Ideals  vermitteln  will, 
aber  an  die  Möglichkeit  glaubt,  daß  die  hierzu  nötige 
Charakterbildung  trotz  dem  Fortbestande  der  Unfreiheit 
und  Gemeinschaftslosigkeit  stattfinden  könne  und  diese 
Möglichkeit  als  Notwendigkeit  setzt.  Damit  hängt  zu- 
sammen, daß  Schiller  von  der  faktischen  und  praktischen 
Gemeinschaft  abstrahiert,  während  Fichte  in  der  durch- 
gesetzten Gemeinschaft  die  positive  Möglichkeit  erkennt, 
das  Selbst  wie  zu  reiner  so  zu  potenzierter  Darstellung 
zu  bringen,  weshalb  er  auch  die  Wirkungen  der  Arbeits- 
teilung nicht  bloß  »ausgleichen«  will  —  eine  Ausglei- 
chung, die  in  dem  ästhetischen  Verhalten  liegt  —  son- 
dern eine  von  dem  Zwecke  der  Gesellschaft  und  von 
der  gegebenen  individuellen  Befähigung  ausgehende 
Arbeitsteilung  verlangt  und  darstellt. 

Hiernach  geht  Fichte  um  vieles  weiter  auf  die  Praxis 
ein,  als  Schiller;  sein  Ideal  umfaßt  die  Existenz  der 
Gesellschaft,  sein  Staat  ist  die  durchgreifende  Form  dieser 
Existenz,  seine  Erziehung  die  direkte  Restauration  eines 
für  die  Freiheit  und  Gemeinschaft  befähigten  Geschlechtes, 
während  Schiller  der  Philosophie  und  der  Kunst  — 
welche    letztere    er  als    die   Vermittlerin    zwischen    dem 


04 


philosophischen  Gedanken  und  dem  unmittelbaren  Be- 
dürfnis, welches  die  Empfänglichkeit  für  die  Idee  ver- 
deckt, darstellt  —  die  Aufgabe  zuweist,  auf  Geist  und 
Gesinnung  der  Zeitgenossen  fortgesetzt  einzuwirken, 
um  zunächst  den  Genuß  zu  veredeln,  weiterhin  aber 
die  Charakterumbildung,  die  auf  diesem,  dem  theoretischen 
Wege  erzielt  werden  soll,  als  einen  unter  der  Herrschaft 
des  »barbarischen«  Staates  und  bei  der  Fortdauer  der 
Bedürfnisarbeit  möglichen  und  notwendigen  Vorgang  faßt, 
und  endlich  die  Gebiete  des  physischen,  ästhetischen 
und  morahschen  Verhaltens  auch  da,  wo  die  Freiheit 
möglich  und  wirklich  geworden  ist,  in  einer  Geschieden- 
heit denkt,  bei  welcher  das  Mittelgebiet  des  ästhetischen 
Verhaltens  das  der  faktischen  Freiheit  bleibt.  Aber  Fichte 
stellt  seine  praktischen  Postulate  als  Philosoph  dar,  und 
zwar  nicht  als  Geschichtsphilosoph:  er  setzt  die  Zukunft, 
die  er  will,  der  Vergangenheit,  die  er  nicht  will,  unver- 
mittelt gegenüber;  Schiller  nimmt  für  die  Wirklichkeit 
seines  Ideals  die  allmählich  entwickelte  Fähigkeit,  es  dar- 
zustellen, also  eine  historische  Vermittlung  in  An- 
spruch, obgleich  er  diese  abstrakt,  als  eine  von  den  histo- 
rischen Ereignissen  und  Taten  wie  von  dem  »mate- 
riellen Fortschritte«  unabhängige  faßt.  Hieraus  folgt,  daß 
bei  Schiller,  welcher  Geschichtschreiber  und  Geschichts- 
darsteller war,  die  pragmatische  und  die  geschichts- 
philosophische  Auffassung  der  Geschichte  nicht  zur 
Einheit  gebracht  sind,  sondern  eine  gewisse  Geschieden- 
heit behaupten,  weshalb  jener  die  Zusammenfassung, 
dieser  die  Auseinandersetzung  fehlt,  und  die  geschicht- 
liche Freiheit  zu  der  geschichtlichen  Notwendigkeit  in 
kein  Verhältnis  gesetzt  ist,  —  obgleich  sich  hierzu  in  den 
Dramen  Schillers  Ansätze  finden,  und  der  letzte  und  ent- 

Deinhardt,  Schiller,     c 

65 


schiedenste  in  der  Braut  von  Messina  —  während  Fichte 
den  Begriff  der  Geschichte  in  dem  des  ausdrücklichen 
historischen  Willens,  den  er  nur  als  schwachen  und 
starken,  als  beschränkten  und  durchgreifenden,  als  se- 
kundären und  primären  unterscheidet,  aufgehen  läßt,  also 
die  Verwandtschaft  des  Geschichtsprozesses  mit  dem  Na- 
turprozesse, die  Kohärenz  des  geschichtlichen  Seins,  die 
Bedeutung  der  gegebenen  Zuständlichkeit  und  selbst  die 
praktische  Notwendigkeit  historischer  Vermittlungen  ne- 
giert. So  weit  seine  Geschichtsphilosophie  reicht, 
weist  Schiller  die  Vergleichung  zwischen  der  Folge  histo- 
rischer Zustände  und  den  Abstufungen  des  Naturseins 
nicht  ab,  und  liebt  es,  die  menschheitliche  mit  der  in- 
dividuellen Entwicklung  in  Parallele  zu  setzen,  also  jene 
unter  anthropologische  —  das  Wort  im  engeren  Sinne 
genommen  —  und  zwar  unter  vorherrschend  psycho- 
logische Gesichtspunkte  zu  bringen,  eine  Neigung,  wel- 
cher wir  auch  in  den  Briefen  schon  bisher  begegnet 
sind  und  weiter  begegnen  werden;  mit  dieser  Betrach- 
tungsweise aber  verlegt  er,  so  weit  sie  festgehalten  ist, 
den  Spielraum  des  historischen  Willens  auf  die  Ober- 
fläche der  Geschichte,  und  will  dann  weiterhin  die  damit 
ausgesprochene  Oberflächlichkeit  durch  den  Umsatz 
des  politischen  in  den  pädagogischen  Willen  auf- 
gehoben, aber  so,  daß  dieser  Umsatz  zugleich  die  ent- 
schiedene Ablösung  ist,  daß  also  der  pädagogische  Wille 
als  unpolitischer  in  Wirksamkeit  tritt.  Dagegen  wird 
von  Fichte  der  politische  in  den  pädagogischen  Willen 
derartig  umgesetzt,  daß  sich  der  Charakter  des  ersteren 
nicht  nur  behauptet,  sondern  durchsetzt,  insofern  er  dar- 
auf ausgeht,  das  Gegenüber  des  Staates  und  der  Ein- 
zelnen oder  der  Gesellschaft,  welche  die  Gesamtheit  der 

66 


Einzelnen  ist,  durch  eine  unmittelbare,  positive  und  durch- 
greifende Neugestaltung  aufzuheben  —  eine  Neuge- 
staltung, für  welche  die  aufwachsende  Generation  das 
»Material«  abgeben  und  von  welcher  die  das  in  der 
gegenwärtigen  Zivilisation  stehende  und  durch  sie  ver- 
derbte Geschlecht  aus-  und  abgeschieden  werden  soll. 
Daß  dieser  praktische  Wille  im  Sinne  der  unmittel- 
baren Praxis  der  gegebenen  Gegenwart  unpraktisch 
ist,  d.  h.  der  Bedingtheit  der  historischen  Praxis 
widerstreitet  und  eine  praktisch  unmögliche  Abstraktion 
von  dem  Bestände  der  Gesellschaft  fordert,  ist  leicht 
zu  begreifen,  und  zwar  so  leicht,  daß  sich  Fichte  die 
Bewußtlosigkeit  darüber  nicht  zutrauen  läßt.  Das,  worauf 
es  ihm  ankam,  war  eben  der  reine  Ausdruck  einer  Not- 
wendigkeit, die  allerdings  besteht,  weil  sie  im  Begriff 
der  öffentlichen  Erziehung  an  sich  liegt.  Denn  diese  ist 
ohne  ein  Gesellschaftsideal,  zu  dessen  Verwirklichung  die 
aufwachsende  Generation  befähigt  werden  soll,  prinzip- 
und  zwecklos,  die  als  Zweck  gesetzte  Befähigung  aber 
kann  nur  durch  die  unmittelbare  Darstellung  des  Ge- 
sellschaftsideals im  Umkreise  der  Erziehung,  so 
weit  eine  solche  eben  möglich  ist,  erreicht  werden,  und 
diese  vorläufige  Darstellung  der  Gesellschaft  ist  ohne 
eine  gewisse  Absonderung  derselben  —  die  gerade 
so  weit  gehen  muß,  als  sie  notwendig  ist  —  nicht 
denkbar. 

Daher  sind  die  Postulate  Fichtes  für  die  öffentliche 
oder  allgemeine,  die  Nationalerziehung  als  im  Begriff  der 
Sache  liegende  vollberechtigt  und  nichts  weniger  als  un- 
praktisch, sofern  die  allgemeine  Erziehung  als  in  sich 
zusammenhängende  überhaupt  möglich  und  die  Ver- 
mittlung jedes   praktischen  Gedankens   mit  den   ge- 

67 


gebenen  Zuständen  und  Verhältnissen  notwendig  ist. 
Fichte  sah  von  dieser  Vermittlung  als  philosophischer 
Darsteller  ab,  wozu  er  in  seinem  Recht  war,  obgleich 
allerdings  nicht  zu  leugnen  ist,  daß  er  sich  schon  als 
Philosoph  gegen  den  Begriff  der  historischen  Entwick- 
lung abstrakt  verhielt,  und  daß  eben  deshalb  das  Ideal, 
dessen  Verwirklichung  er  sich  jedenfalls  —  zwar  nicht 
als  eine  zeitlich  unmittelbare  —  aber  doch  als  eine 
der  einfachen  Willenskonsequenz  mögliche  dachte, 
in  sich  selbst  ein  einseitiges  sein  muß.  Indem  er  wie  die 
Gestaltlosigkeit  so  die  Gestaltungen  der  zivilisierten  Ge- 
sellschaft als  Produkt  der  Bewußtlosigkeit  auf  der  einen, 
der  Selbstsucht,  also  der  entarteten  Selbstheit  auf  der 
anderen  Seite  schlechthin  negiert,  kann  er  der  Freiheit 
der  unmittelbaren  Selbstgestaltung,  |des  historischen  Wer- 
dens, welches  für  die  befreiende  und  einigende  Wirk- 
samkeit des  politischen  Willens  die  notwendige  Voraus- 
setzung ist,  nicht  gerecht  werden:  er  schneidet  mit  der 
Zufälligkeit  konkreter  Vereinigungen,  um  der  Bewußt- 
losigkeit, der  Selbstsucht  und  der  willkürlichen  Abson- 
derung keinen  Raum  zu  lassen,  die  Entfaltungsfähigkeit 
der  Gesellschaft  ab,  und  beschränkt  entsprechend,  indem 
er  das  Verderben  der  Zivilisation  in  der  Mannigfaltig- 
keit der  Bedürfnisse  und  Befriedigungsmittel  sieht  und 
die  Möglichkeit  der  Selbstveräußerung  aufheben  will,  die 
Entfaltungsfähigkeit  des  Individuums.  Dagegen  verlangt 
Schiller,  indem  er  dem  politischen  Willen  das  schöpfe- 
risch gestaltende  Vermögen  abspricht,  die  Freiwilligkeit 
der  Vereinigung,  obgleich  er  mit  diesem  Verlangen  über 
den  ästhetischen  Staat  im  Staate  nicht  hinauskommt,  und 
macht,  während  Fichte  die  Grenzen  der  notwendigen 
Befriedigung  und  Betätigung  von  vornherein  setzen  will 

68 


und  deshalb  bei  der  Notdurft  stehen  bleibt,  den  Über- 
fluß, und  zwar  zunächst  den  Überfluß  des  Stoffes,  so- 
dann aber  die  überflüssige  Betätigung,  zur  Voraussetzung 
der  Freiheit,  weil  zur  Voraussetzung  des  ästhetischen 
Verhaltens.  Wir  kommen  auf  diesen  Punkt,  also  auf  den 
Begriff^  des  von  Fichte  negierten,  von  Schiller  geforderten 
Luxus  zurück,  da  Schiller  auf  denselben  ziemlich  weit- 
läufig eingeht,  und  seine  kritische  Bestimmung  für  die 
Nationalökonomie  und  die  soziale  Pädagogik  wie  für  die 
Ästhetik  gleich  unerläßlich  ist.  Indessen  haben  wir  schon 
jetzt  zu  bemerken,  daß  Schiller  auf  die  Möglichkeit,  d.  h. 
auf  die  Bedingungen  des  von  ihm  verlangten  Über- 
flusses nicht  eingeht,  und  daß  er,  wenn  er  darauf  ein- 
ginge, seine  Forderung  insoweit  zurücknehmen  müßte, 
als  seine  Kritik  der  gegenwärtigen  Zivilisation  berech- 
tigt ist.  Fichte  und  Schiller  ergänzen  sich  in  Bezug 
auf  diesen  Punkt  wie  überhaupt  mittels  ihrer  Einseitig- 
keit, d.  h.  sie  stellen  einen  Gegensatz  dar,  der  lösbar 
ist,  aber  ausdrücklich,  und  zwar  durch  die  positive  Fort- 
führung des  ihnen  gemeinsamen  Gedankens  gelöst  wer- 
den muß. 

17.  Indem  Schiller  darauf  zurückkommt,  daß  »das 
jetzige  Zeitalter,  weit  entfernt,  uns  diejenige  Form  der 
Menschheit  aufzuweisen,  welche  als  notwendige  Be- 
dingung einer  moralischen  Staatsverbesserung  erkannt 
worden  ist,  vielmehr  das  direkte  Gegenteil  davon  zeige«, 
erklärt  er  »jeden  Versuch  einer  solchen  Staatsverände- 
rung so  lange  für  unzeitig  und  jede  darauf  gegründete 
Hofi"nung  so  lange  für  chimärisch,  bis  die  Trennung  in 
dem  inneren  Menschen  wieder  aufgehoben  und  seine 
Natur  vollständig  genug  entwickelt  ist,  um  selbst  die 
Künstlerin   zu   sein   und   der  politischen  Schöpfung   der 

69 


Vernunft  ihre  Realität  zu  verbürgen«.  Hierzu  muß  einer- 
seits der  »Konflikt  der  Triebe  beruhigt«,  andrerseits  »die 
Selbständigkeit  des  Charakters  gesichert  sein«,  jenes, 
um  die  Mannigfaltigkeit,  dieses,  um  die  Einheit  zulässig 
zu  machen.  Denn  »wo  der  Naturmensch  seine  Willkür 
noch  gesetzlos  mißbraucht,  da  darf  man  ihm  die  Frei- 
heit kaum  zeigen;  wo  der  künstliche  Mensch  seine  Frei- 
heit noch  so  wenig  gebraucht,  da  darf  man  ihm  seine 
Willkür  nicht  nehmen.  Das  Geschenk  liberaler  Grund- 
sätze wird  Verräterei  an  dem  Ganzen,  wenn  es  sich  zu 
einer  noch  gärenden  Kraft  gesellt  und  einer  schon  über- 
mächtigen Natur  Verstärkung  zusendet;  das  Gesetz  der 
Übereinstimmung  wird  Tyrannei  gegen  das  Individuum, 
wenn  es  sich  mit  einer  schon  herrschenden  Schwäche 
und  physischen  Beschränkung  verknüpft  und  so  den 
letzten  glimmenden  Funken  von  Selbsttätigkeit  und  Eigen- 
tümlichkeit auslöscht«.  Wir  haben  uns  über  die  dua- 
listische Gegenüberstellung  der  niederen  und  höheren 
Klassen,  die  auch  hier  wieder  hervortritt,  schon  ausge- 
sprochen; abgesehen  indessen  von  den  Einwendungen, 
die  sich  gegen  die  faktische  Richtigkeit  des  Gegensatzes 
machen  lassen  und  gemacht  werden  müssen,  wäre  die 
Aufgabe  des  Staates  ihm  gegenüber  die  Ausgleichung, 
und  es  ist  klar,  daß  er  zum  Zwecke  einer  solchen  die 
verschiedenen  Klassen  ungleich  behandeln,  nämlich  bei 
den  einen  die  Willkür,  zu  deren  Unterdrückung  das  bis- 
herige Gesetz  nicht  genügte,  noch  strenger  beschränken, 
bei  den  anderen  aber  entbinden  müßte,  und  da  er  dies 
nicht  kann,  ohne  den  Gegensatz,  den  er  ausgleichen  will^ 
zu  einem  gefährlichen  Bewußtsein  zu  bringen  und  durch 
das  Mittel  mit  dem  Zwecke  in  Widerspruch  zu  treten, 
so  läge  allerdings  schon  hierin  der  Beweis,   daß  er  un- 

70 


fähig  ist,  die  Voraussetzung  seiner  höheren  Form,  des 
»Vernunftstaates«,  zu  verwirklichen.  Aber  dieser  Beweis 
ginge  offenbar  über  sein  Ziel  hinaus,  insofern  er  die 
Aufgabe  der  Ausgleichung  festgehalten  und  einem  vom 
Staate  unabhängigen  Faktor  übertragen  wissen  will.  Denn 
erstens  könnte  dieser  Faktor  als  vom  Staate  unabhängiger 
und  abgelöster  die  faktische  Freiheit  weder  nehmen  noch 
geben,  weder  beschränken  noch  ausdehnen,  also  nur  die 
Tendenz  der  gesetzmäßigen  Freiheit  erzeugen,  eine  Ten- 
denz, welche  entweder  in  das  Genügen  an  der  ideellen 
Befriedigung,  also  in  die  Resignation  auslaufen  oder  sich 
gegen  den  Staat  kehren  und  in  das  Verlangen  der  Staats- 
änderung umsetzen  müßte,  so  daß  im  ersteren  Falle  der 
politische  Wille  nicht  gebildet,  im  zweiten  »verfrüht« 
entwickelt  würde.  Zweitens  müßte  die  Wirksamkeit  des- 
selben Faktors  eine  doppelte  und  verschiedenartige  sein, 
gerade  wie  die  des  Staates,  und  zwar  hätte  er  bei  den 
»niederen«  Klassen  die  Tendenz  zur  Gesetzmäßigkeit,  bei 
den  höheren  die  zur  Freiheit,  d.  h.  hier  zur  Natürlich- 
keit zu  entwickeln,  so  daß  es,  wenn  der  unabhängig 
eintretende  Faktor  die  Kunst  sein  soll,  eine  besondere 
Kunst  für  die  niederen  und  eine  andere  für  die  höheren 
Klassen  geben  müßte,  womit  der  Dualismus,  welcher 
ausgeglichen  werden  soll,  zunächst  verschärft  und  die 
Teilnahme  an  demselben  Genüsse,  in  welcher  eine 
unmittelbare  und  sich  von  selbst  fortsetzende  Ausglei- 
chung liegt,  welche  die  natürliche  gegenüber  der  künst- 
lichen ist,  ausgeschlossen  wäre  —  ein  Einwand  gegen 
den  Erfolg,  den  der  Briefsteller  späterhin  allerdings,  in- 
dem er  auf  die  Wirkung  der  Schönheit  eingeht,  indirekt 
berücksichtigt,  aber  ohne  ihn  zu  lösen,  da  er  nur  die 
ideelle  Einheit,  nicht  die  tatsächliche  Gleichzeitigkeit  der 

71 


schmelzenden  und  anspannenden  Schönheitswirkung  be- 
haupten will.  Drittens  endlich  ist  es  jedenfalls  schwer, 
in  dem  Menschen  und  in  den  Klassen,  welche  ihre  na- 
türlichen Triebe  durch  den  Staat  eingeengt  fühlen,  das 
Bedürfnis  der  Gesetzmäßigkeit,  in  dem  »künstlichen« 
Menschen  oder  in  den  Klassen,  welche  die  Beschränkung 
der  Triebe  infolge  ihrer  Abschwächung  nicht  fühlen, 
das  Bedürfnis  der  Freiheit  durch  die  Stärkung  der  Triebe 
hervorzurufen ;  diese  Schwierigkeit  aber  wird  erhöht,  wenn 
zu  dem  Zwange  des  Staats  der  Zwang  der  Not,  welche 
die  »natürlichsten«  Bedürfnisse  immer  wach  erhält,  wäh- 
rend sie  die  Arbeit  zu  einer  periodisch  angelegten  Fessel 
macht,  und  zu  der  Schwäche  der  Triebe  der  Überfluß 
der  Befriedigungsmittel  kommt,  der  das  Bedürfnis  durch 
Überreizung  erschöpft.  Denn  der  nur  beschwichtigte  Trieb 
bedingt  das  Verlangen  nach  Ausschweifung,  die  Gebun- 
denheit der  Kraft  das  Verlangen  nach  willkürlicher  Be- 
tätigung, während  die  Schwäche,  welche  sich  die  gege- 
benen Lebensnormen  aus  Bequemlichkeit  gefallen  läßt,  mit 
dem  Überflusse  nicht  spielt,  sondern  durch  ihn  immer 
tiefer  in  die  Passivität,  welche  das  Verlangen  von  außen 
bestimmt  will,  hinabgedrückt  wird.  Aber  der  Zwang  der 
Not  und  der  Überfluß  der  Befriedigungsmittel  sind  nicht 
als  ein  »Hinzukommendes«,  sondern  vielmehr,  so  weit 
in  der  Tat  die  niederen  Klassen  die  -Stärke  des  Natur- 
triebs und  der  Naturkraft,  die  höheren  ihre  Schwäche 
darstellen,  als  der  Grund  dieser  Tatsache  anzusehen,  weil 
die  Beschränkung  auf  das  Notwendige,  so  weit  sie  nicht 
zur  erschöpfenden  Not  wird.  Trieb  und  Kraft  zusammen- 
hält, der  Überfluß,  so  weit  er  nicht  Trieb  und  Kraft  in 
natürlicher  Richtung  zum  Übermaße  steigert,  sie  im  Raf- 
finement des  Genusses  sich  verzehren  läßt. 


72 


Hiernach  hätte  der  vom  Staate  unabhängig  wirkende 
Faktor,  der  zur  gesetzmäßigen  Freiheit  und  zur  freien 
Gesetzmäßigkeit  befähigen  soll,  um  die  Tendenz  zu  der- 
selben zu  erzeugen,  worauf  sich  seine  Wirksamkeit  be- 
schränken würde,  vorerst  die  entgegengesetzten  Ten- 
denzen, die  sich  aus  den  Zuständen  ergeben,  aufzu- 
heben, ohne  diese  Zustände  ändern  zu  können;  er  hätte 
für  eine  Befriedigung  zu  gewinnen,  zu  welcher  die  Fähig- 
keit einerseits  noch  nicht  entwickelt,  andrerseits  erdrückt 
und  blasiert  ist,  ohne  ein  anderes  Mittel  als  die  Gewäh- 
rung eines  Genusses,  der  verschmäht  werden  kann  und 
verschmäht  werden  muß;  er  hätte  seine  Wirksamkeit  dem 
unterschiedenen  objektiven  Bedürfnisse  gemäß  im  Wider- 
spruche gegen  die  innere  Bedingtheit  seiner  Leistungen 
zu  teilen,  wie  es  die  entartete  Kunst  tut,  welche  den 
wechselnden  und  verschiedenartigen  subjektiven  Bedürf- 
nissen entgegenkommt,  und  hierbei  die  Wirkungen  dieser 
Kunst  zurückzudrängen  und  aufzuheben,  also  mit  seiner 
eigenen  Entartung  zu  kämpfen.  Diese  Schwierigkeiten, 
welche  die  Unmöglichkeit  der  Aufgabe  begründen,  sofern 
die  Charakteristik  des  Zeitalters,  welche  der  Briefsteller 
gibt,  eine  entschieden  und  unbedingt  richtige  ist,  wer- 
den zwar  weiterhin  teilweise  berührt  und  anerkannt, 
aber  von  einem  so  erhabenen  Standpunkte,  daß  sie  als 
von  selbst  verschwindende  erscheinen,  obgleich  sie  in 
der  Tat  nur  durch  die  Konsequenz  des  wirklichen  Wil- 
lens, der  als  einseitig  ästhetischer  gar  nicht  denkbar  ist, 
überwunden  werden  können.  Die  Einheit  des  ästheti- 
schen, pädagogischen  und  politischen  Willens  ist  für  die 
Verwirklichung  der  wahrhaften  Kultur  in  und  aus  der 
ZiviHsation  eine  Notwendigkeit,  die  Fichte  energisch  er- 
faßt und  ausgesprochen  hat,  ohne  jedoch  dem  Begriff  des 

1} 


Ästhetischen  und  der  Notwendigkeit  ästhetischer  Wir- 
kungen und  ästhetischer  Gestaltung  gerecht  zu  werden. 
Diese  Einheit  aber  würde  ebenso  wie  die  umbildende 
Wirksamkeit  der  Kunst  als  solcher  ein  bloßes  Postulat 
bleiben,  wenn  nicht  die  gegenwärtige  Zivilisation  den 
Trieb  der  Neubildung  in  sich  trüge  und  ihm  entspre- 
chende Lebenselemente  enthielte;  Kräfte,  welche  sie  ge- 
weckt hat,  ohne  sie  zu  zersplittern  und  aufzuzehren,  und 
ein  Material  von  Arbeits-  und  Bildungsmitteln,  welches 
für  die  Gestaltung  der  freien  Gemeinschaft  nicht  nur 
brauchbar,  sondern  notwendig  ist.  Beispielsweise  ist  zwar 
die  heutige  Naturwissenschaft  zum  großen  Teil  in  einem 
materialistischen  Seziereifer,  den  die  Arbeitsteilung  auf 
diesem  Gebiete  begünstigt,  aufgegangen  und  einem  Utili- 
tarismus,  der  die  wesentlichen  Bedürfnisse  des  Menschen 
aus  den  Augen  verliert,  dienstbar  geworden,  aber  den- 
noch läßt  sich  in  ihren  Bestrebungen  und  Leistungen 
ein  ästhetischer  Zug  zur  Natur  und  Natürlichkeit  nicht 
übersehen,  während  sie  zugleich  eine  Herrschaft  über  die 
Natur  begründet,  welche  als  Basis  einer  höheren  Kultur 
unerläßlich  ist,  obgleich  sie  zu  einer  solchen  nur  dann 
wird,  wenn  die  auf  die  nächste  Bedürfnisbefriedigung 
gierig  und  bewußtlos  gerichtete,  von  sozialen  und  ästhe- 
tischen Gesichtspunkten  abgelöste  Ausbeutungssucht,  die 
das  soziale  oder  vielmehr  antisoziale  Ausbeutungssystem 
im  Bereiche  der  Naturbenutzung  beginnt  und  fortsetzt, 
zurücktritt,  d.  h.  durch  die  soziale  Arbeitsgestaltung 
überwunden  wird.  So  dient  auch  das  von  der  Gegen- 
wart herausgebildete  Maschinenwesen  —  der  Stolz  des 
Jahrhunderts  —  vorläufig  und  tatsächlich  keineswegs 
dazu,  die  Arbeit  des  Menschen  zu  entmechanisieren,  ob- 
gleich dies  oft  genug  behauptet  wird,  vielmehr  setzt  sich 

74 


mittels  desselben  die  mechanische  Arbeitsteilung  und  die 
Entwertung  der  Arbeitskräfte  durch,  aber  dieses  tatsächliche 
Resultat  ist  keineswegs  das  notwendige,  und  die  Bestim- 
mung der  Maschinen,  die  sich  zunächst  verkehrt,  aller- 
dings die,  der  menschlichen  Arbeit  einen  freieren  Spiel- 
raum zu  schaffen  und  in  gewisser  Weise  den  Sklaven- 
dienst, der  bisher  nur  seine  Form  verändert  hat,  zu 
ersetzen. 

i8.  In  der  früheren  Behauptung  Schillers,  daß  in  der 
zivilisierten  Arbeitsteilung  die  Gattung  gewonnen,  das 
Individuum  aber  verloren  habe,  ist  die  moderne  Zivili- 
sation als  eine  Übergangsstufe  anerkannt  und  als  die 
Aufgabe  der  Zukunft  ausgesprochen,  den  Gewinn  der 
Gattung,  der  allerdings  zum  Teil  schon  an  sich  nur 
Scheingewinn  ist,  zum  Gewinn  der  Individuen  zu  ma- 
chen. Dennoch  spricht  Schiller  dem  Zeitalter  die  poli- 
tische Fähigkeit  auf  Jahrhunderte  ab  und  verlangt  sie 
durch  die  ästhetische  Fähigkeit  begründet,  während  Fichte, 
welcher  die  Berechtigung  der  modernen  ZiviHsation  einsei- 
tiger und  entschiedener  negiert,  den  politischen  und  päda- 
gogischen Willen  unmittelbar  in  Anspruch  nimmt,  ohne 
seinerseits  ihr  Vorhandensein  voraussetzen  zu  können, 
ein  Widerspruch,  über  den  er  dadurch  hinauszukommen 
sucht,  daß  er  die  Zivilisation,  wie  sie  ist,  als  eine  dem 
Wesen  des  deutschen  Volkes  äußerliche  und  fremd- 
artige, dieses  Wesen  aber  als  ein  nur  zurückgedrängtes 
und  verdecktes,  also  nur  der  Befreiung  bedürftiges  be- 
trachtet. Diese  Anschauungsweise  dürfen  wir  allerdings 
nicht  schlechthin  unberechtigt  finden,  müssen  vielmehr 
anerkennen  und  hervorheben,  daß  das  deutsche  Volk,  um 
der  Träger  der  Kultur  zu  sein,  wozu  es  bestimmt  ist, 
seine  Originalität  wieder   zu   gewinnen  und   geltend 

75 


zu  machen,  also  sich  von  der  Nachahmungssucht,  mit 
der  es  das  Fremde  annimmt  und  den  »Fortschritt«  auf 
den  betretenen  Wegen  sucht,  gründlich  befreien  muß. 
Aber  wie  es  offenbar  einseitig  ist,  die  moderne  ZiviHsa- 
tion  als  eine  für  das  deutsche  Volk  durchaus  fremdartige, 
ihm  oktroyierte  oder  von  ihm  angenommene  anzusehen, 
folgUch  ihm  die  Teilnahme  an  der  Entwicklung  und  Aus- 
prägung derselben  abzusprechen,  so  kann  einem  inner- 
lich gebliebenen  Wesen,  wie  es  das  deutsche  sein 
soll,  nur  ein  unbestimmtes  Vermögen,  es  können  ihm 
aber  nicht  bestimmte  Fähigkeiten  zugesprochen  werden, 
wie  sie  Fichte  zur  praktischen  Darstellung  seines  Staats- 
und Erziehungideales  beanspruchen  muß.  Dagegen  hätte 
Schiller,  da  er  in  der  Zivihsation  einen  Gewinn  für  die 
Gattung  erwachsen  sieht,  der  doch  unmöglich  ein  den 
Individuen  schlechthin  jenseitiger  geblieben  sein  kann, 
das  Vorhandensein  der  politischen  und  pädagogischen 
wie  der  ästhetischen  Fähigkeit  bis  zu  einem  gewissen 
Grade  voraussetzen  können;  ;er  tut  es  aber  nicht,  weil 
es  ihm  darauf  ankommt,  die  Kunst  als  den  eigentlichen 
und  einzigen  Faktor  für  die  Restauration  des  Menschen- 
tums, die  Herstellung  der  Individuahtät  zu  erklären, 
also  die  Mitwirkung  der  unästhetischen  Zustandsfaktoren 
abzuweisen  und  für  die  historische  Wirksamkeit  der  Kunst 
die  höchste  Freiheit,  die  Erhabenheit  über  zeitliche  wie 
über  moralische  Zwecke  zu  beanspruchen,  d.  h.  nach- 
dem er  ihren  Zweck  gesetzt  hat,  ihre  Zwecklosigkeit  als 
notwendig  zu  behaupten.  Seine  Absicht  ist,  die  geschicht- 
liche Aufgabe  der  Kunst,  also  auch  ihr  Verhältnis  zum 
Staate  festzustellen,  aber  für  dieses  Verhältnis  ihre  Un- 
abhängigkeit in  Anspruch  zu  nehmen,  und  ihr  Gebiet 
als  das  des  ruhigen  Schaffens  gegen  die  Unruhe  der  Zeit, 

76 


den  Wechsel  der  Tagesinteressen  und  das  Wogen  der 
politischen  Bewegung  abzugrenzen.  Dieser  Absicht  ent- 
spricht, bedingt  und  bedingend,  die  Resignation,  mit 
welcher  er  den  politischen  Veränderungen  der  Zukunft 
entgegensieht  und  ihren  Verlauf  formuliert,  während 
Fichte,  von  dieser  Resignation  weit  entfernt,  eine  ent- 
scheidende Bewegung  hofft  und  seinerseits  —  durch  die 
Tat  des  Wortes  —  hervorrufen  will. 

Nach  Schiller  wird  »mehr  als  ein  Jahrhundert«  ver- 
gehen, ehe  sich  »der  Charakter  der  Zeit  von  seiner  tiefen 
Entwürdigung  aufrichtet,  dort  der  blinden  Gewalt  der 
Natur  entzieht  und  hier  zu  ihrer  Einfalt,  Wahrheit  und 
Fülle  zurückkehrt«,  wie  es  für  die  Möglichkeit  und  den 
Bestand  eines  freien  Staatswesens  die  unerläßliche  Vor- 
aussetzung ist.  Unterdessen  wird  die  politische  Bewe- 
gung auf  einen  resultatlosen  ^Wechsel,  den  die  entschie- 
dene Despotie  schließt,  hinauslaufen.  »Von  der  Freiheit 
erschreckt,  die  in  ihren  ersten  Versuchen  sich  immer  als 
Feindin  ankündigt,  wird  man  dort  sich  einer  bequemen 
Knechtschaft  in  die  Arme  werfen,  und  hier,  von  einer 
pedantischen  Kuratel  zur  Verzweiflung  gebracht,  in  die 
wilde  Ungebundenheit  des  Naturzustandes  entspringen. 
Die  Usurpation  wird  sich  auf  die  Schwachheit  der  mensch- 
lichen Natur,  die  Insurrektion  auf  die  Würde  derselben 
berufen,  bis  endlich  die  große  Beherrscherin  aller  mensch- 
lichen Dinge,  die  blinde  Stärke,  dazwischen  tritt,  und 
den  vergeblichen  Streit  der  Prinzipien  wie  einen  ge- 
meinen Faustkampf  entscheidet«.  Was  aber  dann,  wenn 
der  durch  blind  gehorchende  Massen  und  gewissenlose 
Schlauheit  —  denn  diese  ist  ein  unentbehrlicher  Faktor 
für  die  Begründung  der  Gewaltherrschaft  —  übermäch- 
tige   Despotismus    »Ruhe    geschafft    hat«  ?    Diese    Ruhe 

77 


könnte  unmöglich  eine  dauernde  sein,  wenn  bis  dahin 
der  Prozeß  der  Charakterumbildung  trotz  der  politischen 
Bewegungen  und  Wandlungen  vorgeschritten  wäre;  hätte 
dies  aber  nicht  stattgefunden,  so  läßt  sich  unmöglich 
annehmen,  daß  unter  der  Herrschaft  der  rohen  und  raf- 
finierten Gewalt  und  bei  der  Ruhe,  welche  durch  sie 
geschaffen  wäre,  eine  zuvor  gehemmte  Entwicklung  Platz 
greifen  würde.  Sonach  würde,  wenn  die  politische  Be- 
wegung in  der  Tat  eine  zweck-  und  resultatlose  wäre, 
und  durch '  das  Eintreten  der  Gewalt  beendet  werden 
müßte,  nach  Ablauf  des  »Jahrhunderts«  die  Möglichkeit 
eines  freien  Staatswesens  nicht  näher,  sondern  ferner  ge- 
rückt sein.  Dies  gilt  auch  für  den  Fall,  daß  unter  dem 
Siege  der  »blinden  Stärke«  nicht  der  Sieg  des  Despo- 
tismus mittels  blind  folgender  Massen,  sondern  der 
Sieg  dieser  Massen  als  solcher,  d.  h.  als  entbundener 
zu  verstehen  wäre,  da  eine  solche  »Entscheidung«  nur 
der  Anfang  chaotischer  Kämpfe  sein  könnte  und  diese 
wiederum  im  Despotismus  ihr  Ende  finden  müßten.  So- 
nach bleibt  das  voraussichtliche  Ende  die  starre  Ruhe 
des  Despotismus,  mit  welcher  die  Geschichte  und  ihre 
Bildungen  mehr  als  bloß  »vertagt«  sind,  oder  es  handelt 
sich  bloß  um  eine  Ruhepause,  welche  neue  und  här- 
tere, aber  entscheidende  Kämpfe  einleiten,  und  zwar 
deshalb  einleiten  müßte,  weil  sie  die  Position  des  äußer- 
sten Gegensatzes  zwischen  dem  politischen  Zustande 
und  der  politischen  Fähigkeit  wäre,  und  weil,  wenn 
dieser  Gegensatz  in  der  Tat  vorhanden  ist,  der  Kampf, 
zu  welchem  sich  die  entgegengesetzten  Kräfte  in  der 
Zwischenzeit  der  Ruhe  spannen,  nur  mit  dem  vollstän- 
digen Siege  der  einen  oder  der  anderen  Macht,  des  or- 
ganisierten   Despotismus   oder   des   organisierten  Volkes 

78 


endigen  könnte.  Die  Notwendigkeit  des  Befreiungskamp- 
fes ist  demnach  in  keiner  Weise  zu  umgehen,  und  die 
Vorstellung,  daß  sich  der  Übergang  zu  dem  freien  Staats- 
wesen, nachdem  die  Befähigung  zu  demselben  durch 
einen  relativ  innerhchen,  also  unpolitischen  Umwand- 
lungsprozeß hergestellt  sei,  »von  selbst«  machen  werde, 
eine  Illusion. 

Wollen  wir  an  die  Zukunft  der  Freiheit  glauben,  so 
müssen  wir  zunächst  annehmen,  daß  die  politische  Fähig- 
keit sich  trotz  der  politischen  Bewegung  entwickelt  — 
weil  ohnedem  der  endhche  Sieg  der  »blinden  Stärke«  das 
Ende  schlechthin  wäre  —  und  sodann,  daß  sie  sich  in 
und  mittels  der  politischen  Bewegung  entwickelt, 
weil  diese  Bewegung  als  zweck-  und  resultatlose  nicht 
nur  einen  unersetzlichen  Kraftverlust  bedingen,  sondern 
auch  die  Freiheitstendenz  erschöpfen,  d.  h.  eine  Ermü- 
dung hervorbringen  und  einer  Resignation  Raum  schaffen 
würde,  welche  dem  inneren  Umwandlungsprozesse  nichts 
weniger  als  günstig  sind,  sondern  ihn  im  Gegenteile  not- 
wendig ermatten  lassen.  Wenn  also  dem  Briefsteller  die 
politische  Bewegung  nur  als  resultatlose,  als  ein  un- 
fruchtbarer Wechsel  zwischen  Usurpation  und  Insurrek- 
tion möglich  erscheint,  so  reicht  seine  Resignation 
weiter  als  sie  es  soll,  und  würde,  insofern  er  sie  nicht 
positiv  fordert,  sondern  den  Kreislauf  der  politischen  Be- 
wegung als  unvermeidhch  ansieht,  nur  mit  der  Erschöp- 
fung dieses  fruchtlosen  Kreislaufes  allgemein  werden, 
aber  als  allgemeine  keine  Krafterhöhung,  sondern  eine 
Abschwächung  ausdrücken.  Würde  dagegen  von  dem 
Briefsteller  die  positive  Resignation,  d.  h.  der  aus- 
drückliche Widerstand  gegen  die  politische  Bewegung 
gefordert,  so  wäre  damit  eine  politische  Tätigkeit  ver- 

79 


langt,  die  als  einseitig  reaktionäre  für  die  Zukunft  der 
Freiheit  unmöglich  förderlich  sein  könnte.  Sie  müßte  also 
über  die  einfache  Negation  der  fruchtlosen  politischen  Be- 
wegung hinausgehen,  d.  h.  die  fruchtlose  in  eine  frucht- 
bare Bewegung  umzusetzen  streben,  folglich  eine  posi- 
tive politische  Tätigkeit  sein.  Wenn  sich  daher  der 
Briefsteller  einfach  »prophetisch«  verhält,  so  prophezeit 
er  die  Unmöglichkeit  der  Freiheit;  nimmt  er  aber  den 
Willen  in  Anspruch,  der  sich  gegen  die  nutzlose  Staats- 
veränderung spannt,  so  dürfte  er  nicht  die  Abstraktion 
von  der  politischen  Bewegung,  sondern  müßte  die  Teil- 
nahme an  derselben,  obgleich  eine  Teilnahme,  die  ihren 
Charakter  ändert,  fordern.  Was  der  Briefsteller  für  die 
Zukunft  in  Aussicht  stellt,  ist  der  Verlauf  der  französi- 
schen Revolution,  welchen  er  vor  sich  hatte,  und  der 
sich  allerdings  in  unserem  Zeitalter,  dem  der  Revolu- 
tionen und  Reaktionen,  mehrfach,  ^wenn  auch  immer 
modifiziert,  wiederholt  hat.  Insofern  aber  die  politische 
Bewegung  der  Gegenwart  eine  unfruchtbare  ist,  liegt 
der  Grund  dieser  Unfruchtbarkeit  in  dem  tatsächli- 
chen Gegenüber  des  formenden  Staates  und  der  form- 
losen Masse,  und  in  dem  Staatsbegriffe,  der  dieser 
Tatsache  entspricht,  in  der  theoretischen  Gegenüberstel- 
lung des  Staates  und  der  Einzelnen,  welche  als  solche 
den  Staat  »bilden«  sollen. 

Hiernach  kommt  es  für  eine  fruchtbare,  d.  h.  gestal- 
tende politische  Tätigkeit  darauf  an,  das  theoretische  und 
das  tatsächliche  Gegenüber  des  Staates  und  der  Indivi- 
duen durch  eine  positive  Vermittlung,  welche  die  Tätig- 
keit der  Einzelnen  schlechthin  zu  einer  politischen,  weil 
auf  die  Gemeinschaft  bezogenen  macht  und  den  Staats- 
zweck  b  i  s   zum  Zwecke   der  individuellen  Befriedigung 

80 


auseinandersetzt,  zu  überwinden.  Da  nun  der  Briefsteller 
auf  diese  Vermittlung  nicht  eingeht,  sondern  das  Gegen- 
über des  Staates  und  der  Individuen  festhält,  so  muß  er, 
da  er  die  notwendige  Folge  des  ungelösten  Gegensatzes 
wohl  erkennt,  diese  Folge  als  eine  unbedingte  Not- 
wendigkeit aussprechen  und  die  Abstraktion  von  dem 
politischen  Interesse  und  der  politischen  Tätigkeit  zum 
Zwecke  einer  unpolitischen  Vermittlung  der  politi- 
schen Fähigkeit  verlangen  —  ein  Verlangen,  das  auf 
eine  Unmöglichkeit  hinausläuft,  weil  jede  Fähigkeit  nur 
durch  ihre  Betätigung  entwickelt  werden  kann.  Dem- 
nach zerstört  der  Briefsteller  die  Illusion,  welche  die  Tat- 
sache der  Revolution  umgibt,  ohne  doch  über  ihr  Prinzip, 
den  antisozialen  StaatsbegrifF  hinauszukommen,  und  setzt 
an  die  Stelle  der  Unmöglichkeit,  auf  dem  Wege  der  Re- 
volution und  Reaktion  zur  Freiheit  zu  gelangen,  eine 
andere  Unmöglichkeit  —  die  einer  politischen  Inter- 
esse- und  Tatlosigkeit,  welche  mit  dem  Zwecke,  die  poh- 
tische  Fähigkeit  zu  entwickeln,  zusammen  bestehen,  einer 
Jahrhunderte  dauernden  Resignation,  bei  welcher  sich  die 
Tendenz  zur  Freiheit  erhalten  soll. 

19.  Wenn  der  Briefsteller  weiterhin  ausführt,  daß  sich 
das  Bestehende,  obgleich  seine  WidernatürHchkeit  und 
Unvernünftigkeit  zur  Genüge  erkannt  sei,  erhalte  und 
höchstens  die  Form  wechsle,  und  daß  dies  nur  an  dem 
Mangel  des  guten  und  entschiedenen  Willens  —  was 
wir  heutzutage  Gesinnungsmangel  zu  nennen  pflegen  — 
liegen  könne,  so  müssen  wir  ihm  insofern  beistimmen, 
als  mit  der  kritischen  Einsicht  in  die  Widervernünftig- 
keit  der  Zustände  der  Wille  einer  tatsächhchen  Umge- 
staltung derselben  allerdings  nicht  gegeben  ist,  und  nicht 
gegeben  sein  kann,  weil  der  Wille,  um  seinen  Begriff 

Deinhard't,  Schiller.     6 

81 


zu  erfüllen,  einen  positiven  Inhalt  verlangt.  Ohne 
einen  solchen,  d.  h.  ohne  ein  Ideal,  das  zu  der  Be- 
dingtheit der  historischen  Existenz  in  ein  bestimmtes 
♦  Verhältnis  gesetzt,  dessen  Verwirklichungsfähigkeit  dem- 
nach erkannt  ist,  kann  zwar  das  Genügen  am  Spiele  der 
Kritik  in  die  Leidenschaft  der  tatsächlichen  Negation 
umschlagen,  diese  Leidenschaft  aber  muß  sich  erschöpfen 
und  in  das  Spiel  mit  der  Resignation  übergehen,  da 
die  Auflösung  der  gegebenen  Staats-  und  Gesellschafts- 
formen, wenn  sie  nicht  ein  bindendes  und  gestaltendes 
Prinzip  hinter  sich,  wenn  sich  also  die  Freiheitstendenz 
nicht  als  solche  zur  Gemeinschaftstendenz  bestimmt  hat, 
den  vom  Briefsteller  früher  charakterisierten,  ermüden- 
den Wechsel  bedingt.  Der  Grund  der  Willenshalbheit 
ist  daher  zunächst  die  Halbheit  des  Gedankens,  dessen 
»Negation«  trotz  des  Scheines  der  Entschiedenheit,  den 
ihm  sein  abstrakter  Charakter  leiht,  eine  oberflächliche 
bleibt,  weil  ihm  die  »Position«,  und  zwar  die  Position 
eines  Ideales  fehlt,  welches  die  realen  Bedingungen 
seiner  VerwirkHchung  einschließt.  Weiterhin  aber 
muß  der  Gedanke,  in  und  mit  welchem  der  gestaltungs- 
kräftige Wille  gegeben  sein  soll,  ein  relativ  allgemei- 
ner geworden  sein  —  da  ohnedies  die  aufgelösten  Ele- 
mente eine  Masse  darstellen,  welche,  insofern  sie  zur 
Aktivität  übergehen  will,  zur  Passivität  mehr  oder  we- 
niger gewaltsam  zurückgedrängt  werden  muß,  sobald 
sie  aber  ihre  Willenlosigkeit  fühlt,  in  die  gewohnte 
Gebundenheit  zurücktritt  und  die  Fähigkeit  des  passiven 
Widerstandes  damit  wieder  erlangt  —  er  kann  aber  zu 
einem  allgemeinen  nur  dadurch  werden,  daß  er  zu  einer 
vorläufigen,  aber  umfassenden  Verwirklichung,  also 
zu  einer  lebendigen  und  konkreten  Darstellung,  welche 

82 


seine  Verwirklichungsfähigkeit  bewährt  und  begründet, 
ausdrücklich  gebracht  wird.  Damit  ist  wiederholt  die 
Notwendigkeit  einer  allgemeinen  Erziehung  ausgespro- 
chen, und  zwar  einer  Erziehung,  welche  die  werdende 
und  zu  gestaltende  Gesellschaft  im  voraus  allseitig 
darstellt.  Eine  solche  Erziehung  kann  nicht  auf  eine  ein- 
seitige »Verstandeskultur«  hinauslaufen,  weil  in  ihr  einer- 
seits die  verschiedenartigen  Volkstätigkeiten,  welche  ver- 
schiedenartige Vermögen  in  Anspruch  nehmen,  als  un- 
mittelbar zusammengreifende  vertreten  sein  müssen,  und 
weil  sie  andrerseits  die  Aufgabe  hat,  den  »Geist«  der 
Gemeinschaft  nicht  nur  theoretisch,  sondern  auch,  und 
zwar  hauptsächlich,  praktisch,  d.  h.  indem  sie  wirkliche 
Gemeinschaften  gestaltet,  herauszubilden.  Dagegen  muß 
eine  Erziehung,  welche  von  dieser  Aufgabe  wie  von 
der  pädagogischen  Entwicklung  der  Arbeitsfähigkeit  als 
solcher  absieht,  trotz  aller  Einwirkungen  auf  das  »Ge- 
müt«, die  sie  versuchen  möchte,  in  der  einseitigen  Ver- 
standeskultur stecken  bleiben,  weil  einerseits  das  Ver- 
standesvermögen die  schlechthin  allgemeine  Befähigung 
zu  allen  Geschäften  und  Tätigkeiten  ausdrückt,  folg- 
lich die  Ausbildung  desselben  unbedingt  erforderlich  ist 
und  nicht  nur  zu  genügen  scheint,  sondern  teilweise 
auch  wirklich  genügt  oder  vielmehr  die  Überlegenheit 
des  einen  über  den  anderen  begründet,  sofern  nur 
das  objektive  Ergebnis  der  Arbeiten  und  Geschäfte  und 
nebenbei  oder  auch  nicht  nebenbei  der  daraus  ent- 
springende Erwerbsgewinn  in  Betracht  gezogen  wird, 
andrerseits  die  Bildung  des  Gemüts  in  der  Bildung 
der  Neigungen  besteht,  und  diese  nur  in  und  mittels 
einer  zweckentsprechenden  Lebensregelung,  welche  die 
Arbeit   und  den  Genuß   umfaßt,   positiv  entwickelt   und 

83 


gestaltet  werden  können,  während  eine  einseitig  negative 
Disziplin  die  versteckte  Willkür  und  die  geheime  Aus- 
schweifung notwendig  erzeugt,  und  die  einseitig  theore- 
tische Einwirkung,  statt  das  Gefühl  zu  kräftigen,  es  durch 
momentane  Erregungen  und  verfrühte  Reflexionen  blasiert. 
Die  einseitige  Verstandeskultur  aber,  die  als  gleiche 
der  Allgemeinheit  widerstrebt,  an  welcher  also  die  ver- 
schiedenen Gesellschaftsklassen  nur  gradweise  teilnehmen 
können,  schheßt  an  sich,  nach  dem  früher  Gesagten, 
das  Unvermögen  der  idealen  Gesellschaftsgestal- 
tung ein,  wie  sie  selbstverständlich  weder  die  allgemeine 
oder  ideale  Individualität  verwirklicht,  noch  der  gege- 
benen Bestimmtheit  und  Bestimmung  der  »empirischen« 
oder  besonderen  Individualität  gerecht  wird.  Sie  läßt  das 
individuelle  und  soziale  Vermögen  nach  der  Seite  der 
konkreten  Selbstdarstellung  unentwickelt  und  formlos, 
ohne  damit  das  Erkenntnisvermögen  zu  einer  höheren 
Potenz  zu  erheben,  indem  vielmehr  die  vorzeitige  »Un- 
sinnlichkeit  des  Denkens«  und  das  'einseitige  theore- 
tische Verhalten  schlechthin  den  Erkenntnistrieb,  inso- 
fern dieser  mit  dem  Wahrheitssinne  eins  ist,  abschwächt 
und  "die  Erkenntnisfähigkeit  trotz  oder  wegen  der  Ver- 
vielfältigung der  Erkenntnisgegenstände  beschränkt. 
Wie"  demnach  die  Halbheit  des  Willens  in  der  Halbheit 
des  Gedankens,  so  ist  umgekehrt  die  Selbstgenügsam- 
keit des  beschränkten  Gedankens  in  derjenigen  Willens- 
schwäche begründet,  welche  zunächst  mit  der  Schwäche 
des  »physischen«  Vermögens  und  sodann  mit  der  Un- 
fähigkeit der  konkreten  Selbstdarstellung  genau  zusam- 
menhängt, d.  h.  durch  sie  bedingt  ist.  Wir  müssen  daher 
dem  Briefsteller  beistimmen,  wenn  er  sagt:  »Nicht  ge- 
nug,  daß   alle  Aufklärung   des  Verstandes   nur   insofern 

84 


Achtung  verdient,  als  sie  auf  den  Charakter  zurückfließt; 
sie  geht  auch  gewissermaßen  von  dem  Charakter  aus, 
weil  der  Weg  zu  dem  Kopf  durch  das  Herz  muß  ge- 
öffnet werden.  Ausbildung  des  Empfindungsvermögens 
ist  also  das  dringendere  Bedürfnis  der  Zeit,  nicht  bloß, 
weil  sie  ein  Mittel  wird,  die  verbesserte  Einsicht  für  das 
Leben  wirksam  zu  machen,  sondern  selbst  darum,  weil 
sie  zur  Verbesserung  der  Einsicht  erweckt.«  Aber  die 
Ausbildung  des  Empfindungsvermögens,  welche  zugleich 
Charakterausbildung  sein  und,  allgemein  ausgedrückt,  die 
Ganzheit  der  menschlichen  Natur  verwirkhchen  soll,  kann 
nicht  durch  sporadische  Einwirkungen  und  Betätigungen, 
sondern  nur  dadurch  als  nachhaltige  erreicht  werden,  daß 
der  werdende  Mensch  in  einen  lebendig  gestalteten  Kreis 
sittlicher  Beziehungen  hineingestellt  sich  allseitig  zu  be- 
tätigen hat  und  seine  individuelle  Ganzheit  und  Selbst- 
heit  nicht  nur  im  Genüsse  zu  »restaurieren«,  sondern 
auch  in  der  Arbeit  zu  behaupten  und  zu  realisieren 
lernt. 

Indem  wir  daher  mit  Schiller  die  notwendige  Erzie- 
hung die  ästhetische  nennen  —  denn  in  dem  »Ästheti- 
schen« liegt  die  Forderung  der  Ganzheit  und  Harmonie 
—  verlangen  wir,  daß  die  ästhetische  Erziehung  als  all- 
gemeine durchgesetzt  werde,  was  durch  ästhetische 
»Einflüsse«  und  durch  ästhetische  Bildungsmittel,  deren 
Wirksamkeit  eine  beiläufige  ist,  weil  sie  nicht  den  gan- 
zen Erziehungszweck  ausdrücken  und  zu  der  Gesamtheit 
der  Erziehungsmittel  kein  notwendiges  Verhältnis  haben, 
nicht  geschieht.  Auf  die  von  dem  Briefsteller  früher 
aufgeworfene  Frage,  woran  es  liegt,  daß  wir,  trotz  der 
»Triumphe«  der  Vernuntt,  »noch  immer  Barbaren 
sind«,   ist   zu   antworten,   weil   es  uns   zwar  nicht  an 

85 


ästhetischen  Einwirkungen  und  Bildungsmitteln,  aber  an 
der  ästhetischen  Erziehung  fehlt,  ohne  welche  die 
Zivilisation  eine  verfeinerte  Barbarei  bleibt  und  wird. 
Sporadische  ästhetische  Einwirkungen,  die  neben  einer 
abgestuften  Verstandeskultur  hergehen,  deren  »Mehr«  und 
»Weniger«  durch  die  gegebenen  Verhältnisse  bedingt  ist, 
sind  gegenüber  den  Ausartungstendenzen  der  Zivilisation 
nicht  nur  machtlos,  sondern  denselben  förderUch,  und 
lassen  unter  anderem  auch  den  Dualismus  der  höheren 
und  niederen  Klassen,  auf  den  der  Briefsteller  gerade 
hier  wieder  zurückkommt,  nicht  nur  bestehen,  son- 
dern dienen  zu  seiner  Verschärfung.  Indem  der  Brief- 
steller die  zahlreicheren  niederen  Klassen  wegen  ihrer 
Unterwürfigkeit  unter  die  gegebenen  Zustände  durch  den 
Kampf  mit  der  Not  entschuldigt,  die  »besser  situier- 
ten«,  vom  Joch  der  Bedürfnisse  freien  aber  um  so  ent- 
schiedener anklagt,  gesteht  er  indirekt  ein,  daß  die 
Empfänglichkeit  für  ästhetische  Einwirkungen  als 
nachhaltige  fehlt,  während  es  doch  an  solchen  Einwir- 
kungen selbst  zu  keiner  Zeit  gefehlt  hat,  und  der  Brief- 
steller die  Kunst  seiner  Zeit  als  eine  vom  Ideal  schlecht- 
hin abgefallene  zu  bezeichnen  kein  Recht  hatte,  so  daß 
die  Frage,  wie  die  fehlende  Empfänglichkeit  erzeugt  wer- 
den soll,  zurückbleibt.  Wenn  aber  die  Empfänglich- 
keit für  ideale  Kunstwirkungen,  die  mit  der  Fähigkeit 
sich  von  den  Fesseln  Vernunft-  und  naturwidriger  Ge- 
wohnheiten frei  zu  machen,  innig  zusammenhängen  soll 
und  wirklich  zusammenhängt,  mit  der  Freiheit  »vom 
Joch  der  Bedürfnisse«,  dem  äußerlich  erlangten,  aus- 
reichenden oder  überflüssigen  Mittelbesitze  nicht  an  sich 
gegeben  ist,  so  ist  die  Anklage  gegen  die  höheren  Ge- 
sellschaftsklassen insoweit  ungerecht,  als  die  Fähigkeit 

S6 


zu  dem  »höheren«,  dem  Kunstgenüsse,  einer  ausdrück- 
lichen Bildung  bedarf,  und  als  bei  einer  schon  vorge- 
schrittenen Zivilisation  die  Freiheit  vom  »Zwang  der  Be- 
dürfnisse« sich  unmittelbar  durch  das  Raffinement  der- 
selben aufhebt  —  ein  Ergebnis,  das  die  bemittelten 
Klassen  nicht  verschulden,  wenn  ihre  Schuld  nicht 
schon  darin  besteht,  daß  sie  die  unbemittelte  Menge  für 
ihre  Befriedigung  arbeiten  lassen.  Das  Raffinement  der 
Bedürfnisse  steht  der  Fähigkeit  zum  höheren  Genuß  so 
entschieden  entgegen  wie  der  Kampf  um  das  Notdürf- 
tige, und  entwickelt  sich  mit  zwingender  Notwendigkeit 
—  den  Kunsttrieb  verfälschend  und  die  Kunst  in  ihren 
Dienst  ziehend  — ,  wo  bei  dem  Überflusse  der  Mittel 
die  wahrhafte  ästhetische  Bildung,  die  diesen  Überfluß 
in  der  umfassenden  Herstellung  einer  schönen  Exi- 
stenzform aufheben  müßte,  fehlt.  Dieser  Mangel  aber 
liegt  so  tief  begründet,  daß  alle  Faktoren  der  histori- 
schen Gestaltung  zusammenwirken  müssen,  um  ihn  zu 
überwinden,  d.  h.  die  Erziehung,  deren  Notwendigkeit 
wir  ausgesprochen  haben,  zu  verwirklichen. 

20.  Indem  der  Briefsteller  an  seinem  nächsten  Ziele, 
als  das  vom  Staat  unabhängige  »Werkzeug«  der  Cha- 
rakterveredlung, die  schöne  Kunst  zu  erklären,  an- 
gekommen ist,  hat  er  sogleich  die  Unabhängigkeit  der 
Kunst  als  Unabhängigkeit  des  Künstlers  zu  bestimmen, 
d.  h.  zu  verlangen.  Der  Künstler  soll  außer  dem  Staate 
und  über  seinem  Zeitalter  stehen,  um  statt  des  Zöglings 
der  Erzieher  desselben  sein  zu  können.  Dagegen  müssen 
wir  jetzt  in  dem  Wege,  den  der  Briefsteller  gegangen 
ist,  um  die  Notwendigkeit  der  ästhetischen  Erziehung  zu 
beweisen,  einen  Umweg  sehen,  der  ihn  zu  weit  und  da- 
her nicht  weit  genug  führt.  Wie  die  Notwendigkeit  der 

87 


Erziehung  aus  der  Natur  des  Menschen,  die  sich  selbst 
ausdrückhch  verwirklichen  und  die  seinem  Wesen  ent- 
sprechende Existenzform  —  welche  notwendig  eine  so- 
ziale ist  —  schaffen  muß,  so  folgt  die  Notwendigkeit 
der  ästhetischen  Erziehung  daraus,  daß  in  der  sozialen 
Existenzform  die  Individualität  nicht  verloren  gehen  darf, 
sondern  zu  vermittelter  Darstellung  und  Verwirklichung 
kommen  muß  —  eine  Aufgabe,  die  negativ  ausgedrückt 
die  ästhetische  Erziehung  allerdings  zu  einem  unerläß- 
lichen Korrektiv  der  mit  der  zivilisierten  Gesellschaft 
gegebenen  Arbeitsteilung  macht.  Indem  aber  der  Brief- 
steller die  Notwendigkeit  der  ästhetischen  Erziehung  mög- 
lichst nachdrücklich  herausstellen  will,  negiert  er  nicht 
nur  den  Erfolg  formeller  Staatsveränderungen,  sondern 
auch  die  erziehliche  Wirksamkeit  des  Staates  schlecht- 
hin, und  nötigt  sich  hierdurch,  den  Begriff  der  Erziehung 
—  deren  Organisation  ohne  den  politischen  Willen 
nicht  denkbar  ist  —  in  dem  Begriffe  der  ästhetischen 
Einwirkung,  die  eine  erziehliche  sein  soll,  ohne  einen 
erziehlichen  Zweck  zu  verfolgen,  aufgehenzulassen. 
Damit  ist  die  Aufgabe  der  ästhetischen  Erziehung  aus 
dem  Bereiche  der  Praxis  in  das  der  freien  Kunst  zu- 
rückgenommen, und  der  Briefsteller  hat  die  Freiheit  der 
Kunst  und  der  Künstler  in  einem  »verderbten«  Zeitalter 
und  von  der  Verderbnis  desselben  als  möglich  und  not- 
wendig zu  erklären.  Diese  Erklärung  aber  läuft  auf  das 
Verlangen  der  künstlerischen  Freiheit  und  Erhabenheit 
und  auf  eine  Schilderung  derselben  hinaus,  die  als  solche 
einen  begeisternden  Eindruck  nicht  verfehlen,  aber  Fra- 
gen, wie  wir  sie  schon  angedeutet,  welche  sich  auf  die 
Bedingtheit  der  Kunstwirkung  beziehen,  nicht  unter- 
drücken kann,  sondern  vielmehr  anregt.  Wenn  der  Brief- 

88 


steller  sagt,  daß  »die  Kunst  wie  die  Wissenschaft  sich 
einer  absoluten  Immunität  von  der  Willkür  der  Men- 
schen erfreuen«,  daß  »der  politische  Gesetzgeber  ihr  Ge- 
biet sperren,  aber  nicht  darin  herrschen  kann«,  daß  zwar 
»beide  dem  Geiste  des  Zeitalters  zu  huldigen  pflegen« 
und  dessen  Charakter  zeigen,  Wahrheit  und  Schönheit 
aber,  »in  die  Tiefen  gemeiner  Menschheit  hinabgetaucht, 
sich  immer  wieder  siegend  emporringen«,  so  ist  damit  nur 
ausgesprochen,  daß  die  Idee  und  das  Ideal  in  dem  Strome 
der  Zeiten  nicht  versinken,  sondern  von  demselben  weiter- 
getragen werden,  aber  weder,  daß  sie  das  Geschlecht  zu 
jeder  Zeit  selbständig  zu  erzeugen  vermag  und  wirk- 
lich erzeugt,  noch  daß  die  historische  Wirklichkeit  von 
ihnen  bestimmt  wird,  daß  sie  also  für  den  Zeitcha- 
rakter, den  sie  immer  teilweise  darstellen,  zugleich  ein 
formender  Faktor  sind.  Als  einen  solchen  sie  zu  for- 
dern liegt  zwar  in  der  Tendenz  des  Briefstellers  und 
ist  der  Zweck  seiner  früheren  wie  der  noch  folgenden 
Auseinandersetzungen;  er  appelliert  aber  auch  später- 
hin, historischen  Einwänden  gegen  seinen  Beweiszweck, 
die  er  anführt,  gegenüber  nicht  an  die  historische  Er- 
fahrung, sondern  vielmehr  von  dieser  an  den  »Vernunft- 
begriff«  der  Schönheit,  und  seine  Forderung  bezieht  sich 
auf  eine  Zukunft,  die  er  ausdrücklich  unbestimmt  läßt, 
wie  wir  sogleich  sehen  werden.  Zunächst  charakterisiert 
er  den  Künstler,  den  er  verlangt,  welcher  die  Kunst  nicht 
erniedrigt,  indem  er  sie  dem  Geschmacke  der  Zeitge- 
nossen anpaßt,  sondern  diese  zu  ihr  erhebt,  mit  folgen- 
den Worten,  die  eine  der  schönsten  Stellen  der  Briefe 
abgeben :  »Der  Künstler  ist  zwar  der  Sohn  seiner  Zeit, 
aber  schlimm  für  ihn,  wenn  er  zugleich  ihr  Zögling  oder 
gar    noch    ihr   Günstling  ist.    Eine    wohltätige   Gottheit 

89 


reiße  den  Säugling  beizeiten  von  seiner  Mutter  Brust, 
nähre  ihn  mit  der  Milch  eines  besseren  Alters  und  lasse 
ihn  unter  fernem  griechischem  Himmel  zur  Mündigkeit 
reifen.  Wenn  er  dann  Mann  geworden,  so  kehre  er,  eine 
fremde  Gestalt,  in  sein  Jahrhundert  zurück,  aber  nicht, 
um  es  mit  seiner  Erscheinung  zu  erfreuen,  sondern  furcht- 
bar, wie  Agamemnons  Sohn,  um  es  zu  reinigen.  Den 
Stoff  zwar  wird  er  von  der  Gegenwart  nehmen,  aber  die 
Form  von  einer  edleren  Zeit,  ja  jenseits  aller  Zeit,  von 
der  absoluten  unwandelbaren  Einheit  seines  Wesens  ent- 
lehnen. Hier,  aus  dem  reinen  Äther  seiner  dämonischen 
Natur  rinnt  die  Quelle  der  Schönheit  herab,  unangesteckt 
von  der  Verderbnis  der  Geschlechter  und  Zeiten,  welche 
tief  unter  ihr  in  trüben  Strudeln  sich  wälzen.  Seinen  Stoff 
kann  die  Laune  entehren,  wie  sie  ihn  geadelt  hat,  aber 
die  keusche  Form  ist  ihrem  Wechsel  entzogen.«  —  Diese 
Worte  negieren  ausdrücklich  die  Fähigkeit  der  Zeit,  die 
ideale  Kunst  aus  sich  zu  erzeugen,  sie  verlangen  die  Bil- 
dung des  Künstlers  an  den  antiken  Mustern  als  eine  ab- 
solute Notwendigkeit,  appellieren  aber  dessenungeachtet 
an  ein  günstiges  Geschick,  das  nicht  nur  den  jungen 
Künstler  in  der  Welt  der  Griechen  heimisch  werden 
lassen,  sondern  ihn  auch  mit  einer  Stärke  und  Reinheit 
der  Natur  ausstatten  soll,  die  inmitten  eines  verderbten 
Geschlechtes  nur  mittels  eines  glücklichen  »Zufalls«  oder 
durch  eine  Veranstaltung  der  »Vorsehung«  zusammen 
ins  Leben  gesetzt  werden  können.  Daß  die  dem  Künstler 
notwendigen  antiken  Muster  wenigstens  bruchstückweise 
erhalten  worden  sind,  erscheint  gleichfalls  als  ein  gün- 
stiger Zufall,  so  daß  unser  Vertrauen,  daß  die  wahre 
Kunst  nicht  untergehen  könne,  durchweg  als  ein  gläu- 
biges in  Anspruch  genommen  wird. 

90 


Der  Briefsteller  denkt  aber  an  die  Möglichkeit,  uns  in 
die  Welt  der  Griechen  zurückzuversetzen,  und  sieht  sie 
in  der  Dauerhaftigkeit  jener  Kunstwerke,  die  einem 
mächtig  wirkenden  Kunsttriebe  entstammen,  begründet, 
indem  er  fortfährt:  »Der  Römer  des  ersten  Jahrhunderts 
hatte  schon  längst  die  Knie,  vor  seinen  Kaisern  gebeugt, 
als  die  Bildsäulen  noch  aufrecht  standen;  die  Tempel 
blieben  dem  Auge  heilig,  als  die  Götter  längst  zum  Ge- 
lächter dienten,  und  die  Schandtaten  eines  Nero  und 
Commodus  beschämte  der  edle  Stil  des  Gebäudes,  das 
seine  Hülle  dazu  gab.  Die  Menschheit  hat  ihre  Würde 
verloren,  aber  die  Kunst  hat  sie  gerettet  und  aufbewahrt 
in  bedeutenden  Steinen;  die  Wahrheit  lebt  in  der  Täu- 
schung fort  und  aus  dem  Nachbilde  wird  das 
Urbild  wieder  hergestellt  werden.  So  wie  die 
edle  Kunst  die  edle  Natur  überlebte,  so  schreitet  sie 
derselben  auch  in  der  Begeisterung  bildend  und  erweckend 
voran.  Ehe  noch  die  Wahrheit  ihr  siegendes  Licht  in  die 
Tiefen  der  Herzen  sendet,  fängt  die  Dichtungskraft  ihre 
Strahlen  auf,  und  die  Gipfel  der  Menschheit  werden  glän- 
zen, wenn  noch  feuchte  Nacht  in  den  Tälern  liegt.« 
Nachdem  der  Briefsteller  hiermit  die  Kunst  wiederholt  als 
die  über  den  Wandlungen  der  Geschichte  und  der  Verände- 
rung der  Geschlechter  sich  fortsetzende  Darstellung  der 
wahren  und  schönen  Menschheit,  als  die  selbständige  Be- 
wahrerin  der  Menschheitswürde  charakterisiert  hat,  ver- 
wandelt er  die  ausgesprochene  Tatsache  erneut  in  eine 
Forderung,  indem  er  das  notwendige  Verhalten  des  Künst- 
lers, der  sich  über  seine  Zeit  erheben  will,  schildert. 
»Wie  verwahrt  sich«,  fragt  er,  »der  Künstler  vor  den 
Verderbnissen  seiner  Zeit,  die  ihn  von  allen  Seiten  um- 
fangen?« und  antwortet:  »Wenn  er  ihr  Urteil  verachtet. 

91 


Er  blicke  aufwärts  nach  seiner  Würde  und  dem  Gesetz, 
nicht  niederwärts  nach  dem  Glück  und  dem  Bedürfnis. 
Gleich  frei  von  der  eitlen  Geschäftigkeit,  die  in  den 
flüchtigen  Augenblick  gern  ihre  Spur  drücken  möchte, 
und  von  dem  ungeduldigen  Schwärmergeist,  der  auf  die 
dürftige  Geburt  der  Zeit  den  Maßstab  des  Unbedingten 
anwendet,  überlasse  er  dem  Verstände,  der  hier  einhei- 
misch ist,  die  Sphäre  des  Wirklichen,  er  aber  strebe,  aus 
dem  Bunde  des  Möglichen  mit  dem  Notwendigen  das 
Ideal  zu  erzeugen.  Dieses  präge  er  aus  in  Täuschung 
und  Wahrheit,  präge  es  in  die  Spiele  seiner  Einbildungs- 
kraft und  in  den  Ernst  seiner  Taten,  präge  es  aus  in 
allen  sinnlichen  und  geistigen  Formen  und  werfe  es 
schweigend  in  die  unendliche  Zeit.« 

Gewiß  müssen  diese  Worte  jedes  Gemüt,  das  nicht  in 
selbstgefälliger  Zufriedenheit  oder  schwächHcher  Unzu- 
friedenheit aufgeht,  das  der  herrschenden  Zivilisation  ein 
Kulturideal  entgegenzusetzen  hat  und  entgegensetzen  will, 
dem  die  Gegenwart  nicht  alles,  und  das  stolz  und  edel 
genug  ist,  um  auf  augenbhckliche  Erfolge  zu  verzichten, 
sympathetisch  berühren  und  ergreifen.  Wie  soll  aber  die 
Kluft  zwischem  dem  Ideal  und  der  Wirklichkeit  ausge- 
füllt werden,  wenn  der  Philosoph  und  Künstler  von  dem 
Wirklichen  abstrahieren,  wie  der  die  Wirklichkeit  gestal- 
tende Verstand  von  dem  Ideal?  Wie  soll  das  Ideal,  das 
fortgesetzt  bestimmt  werden  muß,  zu  der  besonderen 
Aufgabe  der  Zeit  in  ein  Verhältnis  gesetzt  werden,  wenn 
es  der  Philosoph  und  Dichter  nicht  zeitgemäß  bestim- 
men —  eine  Bestimmung,  die  von  ihnen  ausgehen  muß, 
wenn  der  politische  Wille  das  Ideal  als  solches  emp- 
fangen und  in  die  Wirklichkeit  überführen  soll?  Wie 
kann    der   Künstler   seinen   »Stoff«  der   Gegenwart   ent- 

92 


lehnen  und  ihn  in  eine  gegebene  Form  prägen,  da  sich 
Stoff  und  Form  niemals  gleichgültig  gegeneinander  ver- 
halten, und  der  Stoff  seine  Form,  der  Inhalt  des  Zeit- 
bewußtseins seine  Darstellung  fordert,  für  welche  zwar 
das  Gesetz  der  Schönheit  maßgebend,  aber  jede  fertige 
und  überlieferte  Form  unzureichend  ist?  Wie  vermag  der 
Philosoph,  der  das  Ideal  nicht  wie  der  Künstler  zu  kon- 
kret abgeschlossener  Erscheinung  zu  bringen,  sondern  als 
historisches  auseinanderzusetzen  hat,  von  den  histo- 
rischen Gestaltungen  der  Menschheit  in  ihrer  notwendi- 
gen Folge  und  von  der  Gegenwart  insbesondere  zu  ab- 
strahieren, ohne  daß  seine  Idee,  insoweit  sie  eine  soziale 
ist,  eine  an  und  in  sich  unbestimmte  bliebe?  Wie  sollen 
der  Künstler,  der  den  Stoff,  den  ihm  seine  Gegenwart 
bietet,  und  eine  überlieferte  Form  unvermittelt  —  denn 
die  Vermittlung  würde  das  Eingehen  auf  die  Gegenwart, 
den  lebendigen  und  erlebten  Begriff  derselben  voraus- 
setzen —  zusammenbringt,  und  der  Philosoph,  der  von 
den  historischen  Bedingungen  für  die  WirkUchkeit  der 
Idee  absieht,  der  Willkür  oder  der  Einförmigkeit  ent- 
gehen, und  wie  sollen  beide,  die  infolge  ihres  abstrakten 
Verhaltens  ihrer  Zeit  nicht  gerecht  wurden,  irgendeiner 
späteren  Zeit  gerecht  werden?  Wer  sich  in  abstrakter 
Weise  außer  seine  Zeit  stellt,  nimmt  nicht  minder  einen 
beschränkten  Standpunkt  ein  wie  derjenige,  der  sich  von 
ihr  befangen  läßt,  und  wer  als  geistiger  Schöpfer  auf  die 
Zukunft  einwirken  will,  darf  die  Gegenwart  nicht  um- 
gehen, sondern  muß  sie,  kritisch  und  gestaltend,  über- 
winden. Demnach  ist  es  die  Aufgabe  des  Künstlers  wie 
des  Philosophen  —  eine  Aufgabe,  die  beide  in  verschie- 
dener Weise  zu  fassen  und  zu  lösen  haben  —  ihre  Zeit 
zu  begreifen,  die  in  ihr  wirkenden  Tendenzen  zur  Klar- 

95 


heit  zu  erheben,  und  die  Möglichkeit  des  Notwen- 
digen, welches  zur  Bestimmtheit  des  historischen  Ideals 
zu  bringen  ist,  aus  der  Wirklichkeit  abzuleiten.  Diese  Auf- 
gabe schließt  die  »eitle  Geschäftigkeit,  welche  dem  flüch- 
tigen AugenbHcke  ihre  Spuren  eindrücken  möchte«,  und 
den  »ungeduldigen  Schwärmergeist«,  welcher  das  »Un- 
bedingte« verwirkhcht  will,  von  selbst  aus,  da  jener  Ge- 
schäftigkeit das  umfassende  Ideal  und  die  Hingabe 
an  seine  Darstellung  und  VerwirkHchung,  diesem  Schwär- 
mergeiste die  Einsicht  in  die  reale  Möghchkeit  oder  Un- 
möglichkeit des  notwendig  Geglaubten,  also  die  Kenntnis 
des  Wirklichen,  die  das  durchdachte  Ideal  voraus- 
setzt, fehlen.  Beide,  die  eitle  Geschäftigkeit,  sich  be- 
merkbar zu  machen,  welche  als  solche  mit  der  Mode 
des  Tages  buhlt,  und  der  ungeduldige  Schwärmer- 
geist, welcher,  wenn  auch  nicht  Ideen,  so  doch  schein- 
idealistische Pläne  ausspinnt  und  sie  unmittelbar  ver- 
wirklichen zu  können  meint,  stehen  sich  keineswegs 
derart  gegenüber,  daß  sie  nicht  oft  genug  in  derselben 
Persönlichkeit  vereinzelt  vorkämen,  und  erzeugen  in  die- 
sem Falle  eine  der  »kaufmännischen«  verwandte  Ideen- 
schwindelei, welche  auch  die  solide  Arbeit  des  refor- 
matorischen Gedankens,  gegen  welchen  sich  die  Selbst- 
gefälligkeit des  Jahrhunderts  an  sich  auflehnt,  in  einen 
gern  gehegten  Mißkredit  bringt.  Wie  aber  die  Selbst- 
gefälligkeit, welche  sich  der  Kritik  der  herrschenden 
Zivilisation  und  dem  Willen  einer  gründlichen  Umbildung 
entgegensetzt,  eine  enthusiastische,  von  der  Eile  des  »Fort- 
schritts« berauschte,  und  eine  nüchterne,  mit  der  Be- 
schränktheit des  egoistischen  Interesses  und  des  einseitig 
»praktischen«  Verstandes  zusammenhängende  sein  kann^ 
so  trägt  der  auf  das  »Unbedingte«  gerichtete  moralische 

94 


Trieb,  den  der  Briefsteller  in  Anspruch  nimmt,  insoweit 
er  sich  zum  Gedanken  formiert,  entweder  den  Charakter 
der  Schwärmerei  an  sich,  eben  weil  er  sich  nicht  für  die 
Zeit  bestimmt,  oder  den  der  nüchternen  theoretischen 
Verständigkeit,  deren  Postulate  aus  einem  einseitigen  und 
engherzigen  Begriffe  der  »Sittlichkeit«  hervorgehen,  und 
nicht  das  Gefühl,  welches  die  Entwürdigung  der  mensch- 
lichen Natur  empfindet,  sondern  die  Gefühllosigkeit  gegen 
ihre  Rechte  zur  Voraussetzung  haben.  Wenn  daher  der 
Briefsteller  weiterhin  von  dem  Freunde  der  Wahrheit  und 
Schönheit,  der  »dem  edeln  Triebe  in  seiner  Brust  bei 
allem  Widerstände  des  Jahrhunderts  Genüge  tun  will«, 
verlangt,  daß  er  sich  darauf  beschränke,  der  Welt,  auf 
die  er  wirke,  die  Richtung  zum  Guten  zu  geben,  in- 
dem dann  »der  ruhige  Rhythmus  der  Zeit  die  Ent- 
wicklung bringen  werde«,  so  spricht  er  eine  allgemeine 
pädagogische  Forderung  aus,  die  für  jede  erziehliche  und 
bildende  Wirksamkeit,  und  sei  der  Erzieher  welcher  er 
wolle,  ihre  Gültigkeit  hat,  sofern  das  Erziehen  nicht  in 
ein  mehr  oder  minder  gewaltsames  Abrichten  oder  ein 
mechanisches  Gestalten  auslaufen  soll,  aber  zugleich  eine 
Aufgabe,  welcher  durch  die  objektiv-theoretische  Dar- 
stellung des  Ideals,  und  zwar  insbesondere  durch  eine 
solche,  die  von  der  Zeit,  den  Verhältnissen  und  den 
Bedingungen  eines  besseren  Zustandes  abstrahiert,  niemals 
an  sich  genügt  wird. 

Ohne  eine  reale  Lebensgestaltung,  welche  das  Indivi- 
duum nicht  sowohl  frei  läßt  —  was  nur  sporadisch  ge- 
schehen kann  —  als  vielmehr  frei  macht,  bleibt  der 
Begriff  der  Erziehung  unerfüllt,  und  ohne  daß  sich  dieser 
Begriff  erfüllt,  verliert  sich  die  »zum  Guten  gegebene 
Richtung«  in  dem   steten  Zwange   der  Verhältnisse  und 

95 


Gewohnheiten  und  in  der  Willkür,  für  welche  dieser 
Zwang  Raum  läßt.  Eine  einseitig  theoretische  Erziehung 
ist  keine,  mag  es  sich  um  die  Erziehung  im  engeren 
Sinne,  die  der  Jugend,  oder  um  die  im  weiteren  Sinne, 
die  Volkserziehung  handeln.  Die  Faktoren,  welche  für  die 
erstere  und  für  die  letztere  zusammenwirken  müssen,  sind 
wesentlich  dieselben,  aber  im  Gebiete  der  Jugenderzie- 
hung näher  zusammengerückt,  unmittelbarer  verbunden 
und  idealer,  weil  unbedingter  gestaltet  als  in  dem  Ge- 
biete der  Volkserziehung.  Daraus  folgt  unter  anderem, 
daß  die  »Arbeitsteilung«  in  dem  letzteren  Gebiete  eine 
entschiedener  durchgreifende  sein  muß  als  in  dem  der 
Jugenderziehung,  daß  aber  das  ausdrückHche  Zusammen- 
greifen der  selbständigen  Bildungs-  und  Gestaltungsfak- 
toren erforderlich  bleibt,  und  daß  »das  Werk  der  Volks- 
erziehung«  nicht  einseitig  angegriffen  und  durchgesetzt 
werden  kann.  Demnach  haben  zwar  der  Philosoph  und 
Künstler  als  solche  zu  wirken,  d.  h.  das  Ideal  zu  ge- 
stalten, aber  bei  dieser  Gestaltung  weder  von  den  wirk- 
lichen Zuständen  noch  von  der  Praxis,  welche  die  Wirk- 
lichkeit zur  Form  bringt,  zu  abstrahieren,  wie  andrerseits 
die  praktischen  Pädagogen  und  Politiker  von  dem  Ideal, 
das  sie  zu  empfangen  haben  und  das  für  ihre  Empfäng- 
lichkeit bestimmt  sein  muß,  nicht  abstrahieren  dürfen. 
Damit  ist  nicht  vereinbar,  daß  der  Philosoph  und  der 
Künstler  »fremd«  in  ihr  Zeitalter  eintreten,  und  noch 
weniger  darf  ihre  Erscheinung  eine  »schreckende«  sein, 
wenn  wenigstens  der  Künstler,  wie  jetzt  der  Briefsteller 
fordert,  die  »Grundsätze«,  deren  Ernst  seine  Zeitgenossen 
nicht  ertragen,  spielend  an  sie  heranbringen,  an  ihrem 
Müßiggange  seine  bildende  Hand  versuchen  und  ihre  Ver- 
gnügungen veredeln    soll.    Indem    der   Briefsteller    diese 

96 


Aufgabe  des  erziehenden  Künstlers  dahin  bestimmt,  daß 
er  »die  Willkür,  die  Frivolität  und  die  Rohigkeit  aus 
den  Vergnügungen  der  Zeitgenossen  verjagen  soll,  um  sie 
unvermerkt  auch  aus  ihren  Handlungen  und  endlich  aus 
ihren  Gesinnungen  zu  verbannen,  läßt  er  ihn  zwar  eine 
»reinigende«  Wirkung  üben,  aber  seine  Erscheinung 
müßte  doch,  um  diese  Wirksamkeit  zu  sichern,  eine  »er- 
freuende« und  keine  »erschreckende«  sein.  Oder  sollte 
die  tragische  Darstellung,  welche  erschütternd  erhebt 
und  die  stärkste  Schmerzempfindung  zum  Durchgangs- 
punkte des  Genusses  macht,  die  einzige  sein,  mittels 
deren  der  Künstler  auf  ein  zugleich  rohes  und  frivoles 
Zeitalter  zu  wirken  hätte?  Daß  der  Briefsteller  dieser 
Meinung  nicht  ist,  ergibt  sich  schon  aus  den  unmittel- 
bar folgenden  Worten,  sowie  aus  der  späteren  Entwick- 
lung des  Eindruckes,  den  die  Schönheit  machen  soll  — 
einer  Entwicklung,  welche,  wie  wir  beiläufig  schon  be- 
merkt haben,  das  Tragische  nicht  zu  seinem  vollen 
Rechte  kommen  läßt.  Abgesehen  hiervon  aber  will  gerade 
der  Genuß  der  tragischen  Darstellung  vorbereitet  sein, 
und  überhaupt  läßt  sich  das  Genußbedürfnis  den  Gegen- 
stand des  Genusses  nicht  aufdringen,  sondern  behauptet 
seine  »Freiheit«  um  so  eifersüchtiger,  je  mehr  die  son- 
stige Betätigung  eingeengt  und  mechanisiert,  und  je  mehr 
der  materielle  Genuß  vereinförmigt  oder  die  Willkür  auf 
seinem  Gebiete  gepflegt  ist.  Deshalb  ist  die  Aufgabe,  das 
Genußbedürfnis  zu  bestimmen  —  von  der  allerdings  keine 
Pädagogik  absehen  darf  —  keine  leichte,  und  muß  eben 
so  gründlich  angegriffen  werden,  wie  die,  die  Hand- 
lungsweise zu  formen;  die  sittliche  Gesinnung  aber  kann 
nicht  einseitig  als  das  schließliche  Resultat  pädago- 
gischer Einwirkungen,  mögen  es  künstlerische  oder  andere 

Deiohardt,  Schiller.     7 

91 


sein,  sondern  muß  eben  so  entschieden  als  die  notwen- 
dige Voraussetzung  ihrer  Wirksamkeit,  folglich  als  ein  Re- 
sultat, welches  sich  für  jede  Bildungsstufe  zu  bestimmen 
hat,  angesehen  werden,  und  um  sie  als  solches  hervor- 
zubringen, ist  ein  stetiges  Gebiet  ihrer  Übung  erforder- 
lich, das  ein  anderes  als  das  geregelte  Gemeinschafts- 
leben nicht  sein  kann.  Was  daher  der  Briefsteller  in  den 
folgenden  Worten  fordert,  welche,  wie  angedeutet,  die 
notwendige  Kunstleistung  als  eine  allseitige  charakteri- 
sieren: »wo  du  sie  findest,  umgib  sie  mit  edlen,  mit 
großen,  mit  geistreichen  Formen,  schHeße  sie  ringsum 
mit  den  Symbolen  des  Vortrefflichen  ein,  bis  der  Schein 
die  Wirklichkeit  und  die  Kunst  die  Natur  überwindet«, 
ist  ein  Verlangen,  dem  einerseits  die  Kunst  für  sich,  und 
zwar  schon  deshalb,  weil  ihr  ohne  die  Hilfe  des  Staats 
die  nötigen  Mittel  fehlen,  nicht  genügen  kann,  und  wel- 
ches andrerseits  zwischen  der  existierenden  Erscheinung 
und  der  lebendigen  Wirklichkeit  einen  Widerspruch  setzt, 
der  sich  keineswegs,  weil  er  gesetzt  ist,  »von  selbst« 
löst. 

21.  Der  Briefsteller  sieht  die  eigentliche  Schwierigkeit 
für  die  Wirksamkeit  der  Kunst  und  ihres  Produktes,  der 
Schönheit,  darin,  daß  sie,  um  die  Roheit  und  Frivolität, 
die  ungestaltete  Natur  und  die  Unnatur  zugleich  auf- 
zuheben, zu  gleicher  Zeit  mildernd  und  kräftigend,  oder, 
wie  er  es  ausdrückt,  abspannend  und  anspannend 
wirken  muß.  Die  erstere  Wirkung  wird,  wie  er  weiter 
ausführt,  allgemein  anerkannt,  nicht  aber  die  letztere,  da 
für  sie  die  Erfahrung  fehlt.  Daß  die  Kunst  die  Sitten 
»verfeinert«,  ist  ein  gang  und  gäber  Satz,  es  gibt  aber 
»Stimmen«,  und  zwar  nicht  bloß  von  Pedanten  und 
prosaischen  Nützlichkeitsmenschen   ausgehende,  sondern 

98 


»achtungswürdige«,  welche  den  Wert  der  Sittenverfeine- 
rung überhaupt  in  Zweifel  ziehen  oder  geradezu  leugnen, 
weil  sie  dieselbe  mit  dem  Verluste  der  physischen  und 
sittlichen  Kraft  in  einem  durch  die  Erfahrung  bewiesenen 
Zusammenhange  sehen.  In  dieser  Annahme  liegt  aller- 
dings noch  keine  eigenthche  Anklage  der  Kunst,  da 
sich  diese  als  eine  Seite  und  Erscheinung  der  gestei- 
gerten ZiviHsation  betrachten  läßt  und  bei  dieser  Be- 
trachtungsweise als  ein  Faktor  für  die  sittliche  Korrup- 
tion nicht  angenommen  wird.  Trägt  aber  die  Kunst  nicht 
wesentlich  zur  sittlichen  Korruption  bei,  wenn  diese 
einmal  eingerissen  ist,  so  kann  auch  die  mildernde  Wir- 
kung, die  sie  auf  die  noch  rohe  Natur  ausübt,  nicht 
sehr  hoch  angeschlagen  werden,  womit  sie  als  ein  Er- 
ziehungsfaktor negiert  ist.  Wird  ferner  der  Verlust  der 
physischen  und  sittlichen  Kraft  schlechthin  als  ein  un- 
ersetzbarer, wie  als  ein  durch  den  Fortschritt  der 
Zivilisation  an  sich  bedingter,  angesehen,  so  kann  auch 
dem  Kunstgenüsse,  den  die  Perioden  der  Sittenverfeine- 
rung gewähren,  der  Wert  eines  Ersatzes  nicht  zuer- 
kannt werden,  und  diesen  sprechen  ihr  in  der  Tat  die- 
jenigen Kritiker  der  ZiviHsation,  um  die  es  sich  hier 
handelt,  ausdrücklich  ab,  ohne  zwischen  der  edlen  und 
entarteten  Kunst  zu  unterscheiden.  Was  die  Kunst  pro- 
duziert, ist  Schein,  und  sich  an  dem  Scheinbilde  einer 
Kraft  und  Würde,  die  aus  dem  Leben  verschwunden 
sind,  zu  ergötzen,  eine  Schwäche,  oder  vielmehr  eine 
Oflfenbarung  der  Schwäche,  welcher  sich  diejenigen, 
denen  sie  zum  Bewußtsein  kommt,  schämen  müßten. 
Dieser  Betrachtungsweise,  so  einseitig  sie  ist,  können 
wir  unsrerseits  eine  gewisse  Berechtigung  nicht  abspre- 
chen; die  »Flucht«  vor  der  Wirklichkeit  in  die  »Welt 

99 


der  Ideale«  ist  in  der  Tat  kein  Beweis  sittlicher  Energie 
und  kann  diese  nicht  erzeugen,  wie  eine  Kunst,  die 
einem  derartigen  Fluchtbedürfnisse  entgegenkommt,  nicht 
die  rechte  Kunst  sein  kann,  sofern  wir  von  dieser  einen 
erziehlichen  Einfluß  verlangen  dürfen,  den  sie  allerdings 
nur  dann  übt,  wenn  sie  ihn  nicht  unvermittelt  üben  soll. 
Der  Umsatz  der  Ideale,  welche  die  Kunst  vergegenwär- 
tigt, in  Willensstrebungen  wie  in  den  Gewinn  der  Er- 
kenntnis muß  möglich  sein,  und  ist  es  nur  dann, 
wenn  einerseits  der  Kunstgenuß  kein  passives  Verhalten 
ist,  sondern  die  Tendenz  und  Fähigkeit,  das  Schöne 
selbsttätig  darzustellen,  hinter  sich  hat,  und  wenn  an- 
drerseits das  Kunstwerk,  wie  es  früher  der  Briefsteller 
treffend  ausgedrückt  hat,  die  Einheit  des  Möglichen  und 
Notwendigen,  und  daher  das  Jenseitige  als  ein  immer 
Diesseitiges  darstellt.  Geben  der  Künstler  und  sein  Pu- 
blikum, wo  es  sich  nicht  um  eine  »Abspiegelung«  der 
Wirklichkeit,  die  als  solche  den  Charakter  der  Selbst- 
gefälligkeit hat,  handelt,  die  Beziehung  zwischen  der 
idealen  und  wirklichen  Welt  unbedingt  auf,  so  ist  das 
Interesse  an  dem  idealen  Spiele  eine  Befriedigung  der 
Illusionssucht,  aus  welcher  nur  eine  geistlose  Zufrieden- 
heit oder  eine  energielose  Unzufriedenheit  resultieren 
kann.  Daher  ist  weiterhin  die  förmliche  Anklage  der 
Kunst  und  des  Kunstgenusses,  daß  sie  den  Charakter 
verderben  —  eine  Anklage,  zu  welcher  die  Kritiker  der 
Zivilisation  fortzugehen  pflegen  und  welche  von  dem 
Briefsteller  formuliert  wird  —  insoweit  begründet,  als 
das  Bedürfnis,  welchem  die  Kunst  dient,  auf  eine  leicht- 
hin »übertünchende«  Darstellung  der  WirkHchkeit  oder 
auf  die  zeitweilige  »Verzauberung«  in  eine  fremdartige 
Welt,   die   als   ein  Produkt   der   Willkür   gewußt   wird, 

lOO 


hinausläuft.  Eine  Kunst,  welche  entweder  der  verschö- 
nernde »Spiegel«  des  Lebens  sein,  d.  h.  über  die  Leer- 
heit und  Häßlichkeit  desselben  täuschen,  oder  aus  dieser 
Leerheit  und  HäßHchkeit  eine  »Zuflucht«  gewähren  soll 
und  will,  hat  die  sittliche  Korruption  zur  Voraussetzung 
und  ist  ein  fördernder  Faktor  derselben.  Wenn  aber  der 
Briefsteller  im  Namen  der  Kunstankläger  noch  besonders 
hervorhebt,  daß  die  Leidenschaften  aus  den  Gemälden 
der  Dichter  eine  gefährhche  Dialektik  erlernen,  und  daß 
»gegenwärtig«,  wo  die  Schönheit  dem  Umgange  Ge- 
setze gibt  —  »zwar  alle  Tugenden  blühen,  die  einen 
gefälHgen  Eindruck  in  der  Erscheinung  machen,  dafür 
aber  auch  alle  Ausschweifungen  und  Laster  herrschen, 
die  sich  mit  einer  schönen  Hülle  vertragen«,  so  ist  zu 
bemerken,  daß  der  MoraHst,  welcher  die  Sittlichkeit  ein- 
seitig in  die  Beherrschung  der  Leidenschaft  setzt,  die 
Perioden  der  Sittenverfeinerung  gegenüber  denen  der 
Sittenroheit  oder  Sittenrauheit  als  »unmoralischer«  zu 
kennzeichnen,  weder  psychologisch  noch  durch  die  histo- 
rische Erfahrung  berechtigt  ist,  daß  aber  auch  die  So- 
phistik  der  Leidenschaft  keineswegs  der  gesteigerten 
Zivilisation  insbesondere  zukommt,  sondern  im  Wesen 
der  Leidenschaft  liegt  und  von  den  Dichtern  der  Natur 
abgelauscht  wird,  so  daß  sie  sich  nur  formell  entwickelt 
und  ausbildet,  und  daß  endlich,  wenn  »gegenwärtig«  in 
der  Tat  der  Umgang  sein  Gesetz  in  der  Schönheit  fände, 
der  Zustand,  den  der  Briefsteller  als  Voraussetzung  und 
Einleitung  für  die  moralische  Wiedergeburt  der  Gesell- 
schaft verlangt,  eingetreten  wäre,  der  Briefsteller  also 
diese  Behauptung,  die  er  den  Anklägern  der  Kunst  in 
den  Mund  legt,  ausdrücklich  negieren  müßte  —  wie  er 
es  indirekt  in  seiner  Kritik  der  Arbeitsteilung  getan  hat 

lOI 


—  und  hierzu  die  Schönheit  von  ihrer  Alterform,  der 
modischen  Eleganz,  bestimmt  zu  unterscheiden  hätte,  was 
weder  jetzt  noch  späterhin  geschieht.  Denn,  wie  wir 
schon  erwähnt  haben,  appelliert  der  Briefsteller,  nachdem 
er  eine  Reihe  historischer  Tatsachen,  welche  für  die  Un- 
vereinbarkeit der  Freiheit  und  der  volkstümlichen  Kraft 
mit  der  Kunstblüte  zu  sprechen  scheinen,  von  der  Er- 
fahrung an  den  »Vernunftbegriff«  der  Schönheit,  dessen 
Entwicklung  den  größten  Teil  der  »Briefe«  in  An- 
spruch nimmt  und  in  eine  Nutzanwendung  ausgeht, 
über  deren  Tragweite  wir  uns  im  voraus  ausgesprochen 
haben. 

22.  Der  Kritiker  der  »Sittenverfeinerung«  oder  der  ge- 
steigerten Zivilisation  xat'  I^oxtjv  ist  Rousseau,  der  für 
diese  Kritik  von  der  Frage  des  Einflusses,  den  die  Künste 
und  Wissenschaften  auf  die  Sitten  ausüben,  ausging  und 
bis  zu  der  entschiedensten  Negation  der  zivilisierten  Ge- 
sellschaft oder  vielmehr  der  Gesellschaft  schechthin  ge- 
langte. Daher  erscheint  das  meiste,  was  der  Briefsteller 
die  Ankläger  der  Kunst  sagen  läßt,  als  ein  Extrakt  der 
Rousseauschen  Ausführungen,  deren  Ausführlichkeit  durch 
ihren  entschieden  rhetorischen  Charakter  bedingt  ist  — 
obgleich  dabei  ein  Moralbegriff  hervortritt,  der  dem  Rous- 
seauschen Standpunkte  nicht  entspricht,  sofern  wir  uns 
an  die  Konsequenz  Rousseaus  haken,  also  von  seinen 
Inkonsequenzen  und  dem  Standpunktswechsel,  den  eine 
rhetorische  Darstellung  bedingt,  absehen.  Über  das  Ver- 
hältnis aber,  in  welchem  die  Schillersche  Betrachtungs- 
weise zu  der  Rousseauschen  steht,  haben  wir  uns  im 
allgemeinen  schon  ausgesprochen,  und  heben  hier  nur 
hervor,  daß  die  Gegenüberstellung  von  Natur  und  Kunst, 
die  allerdings  im  Sprachgebrauche  begründet  ist,  ein  Ver- 

102 


dammungsurteil  über  die  Kunst  im  engeren  Sinne "  an 
sich  einschließt,  wenn  der  »Naturzustand«  als  derjenige 
proklamiert  ist,  den  die  Menschheit  nicht  hätte  verlassen 
sollen,  daß  Rousseau  die  Künste,  ohne  den  Charakter 
der  Kunstleistung  zu  unterscheiden,  unter  den  Begriff 
des  Luxus  —  der  überflüssigen  und  deshalb  unnatür- 
lichen Befriedigung  —  bringt,  also  das  Kunstbedürfnis 
als  ein  der  menschlichen  Natur  innewohnendes  nicht 
anerkennt,  und  diese  überhaupt  ihres  spezifischen 
Inhaltes  entleert,  um  dennoch  den  Adel  ihrer  Form 
für  den  zurückbleibenden  Inhalt,  der  mit  dem  der  Tier- 
heit  identisch  ist,  festzuhalten.  Wie  dagegen  Schiller  die 
Freiheit  von  der  Natur,  mittels  deren  der  Mensch  den 
natürlich  gegebenen  Zustand  selbsttätig  umschafft,  als  sein 
eigentliches  Wesen  auffaßt,  so  ist  ihm  die  Freiheit  von 
der  Notdurft,  also  der  Überfluß,  der  Anfang  und  die 
Vorbedingung  einer  menschenwürdigen  Existenz,  und 
insbesondere  auch  die  Vorbedingung  der  Kunst,  die  er 
als  ein  ursprüngliches,  aber  vom  Zwange  der  Notdurft 
zurückgehaltenes  Bedürfnis  begreift.  Aber  die  Entwick- 
lung des  Luxusbegriffes  und  der  Genesis  der  Kunst,  also 
der  ersten  und  notwendigen  Offenbarungen  des  Kunst- 
triebes folgt  erst  in  den  späteren  Briefen,  und  der  Brief- 
steller kommt,  wie  schon  gesagt,  nicht  darauf  zurück, 
derjenigen  Kritik  der  Kunst  und  Zivilisation,  die  er  hier 
sich  aussprechen  läßt,  ausdrücklich  entgegenzutreten  und 
sie  von  der  seinigen  abzuscheiden,  also  den  Unterschied 
zwischen  der  falschen  und  wahren  Kunst  wie  zwischen 
der  naturwidrigen  und  der  naturgemäßen  Zivilisation  ge- 
nügend auseinanderzusetzen,  weil  er  sich  begnügt,  die 
»Barbarei«  der  gegenwärtigen  Zivihsation  seinerseits  cha- 
rakterisiert zu  haben,  und,  von  dem  Begriffe  der  Schön- 

103 


hcit  ausgehend,  den  diesem  Begriffe  entsprechenden  Kunst- 
genuß als  eine  notwendige  Vermittlung  der  freien 
Sittlichkeit  nachzuweisen.  Wir  könnten  hiermit  wohl  zu- 
frieden sein,  insofern  die  Briefe  im  allgemeinen  das  Er- 
gebnis herausstellen,  daß  der  unästhetische  Charakter 
einer  Zivilisation  zugleich  ihre  Naturwidrigkeit  ausdrückt, 
daß  demnach,  um  die  menschliche  Natur  in  der  Zivili- 
sation zu  entwickeln  und  zu  erhalten,  die  ästhetische 
Erziehung  notwendig,  und  daß  es  der  Mangel  dieser 
ist,  auf  welchen  sich  die  Ausartungen  der  Kunst  wie  die 
Ausartungen  der  Zivilisation  überhaupt  zurückführen  las- 
sen. Aber  ein  Beweis,  der  historis  che  Einwendungen 
umgeht  oder  unberücksichtigt  läßt,  ist  niemals  imstande, 
uns  völlig  zu  überzeugen,  und  obgleich  die  Vergangen- 
heit nicht  den  einfachen  und  unbedingten  Maßstab  für 
das  in  der  Zukunft  Mögliche  abgibt,  sondern  vielmehr 
die  historische  Aufgabe  jedes  Zeitalters  eine  neue  wird, 
so  muß  sich  doch  andrerseits  die  historische  M!öglich- 
keit,  an  die  wir  glauben  sollen,  als  eine  solche  in  teil- 
weiser und  zeitweiliger  Verwirklichung  herausgestellt 
haben.  Wenn  es  daher  eine  historische  Tatsache  wäre, 
was  der  Briefsteller  weiterhin  die  Gegner  der  Kunst  ohne 
Entgegnung  behaupten  läßt,  daß  sich  die  Freiheit  und 
Volkskraft  mit  der  Blüte  der  Künste  niemals  zusammen- 
finden, so  müßte  uns  diese  Tatsache  gegen  die  Forde- 
rung einer  erziehlichen  Wirksamkeit  der  Kunst  und  des 
Kunstgenusses  sehr  bedenklich  stimmen,  und  über  diese 
Bedenklichkeit  könnte  uns  die  weitere  Forderung  einer 
Kunst,  die  noch  nicht  existiert  hat  und  sich  dem  Ver- 
nunftbegriffe der  Schönheit  gemäß  gestalten  soll,  un- 
möglich hinwegsetzen,  da  diese  zweite  Forderung  nur 
eine  fortgesetzte  Appellation  an  die  Zukunft  ist,  und  der 

104 


Briefsteller  selbst  die  ideale  Kunst  als  die  Erbschaft  einer 
schöneren  Zeit  charakterisiert  hat. 

Sollen  wir  uns  daher  überzeugen  können,  daß  in  der 
ästhetischen  Erziehung,  welche  den  Kunstgenuß  allge- 
mein ermöglicht  und  ihm  die  rechte  Form  gibt,  die 
Bürgschaft  einer  gesunden  Kultur  liegt,  so  dürfen  wir 
die  Annahme,  daß  die  Kunstblüte  durchweg  abgeschwäch- 
ten und  verderbten  Zeiten  angehöre,  und  daß  sich  hier- 
nach die  ästhetische  Kultur  als  unvereinbar  mit  der  poli- 
tischen Freiheit  und  der  Charakterenergie  darstelle,  nicht 
ohne  weiteres,  d.  h.  überhaupt  nicht  gelten  lassen.  In 
der  Tat  beruht  diese  Annahme  auf  einer  einseitigen  und 
unzulänglichen  Betrachtungsweise,  welche  einesteils  histo- 
rische Tatsachen,  die  gegen  sie  sprechen,  übersieht,  an- 
dernteils  zwischen  der  originellen  und  erkünstelten  Kunst- 
blüte keinen  Unterschied  macht,  die  Freiheit  wie  die 
sittliche  Energie  nur  unter  einer  bestimmten  Form  be- 
greift und  die  Bedingtheit  historischer  Zustände  ausein- 
anderzusetzen unterläßt.  Das  Mittelalter  hat  seine  Kunst: 
eine  eigentümliche  und  großartige  Architektur,  eine  Bild- 
nerei,  die  sich  mit  der  griechischen  nicht  vergleichen 
läßt,  aber  der  Sinnigkeit  nicht  entbehrt,  eine  Poesie,  die 
weder  an  Dürftigkeit  noch  an  Formlosigkeit  leidet,  und, 
wie  die  übrigen  Künste,  im  Volksleben  wurzelt;  das 
Mittelalter  aber,  welche  Beinamen  man  ihm  beilegen 
mag,  ist  sicher  keine  Zeit  der  Erschlaffung  und  Ver- 
sunkenheit.  Die  Araber,  welche  besonders  erwähnt  wer- 
den, haben  sich  allerdings  auf  die  Künste  und  Wissen- 
schaften, die  ihrer  Eigentümlichkeit  zusagten,  erst  dann 
geworfen,  als  der  religiöse  und  kriegerische  Enthusias- 
mus, der  sie  zu  stürmischen  Eroberern  machte,  zurück- 
getreten war,   aber  ein  solcher  Enthusiasmus  muß  sich 

105 


notwendig  erschöpfen,  ohne  daß  mit  dieser  Erschöpfung 
eine  physische  und  moraHsche  Abschwächung  ausge- 
sprochen wäre,  wie  es  sich  von  selbst  versteht,  daß  die 
kriegerische  und  die  friedlich  schaffende  Kraftentfaltung 
nicht  gleichzeitig  stattfinden  können,  insofern  sie  unge- 
wöhnliche sind,  daß  aber  ihr  Wechsel  möglich  ist  und 
bei  Völkern,  die  ihre  geschichtliche  Bedeutung  allmäh- 
lich entwickeln,  und  nicht,  wie  die  Araber,  aus  der  ge- 
schichtlichen Bedeutungslosigkeit  heraus  und  in  sie,  nach- 
dem sie  eine  glänzende  Rolle  rasch  abgespielt  haben, 
zurücktreten,  wirklich  stattfindet.  Daß  eine  ungewöhn- 
liche Energie,  die  sich  in  kriegerischen  und  friedlichen 
Erfolgen  offenbart,  die  Fähigkeit,  ein  freies  Staats- 
wesen zu  begründen,  nicht  notwendig  einschließt,  be- 
weist das  Beispiel  der  Araber  wie  noch  andere,  daß 
aber  die  Freiheitsbewegung  den  Künsten  und  Wissen- 
schaften nicht  nachteilig  ist,  das  Reformationszeitalter, 
welches,  in  seiner  Ausdehnung  gefaßt,  die  sogenannte 
»Wiederherstellung  der  Künste  und  Wissenschaften«  ein- 
schließt. Was  die  Griechen  und  Römer  betrifft,  deren 
Erbschaft  in  dieser  Restauration  angetreten  wurde,  so 
sind  die  Römer  von  Haus  aus  kein  Kunstvolk  und  es 
nie  geworden;  ihr  Pathos  war  die  nivellierende  Herr- 
schaft, ihre  Aufgabe  eine  praktisch-kosmopolitische, 
und  erst,  nachdem  sie  diese  als  praktisch-politische  ge- 
löst hatten  und  damit  sich  die  Konzentration  des  Volks- 
geistes  und  Volkswillens  löste,  begannen  sie,  sich  fremde 
Bildungen  formell  anzueignen  und  Rom  zu  einem  Sam- 
melplatze der  vorhandenen  Kulturschätze  und  der  tradi- 
tionellen Kulturfertigkeiten  zu  machen.  Bei  den  Griechen 
aber,  denen  die  Bezeichnung  eines  Kunstvolkes  im  ent- 
schiedensten Sinne  zukommt,   war  die  Kunstüburig  eine 

io6 


ursprüngliche  und  allseitige,  und  durch  sie  der  Charakter 
der  griechischen  Freiheit  und  Staatsgestaltung,  aber  nicht 
nur  sie,  sondern  auch  ihre  schöne  Kampffähigkeit 
bedingt.  Allerdings  trat  dann  weiterhin  der  Verfall  der 
Kunst  mit  dem  politischen  Verfalle  und  der  sittlichen 
Erschlaffung  nicht  zu  gleicher  Zeit  ein,  vielmehr  hatten 
die  Künste,  insbesondere  die  Plastik,  wie  die  Wissen- 
schaften ihre  letzte  Entwicklungsepoche,  nachdem  die 
politische  Auflösung  begonnen  hatte;  aber  diese  letzte 
Entwicklungsepoche  der  griechischen  Kunst  und  Wissen- 
schaft als  ihre  Blütezeit  zu  bezeichnen,  ist  kaum  zulässig, 
da  sie  sich  einerseits  durch  den  formellen  Abschluß  und 
die  scheidende  Ausarbeitung  des  Gegebenen,  andrerseits 
durch  eine  Mannigfaltigkeit  der  Darstellung,  welche  dem 
Privatbedürfnis  gerecht  werden  will,  charakterisiert,  also 
die  Auflösung  des  sittlichen  Volksgeistes  dokumentiert 
und  zu  einer  Erscheinung  bringt,  welche  allerdings  an 
sich  und  der  politisch-sittlichen  Zerrüttung  gegenüber 
eine  schöne  bleibt,  aber  schon  die  Spuren  der  Geschmacks- 
verweichlichung auf  der  einen,  der  Erschöpfung  des  eigent- 
lich schöpferischen  Vermögens  auf  der  anderen  Seite  an 
sich  trägt.  Hierbei  ist  im  allgemeinen  zu  bemerken,  daß 
wir  Modernen  uns  gewöhnt  haben,  die  Fülle  und  Höhe  des 
Kunsttriebes  einseitig  nach  den  Produkten  abzuschätzen, 
welche  als  Kunstschätze  späteren  Zeiten  überliefert  wer- 
den, also  von  der  unmittelbaren  und  lebendigen  Betäti- 
gung des  Kunsttriebes,  an  welcher  das  ganze  Volk  teil- 
nehmen kann  und  wirklich  teilnimmt,  abzusehen,  wäh- 
rend es  doch  gerade  auf  diese  für  die  genußvolle  und 
ästhetische  Existenz  ankommt.  Kunstwerke,  die  der 
Überlieferung  fähig  und  würdig  sind  und  die  für  alle 
Zeiten   ihren  Wert  behalten,   kann   ein   Volk   allerdings 

107 


nur  dann  produzieren,  wenn  es  ein  Kunstvolk  ist  oder 
doch  eine  Periode  künstlerischer  Tendenz  und  Fähigkeit 
als  Volk  hat;  aber  damit  ist  keineswegs  gesagt,  daß  die 
größte  Lebendigkeit  des  Kunsttriebes  im  ganzen  Volke 
mit  der  höchsten  Produktivität  der  Künstler  der  Zeit 
nach  zusammentrifft,  vielmehr  kann  die  letztere  eintreten, 
nachdem  sich  die  allgemeine  Tendenz  und  Fähigkeit 
der  Kunstschöpfung,  die  sich  in  allen  Volkstätigkeiten 
offenbart  und  das  lebendige  Kunstwerk  für  den  Moment 
des  Genusses  hervorbringt,  also  die  sich  stetig  fortsetzende 
schöne  Gestaltung  des  Volkslebens  ist,  erschöpft  hat. 
Dies  war  bei  den  Griechen  in  der  Tat  der  Fall,  sofern 
wir  unter  der  höchsten  Produktivität  der  Künstler  die 
weiteste  Ausdehnung  der  künstlerischen  Tätigkeit  ver- 
stehen, und  sonach  in  gewisser  Weise  der  Eifer,  mit 
welchem  die  plastische  Schönheit  fixiert  und  vervielfäl- 
tigt wurde,  in  dem  Bedürfnisse  eines  Ersatzes,  also  in 
dem  Hinschwinden  der  lebendigen  Schönheit,  die  eine 
sich  immer  neu  erzeugende  ist,  begründet. 

23.  Die  vorstehenden  Bemerkungen  genügen,  um  zu 
zeigen,  daß  die  Gegner  der  Kunst,  welche  ihre  Unverein- 
barkeit mit  der  Energie  des  Volkscharakters  und  der  poli- 
tischen Freiheit  behaupten,  an  die  historische  Erfahrung 
nicht  so  leicht  und  unwiderlegbar,  wie  sie  meinen,  ap- 
pellieren können.  Daß  es  aber  insbesondere  falsch  ist, 
die  eigentliche  Kunstblüte  in  den  Perioden  zu  suchen,  in 
denen  der  Luxus,  wie  man  das  Wort  zu  verstehen 
pflegt,  herrscht,  und  als  eine  wesentliche  Bedingung  der- 
selben das  Mäzenatentum  zu  betrachten,  werden  wir 
späterhin  besonders  hervorzuheben  Gelegenheit  erhalten, 
da  der  Briefsteller  den  Luxus  zwar  nicht  in  dem  Sinne 
der  raffinierten  Bedürfnisbefriedigung,   aber  in  dem  ein- 

108 


fächeren  des  Überflusses  an  Bedürfnismitteln  als  Vor- 
bedingung des  ästhetischen  Verhaltens  darstellt  — 
eine  Vorbedingung,  deren  Notwendigkeit  aufhört,  sobald 
das  ästhetische  Verhalten  eingetreten  ist,  da  die  ästhe- 
tische Befriedigung  zwar  das  Gestilltsein  der  Notdurft 
voraussetzt,  aber  des  realen  Stoffes  nur  insoweit  bedarf, 
als  er  zur  Herstellung  des  Scheines  erforderlich  ist. 
Von  dem  Luxus  in  dem  Sinne  der  raffinierten  Bedürfnis- 
befriedigung, d.  h.  derjenigen,  welche  das  materielle  Be- 
dürfnis als  solches  übertreibt  und  vervielfältigt,  scheidet 
der  Briefsteller  die  ästhetische  Befriedigung  streng  genug 
ab,  und  zwar  schon  durch  die  nächstfolgenden  Erörte- 
rungen, welche  den  Formtrieb  als  den  Ausdruck  der 
spezifisch  menschlichen  Natur  charakterisieren.  Zu  diesen 
Erörterungen  aber  geht  der  Briefsteller  über,  indem  er 
die  historischen  Einwände  gegen  die  erziehliche  Wirk- 
samkeit der  Kunst,  die  er  selber  formuliert  hat,  auf  sich 
beruhen  läßt  und  den  Vernunftbegriff  der  Schönheit  ent- 
wickeln zu  wollen  erklärt.  Wie  wir  indessen  nicht  um- 
hin konnten,  diese  Einwände  wenigstens  vorübergehend 
zu  berücksichtigen,  so  müssen  wir  jetzt  daran  erinnern, 
daß  der  Briefsteller  in  dem  gegenwärtigen  Zeitalter,  wel- 
ches die  Charaktermerkmale  der  Roheit  und  Erschlaffung 
vereinigt,  die  »schmelzende«  und  die  »anspannende«  Wir- 
kung der  Schönheit  gleichzeitig  in  Anspruch  nimmt. 
Liegt  nun  diese  gleichzeitige  Wirkung  als  solche  im  Be- 
griffe der  Schönheit,  so  kommt  mittels  des  erziehlichen 
Zweckes,  welcher  der  Kunst  beigelegt  ist,  zu  der  inneren 
Notwendigkeit,  welche  der  Begriff  der  Schönheit  ent- 
hält, eine  äußere:  der  in  der  gegenwärtigen  Zivilisa- 
tion gegebene  Dualismus  der  Unbildung  und  der  ein- 
seitigen Überbildung.   Diese  äußere  Notwendigkeit  wäre 

109 


bei  dem  einfachen  Fortschritte  von  dem  rohen  Natur- 
zustande zu  der  Sittenverfeinerung  nicht  vorhanden,  son- 
dern die  anspannende  Wirkung  der  Schönheit  hätte  zu 
beginnen,  wenn  ihre  schmelzende  erzielt  wäre.  Da  aber 
die  »Erfahrung«,  welche  der  Briefsteller  sprechen  läßt,  nur 
die  schmelzende  Wirkung  der  Schönheit  kennt,  so  müßte, 
wenn  diese  Erfahrung  richtig  wäre,  die  Kunst  bisher  eine 
einseitige,  nur  der  schmelzenden  Wirkung  fähige  ge- 
wesen sein,  oder  ohne  diese  Einseitigkeit  die  anspan- 
nende Wirkung  dennoch  verfehlt  haben.  Gegen  die  erstere 
Annahme  hat  sich  der  Briefsteller  dadurch  ausgesprochen, 
daß  er  auf  die  Kunst  einer  bestimmten  Vergangenheit,  auf 
die  griechische  Kunst,  als  eine  ewig  mustergültige  zurück- 
weist; daß  aber  diese  oder  irgendeine  Kunst  in  einem 
schon  verderbten  Zeitalter  anspannend,  also  stärkend 
und  restaurierend  gewirkt  habe,  wird  von  ihm  nicht  be- 
hauptet und  kann  nicht  behauptet  werden.  Die  Erfah- 
rung ist  berechtigt,  die  restaurierende  Wirkung  der  Kunst 
zu  leugnen,  obgleich  sie,  wie  wir  kurz  ausgeführt  haben, 
nicht  berechtigt  ist,  die  Unvereinbarkeit  des  Kunstgenusses 
mit  der  Charakterenergie  zu  behaupten  und  eine  zugleich 
mildernde  und  kräftigende  Wirkung  desselben  für  die 
Zeiten  zu  leugnen,  in  denen  sich  die  Zivilisation  noch 
nicht  ausgeprägt  hat. 

Wodurch  soll  also  die  restauratorische  Wirkung 
der  Kunst  in  der  Gegenwart  erreicht  werden,  da  sie 
die  einseitig  anspannende  Wirkung  nicht  herauskehren 
darf,  indem  sie  zugleich  mildernd  und  schmelzend  auf 
die  Roheit  zu  wirken  hat?  Diese  Frage  läßt  der  Brief- 
steller unbeantwortet  hinter  sich,  und  das  höchste  Kunst- 
ideal, das  er  entwickeln  und  dessen  Verwirklichung  er 
von  der  Zukunft  fordern  mag,  kann  als  eine  genügende 

iio 


Antwort  nicht  gelten.  Denn  wenn  auch  Geschmack  und 
Bedürfnis  die  schöpferische  Kunsttätigkeit  nicht  beherr- 
schen, d.  h.  die  letztere  wenigstens  teilweise  eine  freie 
ist,  so  wird  doch  das  Kunstwerk  bedürfnis-  und  ge- 
schmacksgemäß genossen,  und  die  schmelzende  Wirkung 
muß  gerade  für  die  Roheit,  die  anspannende  gerade  für 
die  Erschlaffung  verloren  gehen,  sofern  dasselbe  Kunst- 
werk, das  auf  diese  doppelte  Wirkung  angelegt  ist,  einem 
rohen  und  einem  verweichlichten  Publikum  unvermittelt 
entgegentritt.  Was  also  die  Kunst  erzielen  soll,  die  Aus- 
gleichung des  Dualismus,  der  sich  in  dem  Nebenein- 
ander des  rohen  und  des  erschlafften  Geschmackes,  der 
Unbildung  und  der  Verbildung  ausdrückt,  ist  die  Voraus- 
setzung der  rechten,  d.  h.  derjenigen  Empfänglichkeit, 
welche  im  Kunstgenüsse  die  innere  Ergänzung  und  Wie- 
derherstellung sucht.  Die  Roheit  läßt  die  schmelzende, 
die  Entnervung  läßt  die  anspannende  Schönheit  nicht  an 
sich  herankommen,  beide  aber  finden  in  dem  dargebo- 
tenen Kunstwerke  ihnen  zusagende  Elemente,  also  die 
Befriedigung  des  unmittelbaren  Bedürfnisses,  welches  trotz 
dieser  Unmittelbarkeit  bei  der  Roheit  nicht  weniger  wie 
bei  der  Entnervung  ein  entartetes  ist  Damit  ist  gesagt, 
daß  die  Roheit  und  die  Entnervung  als  solche  eines  bil- 
denden und  stärkenden  Kunstgenusses  unfähig  sind,  daß 
sie  aufgehoben  werden  müssen,  um  das  wahre  Kunst- 
bedürfnis zu  erzeugen  und  die  rechte  Kunstwirkung  zu 
ermöglichen,  indem  ein  Genuß,  für  welchen  das  Organ 
nicht  vorhanden  oder  abgestumpft  ist,  die  Bedürfnisent- 
artung fördert,  daß  also  eine  Bildung  für  den  Kunst- 
genuß, welche  nicht  die  Aufgabe  des  schaffenden  Künst- 
lers sein  kann,  unerläßlich  ist,  um  diesen  letzteren  mit 
Erfolg  eintreten  und  s  e  i  n  e  Wirksamkeit  entfalten  lassen 


III 


zu  können.  Nur  unter  der  Voraussetzung  der  ästheti- 
schen Genußfähigkeit  ist  ein  freies  ästhetisches  Verhalten 
des  Künstlers  möglich  und  zulässig;  ohne  diese  Voraus- 
setzung sieht  er  sich  entweder  genötigt,  das  unästhe- 
tische Bedürfnis  einfach  zu  befriedigen,  oder  den  päd- 
agogischen Zweck  in  einer  Weise  aufzufassen  und  her- 
auszustellen, die  mit  seiner  ästhetischen  Freiheit  so  wenig 
verträglich  ist  wie  die  unedle  Hingabe  an  das  entartete 
Bedürfnis.  Jedenfalls  aber  würde  er  bei  einem  pädago- 
gischen Willen  unpädagogisch  verfahren,  wenn  er 
auf  das  vorhandene  Bedürfnis  in  keiner  Weise  eingehen, 
sondern  sich  ihm  entgegensetzen  und  seine  Umwand- 
lung durch  das  dargebotene  Genußobjekt  erzwingen  wollte, 
statt  das  höhere  Interesse,  an  das  vorhandene  anknüpfend, 
zu  erzeugen,  und  das  gegebene  Bedürfnis  durch  seine 
Befriedigung  zu  veredeln.  Eben  um  dies  zu  tun,  muß 
der  Künstler,  wie  der  Briefsteller  früher  verlangte,  seinen 
»Stoff  der  Gegenwart  entnehmen«,  da  dieser  »Stoff«  kein 
anderer  sein  kann  als  die  Leidenschaften  und  Interessen, 
welche  in  der  jedesmaligen  Gegenwart  die  herrschenden, 
das  Leben  bewegenden  und  gestaltenden  sind,  und  welche 
dasjenige  Bedürfnis,  das  sich  auf  die  Darstellung 
richtet,  in  einer  künstlich  geschaffenen  Wirklichkeit  wie- 
derfinden will.  Dieses  Bedürfnis  aber,  dem  der  Künstler, 
um  zu  wirken,  gerecht  werden  muß,  ist  weder  an  sich 
ein  ästhetisches,  noch  verliert  es  als  ästhetisches  die 
historische  Bestimmtheit.  Wir  finden  demnach,  daß  die 
Freiheit  des  Künstlers,  welche  der  Briefsteller  in  An- 
spruch nimmt,  mit  einer  so  ausdrücklichen  und  ein- 
gehenden pädagogischen  Tendenz  und  Wirksamkeit,  wie 
sie  durch  den  Zweck,  die  Geschmacksverrohung  und  Ge- 
schmacksverweichhchung  zu  überwinden,   geboten  wäre, 

112 


nicht  vereinbar  ist,  daß  also  jene  Freiheit  durch  die  ästhe- 
tische Erziehung,  und  zwar  durch  eine  gründliche  wie 
allgemeine  ermöglicht  werden  muß,  aber  auch  dann, 
wenn  sie  diese  Voraussetzung  hat,  in  und  mit  der  Ab- 
straktion von  der  historischen  Bestimmtheit  des  Zeit- 
alters nicht  bestehen  kann,  sofern  sich  die  Kunst  nicht 
in  ein  inhaltsloses  Formenwesen  verlieren  und  der  Wirk- 
samkeit, welche  ihr  die  ästhetische  Erziehung  ermög- 
licht, verlustig  gehen  soll.  Eben  deshalb  kann  und  muß 
zwar  das  allgemeine  Gesetz  der  Schönheit  »auf  dem 
Wege  der  Abstraktion«  gesucht  werden,  es  hat  aber  als 
solches  nur  eine  negative  Kraft  und  Bedeutung,  indem 
es,  in  das  allgemeine  Bewußtsein  übergegangen,  die  ge- 
dankenlose Genügsamkeit  auflöst  und  eine  Schranke  gegen 
die  Verirrungen  und  Entartungen  der  Kunst  ist,  deren 
positive  Aufgaben  sich  aus  dem  Verständnis  der  Zeit, 
dem  Verständnis  dessen,  was  in  ihr  treibt,  wozu  sie 
angelegt  und  was  ihr  notwendig  ist,  ergeben.  Läßt  sich 
dieses  Zeitverständnis  als  ein  pädagogisches  bezeichnen, 
so  hat  der  Künstler  die  Resultate  der  Pädagogik  an-  und 
aufzunehmen,  wie  die  Wirksamkeit  des  Pädagogen  fort- 
zusetzen, er  kann  aber  nicht  an  die  Stelle  desselben  treten 
und  ihn  ersetzen.  •  ' 

24.  Von  dem  Gegensatze  der  »Person«  —  des  Selbst  — 
und  des  Zustandes  ausgehend,  bestimmt  der  Briefsteller 
die  Person  als  das  Unveränderliche,  den  Zustand  als  das 
Veränderliche,  und  folgerecht  die  Veränderung  des  Zu- 
standes als  ein  »Erleiden«,  an  welchem  das  Selbst  seine 
Unveränderlichkeit  herausstellt  und  welches  es  durch 
seine  Tätigkeit  aufhebt.  »Nur  indem  sich  der  Mensch 
verändert,  existiert  er;  nur  indem  er  unveränderlich 
bleibt,  existiert  er«.  Ohne  die  Veränderung  des  Zustandes 

Deinhardt,  Schiller.      8 


bliebe  das  Ich  in  sich,  also  unentwickelt,  in  der  Ver- 
änderung, die  es  aufhebt,  hat  es  seine  fortgesetzte 
Offenbarung  und  Verwirklichung.  Das  Ich  kann  aber  die 
Veränderung  nur  dadurch  aufheben,  daß  es  dieselbe  selbst 
und  sich  gemäß  setzt,  also  die  Folge  der  Verände- 
rungen normiert  und  das  Veränderliche  formt.  Norm  und 
Form  sind  die  Erscheinung  des  Unveränderlichen  in 
der  Veränderung  und  an  dem  Veränderlichen,  welches 
letztere  die  Materie  ist.  Um  also  das  Unveränderliche, 
welches  es  selbst  ist,  fortgesetzt  zur  Erscheinung  zu 
bringen,  bedarf  das  Ich  der  Materie,  deren  Veränderungen 
es  zu  erleiden  hat,  um  sie  bestimmen  zu  können,  und 
an  welcher  es  die  Form  trotz  der  Veränderungen,  die 
von  ihm  unabhängig  sind,  fortsetzt.  Hieraus  folgt  für 
das  Ich  die  Notwendigkeit  des  Erleidens  —  der  Emp- 
findung —  und  einer  Tätigkeit,  welche  das  Innere  — 
die  Form  —  veräußert,  indem  sie  das  Äußere  formt. 
Wird  diese  doppelte  Notwendigkeit  als  Trieb  ausgedrückt, 
so  ist  der  Trieb  der  Empfindung  und  der  Trieb  der 
Formtätigkeit  zu  unterscheiden.  Der  Briefsteller  setzt  beide 
Triebe  einander  entgegen,  indem  er  den  ersteren  den 
sinnlichen  nennt  und  aus  dem  physischen  Dasein  des 
Menschen  ableitet,  während  der  zweite  aus  seinem  ab- 
soluten Dasein,  seiner  vernünftigen  Natur  hervorgehen 
soll.  Dieser  Gegensatz  aber  kann  kein  ursprünglicher, 
sondern  muß  in  der  Einheit  des  menschlichen  Seins  von 
vornherein  gelöst  sein,  weil  er  sonst  überhaupt  nicht 
zur  Lösung  gelangen  könnte,  und,  wie  der  Briefsteller 
später  mit  Recht  bemerkt,  die  einfache  Unterordnung 
des  einen  unter  den  anderen  Trieb  eine  solche  Lösung, 
d.  h.  die  Herstellung  der  an  sich  vorhandenen  Einheit 
nicht   ist.    Soll   der   Empfindungstrieb   dem  physischen 

114 


Dasein  des  Menschen  entspringen  oder  angehören,  so 
muß  es  auch  der  Formtrieb,  da  jedes  besondere  Sein  ein 
sich,  d.  h.  die  Materie,  die  es  hat  und  erhäh,  formen- 
des ist,  und  nicht  diese  Formtätigkeit,  wohl  aber  die 
Empfindung  die  Reflexion,  also  eine  InnerHchkeit  und 
Äußerlichkeit  oder  ein  Verhalten  des  besonderen  Seins 
zu  dem,  was  außer  ihm  ist,  bedingt.  Die  Pflanze  formt 
sich,  wie  wir  annehmen,  empfindungs-  und  bewußtlos, 
das  Tier,  welches  empfindet,  unterscheidet  sich  deshalb 
von  der  Außenwelt  und  weiß  sich  als  Zweck.  Wäh- 
rend daher  der  Formtrieb,  insofern  er  ohne  Empfindung 
wirkt  oder  plastisches  Prinzip  ist,  das  Äußere,  das  ihm 
Materie  ist,  tatsächlich  in  der  gestaltenden  Verinne- 
rung  aufhebt,  wird  in  der  reflektierten  Empfindung  das 
Äußere  verinnert,  ohne  seinen  objektiven  Bestand  zu 
verHeren,  d.  h.  die  Empfindung  ist  die  höhere  Form 
der  Assimilation,  der  Tätigkeit,  welche  das  Äußere 
zum  Zwecke  der  Selbstgestaltung,  die  als  solche  Ob- 
jektivierung des  Selbst  ist,  verinnert.  Denn  indem  die 
Empfindung  das  gestaltete  oder  sich  gestaltende  Äußere 
zur  Reflexion  bringt,  indem  sie  also  die  Objekte  als 
solche  verinnert,  gewinnt  sie  einen  Inhalt  der  Innerlich- 
keit, der  als  das  andere  des  Selbst  gegenständlich  bleibt 
und  dennoch  in  seinem  Besitz  ist;  sie  verwirklicht  mit 
anderen  Worten,  indem  sie  die  Objekte  in  Vorstellungen 
umsetzt,  das  Bewußtsein.  Allerdings  ist  diese  Ver- 
wirklichung des  Bewußtseins  mittels  der  Empfindung  als 
extensive  und  intensive  durch  die  an  sich  gegebene 
Innerlichkeit,  die  zu  dem  Begriffe  des  Selbst  ein  be- 
stimmtes Verhältnis  hat,  bedingt,  sie  ist  also  eine  be- 
schränkte und  partielle,  wo  die  gegebene  Innerlichkeit 
den  Begriff  des  Selbst  nicht  erfüllt.    Eben   hieraus   folgt 

115 


aber,  daß,  wenn  man  den  Formtrieb,  dessen  bewußtlose 
Wirksamkeit  eine  Tatsache,  der  also  in  dem  physischen 
Dasein  gegeben  ist,  als  Äußerung  des  Vernunftdaseins 
auffaßt  oder  ihn  aus  der  vernünftigen  Natur  des  Men- 
schen ableitet,  auch  den  Empfindungstrieb,  wie  er  im 
Menschen  wirksam  ist,  also  weil  er  im  Menschen  das 
menschliche  Bewußtsein  verwirklicht,  aus  dem  Ver- 
nunftdasein hervorgehen  lassen  muß.  Da  nun  einerseits 
der  Empfindungs-  wie  der  Formtrieb  in  dem  physischen 
Dasein  als  solchem  gegeben  sind  und  sich  entwickein, 
andrerseits  im  Bereiche  der  menschlichen  Natur  eine  spe- 
zifische, durch  das  Selbstbewußtsein,  welches  sie  ver- 
wirklichen, bedingte  Gestalt  annehmen,  so  ist  klar, 
daß  keiner  von  beiden  Trieben  einseitig  aus  dem  phy- 
sischen oder  dem  Vernunftdasein  abzuleiten  ist.  Seinem 
Begriffe  gemäß  muß  sich  das  Selbst  der  Wirksamkeit 
beider  Triebe,  insofern  sie  eine  ihm  äußerliche  und  selb- 
ständige ist,  entgegensetzen;  dies  kann  aber,  da  das 
Selbst  durch  sein  Verhältnis  zur  Objektivität  ist,  nur 
so  geschehen,  daß  es  beide  Triebe  in  sich  aufnimmt 
und  zu  »Vernunfttrieben«  umsetzt,  oder  vielmehr  als 
existierendes  aufgenommen  und  umgesetzt  hat.  Dieser 
Umsatz  indessen  wäre  unmöglich,  wenn  der  Empfin- 
dungs- und  Formtrieb,  soweit  ihre  Wirksamkeit  eine 
objektive  ist  und  bleibt,  der  Vernunft  schlechthin  äußer- 
lich und  nicht  vielmehr  die  Äußerungen  der  absoluten 
Vernunft  wären,  welche  zu  dem  existierenden,  d.  h.  fort- 
gesetzt in  die  Existenz  und  ihre  Bedingtheit  eintretenden 
Selbstbewußtsein  zurückgelangen. 

Hieraus  folgt,  daß  der  Formtrieb,  wie  der  Empfin- 
dungstrieb, im  menschlichen  Dasein  als  ein  natürlicher, 
d.  h.  als  ein    an  sich    gegebener  und  von  der  Tätigkeit 

ii6 


des  Selbstbewußtseins  unabhängiger  wirksam  ist,  daß 
aber  die  natürliclie  Existenz  des  Menschen  seiner  Be- 
stimmung entsprechen,  also  der  Empfindungstrieb,  wie 
der  Formtrieb,  von  vornherein  dem  Bedürfnis  des  Selbst- 
bewußtseins gemäß  bestimmt  sein  muß.  Denn  wäre  dies 
nicht  der  Fall,  so  wäre  das  entwicklungsfähige  Selbst 
nicht  als  solches  in  die  Existenz  getreten,  und  es  würde 
ihm  demnach  die  zu  seiner  Entwicklung  unerläßliche 
Voraussetzung,  die  reale  Möglichkeit  des  Verhältnisses 
zur  Objektivität  fehlen.  Wir  haben  also,  um  die  Sache 
einfach  auszudrücken,  zu  sagen,  daß  der  Mensch  not- 
wendig seiner  Bestimmung  gemäß,  d.  h.  zur  Betätigung 
des  Selbstbewußtseins  organisiert  ist,  und  daß  in 
dieser  Organisation  seine  Existenz  schlechthin,  also  alle 
seine  Triebe  und  Vermögen  und  alle  Organe  derselben 
begriffen  sind.  Insofern  der  Formtrieb  als  plastisches 
Prinzip  wirkt,  verwirklicht  er  —  die  Materie  assimilie- 
rend und  rezeptiv  aufhebend  —  den  an"  sich  gegebenen 
Organismus,  der  zum  »Ergreifen  der  Welt«  allseitig  an- 
gelegt ist;  insofern  er  aber  der  Trieb  des  Wirkvermö- 
gens ist,  also  die  Objekte  als  äußerliche  umzugestalten 
strebt,  assimiliert  er  dieselben  teils  dem  menschlichen 
Da^einsbedürfnisse,  teils  der  von  ihnen  gewonnenen  An- 
schauung gemäß.  Zwischen  diesen  beiden  Betätigungen 
des  Formtriebes,  die  in  verschiedener  Weise  assimilie- 
rende sind  und  von  denen  die  erstere,  die  rezeptive,  den 
Charakter  der  Bewußtlosigkeit,  die  zweite,  die  aktive, 
das  Bewußtsein  der  Existenzzwecke  und  das  Bewußtsein 
der  Form  als  solcher  hinter  sich  hat,  liegt  die  Betäti- 
gung des  Empfindungstriebes  und  Empfindungsvermö- 
gens, welche  einerseits  den  als  plastisches  Prinzip  wir- 
kenden Formtrieb  in  gleicher  Weise  wie  die  Betätigung 

117 


des  Wirkvermögens  erregt  und  bestimmt,  und  mittels 
deren  sich  andrerseits  das  Bewußtsein  produziert,  und 
zwar  als  Bewußtsein  des  Existenzzweckes  und  als  Be- 
wußtsein der  Objektivität,  die  ihre  Einheit  in  dem  Selbst- 
bewußtsein haben  und  finden.  Hieraus  ergibt  sich,  daß 
der  Formtrieb,  insofern  wir  ihn  dem  Assimilationstriebe 
gleichsetzen  oder  als  solchen  ausdrücken  können,  drei 
unterschiedene  Formen  der  Betätigung  hat,  deren  mitt- 
lere und  das  Bewußtsein  vermittelnde  die  Betätigung  des 
Empfindungstriebes  ist.  Bezeichnen  wir  aber  als  die  hö- 
here Form  des  Assimilationstriebes  —  diejenige,  durch 
welche  der  Mensch  genötigt  und  befähigt  ist,  die  Ob- 
jektivität selbst  zu  setzen  —  den  Offenbarungstrieb, 
den  Trieb,  die  im  Bewußtsein  gestaltete  Innerlichkeit  zu 
objektivieren  oder  zu  formeller  Existenz  zu  bringen,  so 
muß  derselbe  zu  den  unterschiedenen  Arten  der  Assimi- 
lation ein  bestimmtes  Verhältnis  haben,  also  in  ihnen 
und  durch  sie  zu  einer  unterschiedenen,  aber  zusammen- 
greifenden Wirksamkeit  gelangen.  Insofern  der  Offen- 
barungstrieb sich  des  plastischen  Prinzips  bemächtigt,  ist 
er  die  Tendenz  der  bewußten,  aber  unmittelbaren  Selbst- 
gestaltung und  Selbstdarstellung,  insofern  er  im  Emp- 
findungsvermögen wirkt,  strebt  er  die  Innerlichkeit  der 
Objekte  zu  erschließen  und  zu  fixieren,  und  die  sub- 
jektive Innerlichkeit  als  bewegte  zu  produzieren;  inso- 
fern er  die  Aktivität,  welche  die  Objekte  als  äußere  um- 
formt, beherrscht,  ist  er  objektiver  Darstellungstrieb. 
Während  also  in  der  Assimilation  die  Tätigkeit,  mittels 
deren  sich  der  Mensch,  das  »Erleiden«  aufhebend,  der 
eindringenden  »Materie«  entgegensetzt,  insoweit  eine  ne- 
gative bleibt,  als  sie  der  Nötigung  entspringt,  und  inso- 
weit sie  das  Erleiden,  d.  h.  das  Eindringen  des  Anderen, 

ii8 


und  die  Bedürftigkeit,  d.h.  die  Leere,  aufheben  muß, 
eine  unfreie  ist,  bedingt  der  Offenbarungstrieb  die  freie, 
nicht  von  dem  Gefühl  des  Leidens  und  der  Leere,  son- 
dern von  dem  des  Vermögens  ausgehende  Tätigkeit,  und 
hat  als  Produkt  den  positiven  Gegensatz  der  gege- 
benen Objektivität,  in  welchem  diese  als  nicht  gegebene 
reproduziert  ist.  Sonach  erhält  das  Moment  der  Re- 
aktion, welches  in  allen  Assimilationstätigkeiten  ent- 
halten ist  und  in  der  Empfindung  die  Reflexion  bedingt, 
soweit  der  Offenbarungstrieb  in  Wirksamkeit  tritt,  einen 
positiven  Inhalt  und  eine  positive  Form,  es  schlägt  also, 
indem  es  zur  Selbständigkeit  gelangt,  in  eine  schöpfe- 
rische Tätigkeit  um,  die  unmittelbar  für  das  Bewußt- 
sein oder  für  eine  Empfänglichkeit,  die  der  Produktions- 
tendenz nicht  nur  entspricht,  sondern  diese  in  der  Form 
der  Bedürftigkeit  ist,  hervortritt  und  wirkt,  folglich  das 
Gegenüber  dieser  rezeptiven  Tätigkeit  bedarf,  um 
sich  selber  durchzusetzen,  und  zu  dem  zu  werden,  was 
sie  an  sich  ist,  einem  fortgesetzten  idealen  Zeugungs- 
akte. 

25.  Es  ist  leicht  zu  sehen,  daß  wir  mittels  der  vorigen 
Auseinandersetzung  auf  dem  kürzesten  Wege  zu  der 
Notwendigkeit  des  ästhetischen  Verhaltens  und  zu  der 
Genesis  der  Kunst  gelangt  sind,  da  jene  Notwendigkeit 
und  diese  Gestaltung  eines  Vermögens,  das  sich  in  den 
Künstlern  zur  zeugenden  Aktivität  potenziert,  aus  der 
spezifischen  Anlage  der  menschlichen  Natur,  die  wir  als 
Offenbarungstrieb  bezeichnet  haben,  abgeleitet  werden 
können  und  müssen.  Dessenungeachtet  dürfen  wir  die 
weitere  Erörterung  des  zwischen  der  sinnlichen  und  ver- 
nünftigen Natur  des  Menschen  angenommenen  Gegen- 
satzes nicht  umgehen,   um  von   diesem  Ausgangspunkte 

119 


aus  und  indem  wir  der  Deduktion  des  Briefstellers 
folgen,  die  Begriffe  der  Freiheit  und  Sittlichkeit  und 
das  Verhältnis  des  sittlichen  zu  dem  ästhetischen  Ver- 
halten unsererseits  festzustellen.  Der  Briefsteller  sucht, 
nachdem  er  den  sinnlichen  und  den  Vernunfttrieb  ein- 
ander entgegengesetzt  hat,  ihre  Vermittlung,  die,  wie  er 
sagt,  in  einem  dritten  Grundtriebe  nicht  bestehen  kann, 
und  daher  als  ein  herzustellendes  Wechselver- 
hältnis beider  bestimmt  wird.  Für  dieses  Verhältnis  aber 
kommt  es  nach  seiner  Darstellung  zunächst  darauf  an, 
die  Wirksamkeit  beider  Triebe  gegeneinander  abzugrenzen 
und  den  einen  wie  den  anderen  zu  möglichster  Voll- 
kommenheit zu  entwickeln.  Sie  sollen  also  neben- 
einander und  ohne  ihre  Grenzen  zu  überschreiten, 
wirken,  und  können  dies,  weil  »sich  zwar  ihre  Tendenzen 
widersprechen,  aber  nicht  in  denselben  Objekten,  und 
was  nicht  aufeinander  trifft,  nicht  gegeneinander  stoßen 
kann«.  Der  sinnliche  Trieb  soll  Veränderung  nur  im 
sinnlichen  Gebiete,  der  Vernunfttrieb  Einheit  und  Be- 
harrlichkeit nur  im  Gebiete  der  Persönlichkeit,  d.  h.  so- 
weit die  Person  in  und  bei  sich  selbst  ist,  fordern. 
Weiterhin  soll  der  sinnliche  Trieb  die  größtmöglichste 
Veränderlichkeit,  also  die  größtmöglichste  Ausdehnung 
der  Berührungsfläche  zwischen  der  Welt  und  dem  Sub- 
jekt, der  Formtrieb  die  höchste  Unabhängigkeit  und  In- 
tensität des  Vernunftvermögens  verlangen  und  durch  die 
Kultur  erhalten.  Damit  ist  aber  nur  die  Koordination, 
d.  h.  eine  Art  der  Koordination,  aber  nicht  die  gegen- 
seitige Subordination,  d.  h.  ein  wirkHches  Verhältnis  der 
beiden  Triebe  ausgesprochen,  und  dieses  Verhältnis  ist 
undenkbar,  wenn  sie  in  der  Tat  unabhängig  voneinander 
wirken,    und  wenn   die  Unabhängigkeit,    die   ihnen   zu- 

120 


kommt,  ausdrücklich  durchgesetzt  wird.  Entwickeh  sich 
das  empfangende  Vermögen  unabhängig  von  dem  be- 
stimmenden, so  dürfen  die  Eindrücke,  die  es  »leidend« 
erhält  und  zu  erleiden  sucht,  nicht  zur  Reflexion  kom- 
men und  durch  diese  die  faktische  Mannigfaltigkeit,  das 
äußerliche  Neben-  und  Nacheinander  derselben  aufge- 
hoben werden;  soll  das  bestimmende  Vermögen  unab- 
hängig von  dem  empfangenden  wirken,  so  darf  es  keinen 
gegebenen  Inhalt  bestimmen,  es  muß  also  von  dem  Sein, 
das  zur  Empfindung  gelangt,  fortgesetzt  abstrahieren  — 
eine  Abstraktion,  welche  der  Rückzug  von  der  Realität 
und  von  der  realen  Tätigkeit  ist.  In  der  Entwicklung 
des  empfangenden  Vermögens  als  solchem  würde  sich 
demnach  das  Selbst  an  die  Welt,  in  der  abstrakten  Selbst- 
bestimmung in  sich  selbst  verlieren,  oder  der  Mensch 
würde,  wie  es  der  Briefsteller  selbst  bezeichnend  aus- 
drückt, »in  dem  einen  Falle  nie  er  selbst,  in  dem  an- 
deren nie  etwas  Anderes,  mithin  in  beiden  Fällen  keines 
von  beiden,  folglich  Null  sein«.  Diese  Nullität  kann  aber 
durch  die  Gleichzeitigkeit  oder  das  Nebeneinander  der 
sich  unabhängig  entwickelnden  Empfänglichkeit  und  der 
abstrakten  Selbstbestimmung  nicht  aufgehoben  werden, 
da  ein  doppelter  Verlust  kein  Gewinn  ist,  und  während 
der  Briefsteller  das  Resultat  —  die  Nullität  des  Selbst  — 
einseitig  in  dem  Über-  und  Vorgreifen  des  einen  Triebes 
in  das  Gebiet  des  anderen  begründet  sieht,  müssen  wir 
den  Grund  desselben  in  der  abstrakten  Scheidung  beider 
Gebiete,  also  gerade  darin  finden,  daß  für  die  wider- 
sprechenden Tendenzen  auch  noch  ein  getrenntes  Ob- 
jekt gesetzt  wird. 

Allerdings  haben  wir  anzuerkennen,  daß  der  Eindruck 
oder  das  Erleiden  nicht  unmittelbar  auf  die  Selbstbestim- 


121 


mung  einwirken  oder  die  bestimmende  Tätigkeit  zu  einer 
bestimmten  machen,  die  bestimmende  Tätigkeit  die  Ein- 
drücke nicht  im  voraus  abschneiden,  die  Empfänglich- 
keit einengen  und  das  Bedürfnis  des  Erleidens  zurück- 
drängen darf,  wenn  der  Mensch  sein  eigenstes  Wesen 
darstellen,  also  zur  Freiheit  und  Sittlichkeit  gelangen  soll. 
Aber  wenn  die  sittliche  Freiheit  sowohl  bei  dem  Über- 
greifen des  Willens,  das  die  Empfindung  aufhebt,  als 
bei  dem  Übergreifen  der  Empfindung,  das  den  Willen 
aufhebt,  unmöglich  ist,  weil  der  Mensch  in  dem  einen 
Falle  auf  die  Selbstverwirklichung,  in  dem  anderen  auf 
die  Selbstbeherrschung  verzichtet,  so  ist  sie  ebenso  un- 
möglich, wenn  der  Wille  nicht  durch  die  Empfindung, 
die  Empfindung  nicht  durch  den  Willen  bestimmt 
wird,  und  zwar  ganz  aus  demselben  Grunde,  da  der 
nicht  durch  die  Empfindung  bestimmte  Wille  entweder 
unwirksam  ist  oder  die  Empfindung  aufhebt,  die  nicht 
durch  den  Willen  bestimmte  Empfindung  die  Willen- 
losigkeit  beweist  und  hervorbringt.  Wille  und  Empfin- 
dung haben  sich  also  durch  einander  zu  bestimmen,  diese 
Bestimmung  aber  darf  von  keiner  Seite  eine  vorgreifende 
und  dadurch  negierende,  folglich  keine  unmittelbare 
sein,  weil  sie  als  solche  eine  äußerliche  und  äußerlich 
zwingende  ist.  Der  unvermittelt  durch  die  Empfindung 
bestimmte  Wille  ist  nicht  von  innen  und  aus  sich,  die 
unvermittelt  durch  den  Willen  bestimmte  Empfindung 
ist  nicht  ihrer  Natur  gemäß  bestimmt  und  kann  sich 
nicht  zu  dem  entwickeln,  was  sie  ist.  Die  Vermittlung 
aber,  die  zur  Verwirklichung  der  menschlichen  Emp- 
findung und  des  menschlichen  Willens  notwendig 
ist,  muß  eine  in  der  Natur  des  Menschen  an  sich  ge- 
gebene   sein,    und    liegt    einfach    in    derjenigen   Form 


122 


des  Weltbewußtseins,  welche  das  Selbstbewußtsein  hinter 
sich  hat.  Sonach  soll  und  muß  der  Wille  durch  die 
Empfindung  bestimmt  werden;  aber  durch  die  Empfin- 
dung, welche  mittels  der  Reflexion  zum  Bewußtsein  ge- 
langt und  zu  einer  Bestimmtheit  desselben,  und  zwar  zu 
einer  Bestimmtheit  des  Welt-  und  Selbstbewußtseins 
geworden  ist;  umgekehrt  soll  und  muß  die  Empfindung 
durch  den  Willen  bestimmt  werden,  aber  durch  den 
Willen,  der  auf  die  fortgesetzte  Verwirklichung 
des  Welt-  und  Selbstbewußtseins  gerichtet  ist,  also  in 
diesem  seinen  Trieb  hat.  Der  Wille  soll  durch  die  Emp- 
findung mittelbar  seinen  Inhalt  empfangen,  die  Empfin- 
dung durch  den  Willen  mittelbar  ihre  zweckgemäße, 
d.  h.  dem  Zwecke  der  Weltergreifung  und  Selbstverwirk- 
lichung entsprechende  Form  erhalten;  jener  soll  aus  der 
Empfindung  wie  seinen  Inhalt  so  seine  Beweglichkeit 
schöpfen,  diese  soll  durch  den  Willen  zu  einer  tenden- 
ziösen, von  dem  Zufall  der  Eindrücke  unabhängigen 
Tätigkeit  werden.  Erst  hiemit  ist  ein  Wechselverhältnis 
ausgesprochen,  welches  seine  erste  Möglichkeit  in  dem 
Vermögen,  die  empfangenen  Eindrücke  innerlich  umzu- 
setzen oder  zu  reproduzieren,  d.  h.  in  dem  Vorstellungs- 
vermögen und  seine  zweite  in  der  Tendenz  des  Selbst- 
bewußtseins, sich  zu  verwirklichen  hat. 

Diese  Tendenz,  welche  sich  des  Empfindungsvermö- 
gens wie  des  Wirkvermögens  bemächtigt,  haben  wir  als 
Offenbarungstrieb  charakterisiert,  wobei  zu  bemerken  ist, 
daß,  wo  sich  Empfindungs-  und  Wirkvermögen  findet, 
die  Vermittlung  des  Vorstellungsvermögens  nicht  fehlen 
kann,  und  daß  die  Triebe  der  Empfindung  und  der 
Wirksamkeit  als  verschiedene  Formen  des  Assimilations- 
triebes   in    diesem    ihre    ursprüngliche    Einheit    haben 


12 


müssen;  daß  aber  der  Assimilationstrieb  mit  jeder  be- 
sonderen Existenz,  die  sich  entwickelt  und  gestaltet,  ge- 
geben, also  Existenztrieb  ist,  und  für  jede  höhere  Exi- 
stenz eine  höhere  Form  gewinnt,  ohne  daß  seine  Be- 
zeichnung als  Trieb  auch  in  der  höchsten  Form,  die  im 
Bereiche  unserer  Erfahrung  liegt,  unzulässig  würde.  Wenn 
wir  ihn  aber  da,  wo  es  sich  um  die  Existenz  des  selbst- 
bewußten Wesens  handelt,  als  OfFenbarungstrieb  be- 
zeichnen, so  muß  er  uns  zwar  auch  in  dieser  Form  als 
ein  ursprünglicher,  in  der  menschlichen  Organisation  an 
sich  gegebener  gelten;  wir  haben  aber  zugleich  anzuer- 
kennen und  hervorzuheben,  daß  er  einerseits  in  der  un- 
beherrschten Wirksamkeit  der  Assimilationstriebe,  welche 
für  die  Existenz  als  solche  notwendig  ist,  andrerseits  in 
der  Zufälligkeit  der  objektiven  Existenzverhältnisse  eine 
Schranke  hat,  welche  er,  um  zur  Entwicklung  und  Ge- 
staltung zu  kommen,  fortgesetzt  überwinden  muß,  aber 
als  bloßer  Triebe  d.  h.  ohne  daß  seine  Entwicklung  und 
Gestaltung  der  ausdrückliche  Zweck  des  bewußten  Wil^- 
lens  wäre,  nicht  überwinden  kann.  Die  Endlichkeit  des 
Individuums,  durch  welche  sein  Existenztrieb  ein  ge- 
gebener und  bestimmter  ist,  steht  im  Widerspruche  zu 
der  Freiheitstendenz,  die  in  dem  OfFenbarungstriebe  wirkt, 
und  diesen  Widerspruch  zu  heben,  also  die  Freiheits^ 
tendenz  zum  Durchbruch  und  zur  Herrschaft  zu  bringen, 
ist  eine  Aufgabe,  welche  sich  das  Individuum  als  sol- 
ches, als  vereinzeltes  und  sich  selbst  überlassenes,  nicht 
einmal  zu  stellen,  viel  weniger  also  zu  lösen  vermag. 
Der  Offenbarungstrieb  verlangt,  wie  schon  früher  gesagt, 
seiner  Natur  gemäß  das  Gegenüber  der  empfangenden 
und  produzierenden  Tätigkeit,  wenn  er  sich  entwickelt 
hat;    er   verlangt    aber   dieses    Gegenüber   ebenso    ent- 

124 


schieden  und  noch  entschiedener,  um  sich  zu  entwickeln, 
d.  h.  er  muß  durch  zweckbestimmte  Einwirkungen  zur  Emp- 
fänghchkeit  und  Betätigung  gebracht,  geweckt,  befrie- 
digt und  bestimmt,  mit  einem  Worte  gebildet  werden. 
Obgleich  wir  daher  den  Gegensatz  der  sinnlichen  und 
vernünftigen  Natur  des  Menschen,  wie  ihn  der  Brief- 
steller faßt,  nicht  anerkennen  können,  so  hat  er  doch 
Recht,  die  Aufgabe  der  »Vermittlung«,  die  er  als  not- 
wendig für  die  Verwirklichung  des  menschhchen  Wesens 
darstellt,  als  eine  Aufgabe  der  Kultur,  d.  h.  der  Erzie- 
hung zu  bezeichnen.  Für  die  Bestimmung  der  Erziehungs- 
aufgabe aber  ist  es  selbstverständlich  nichts  weniger  als 
gleichgültig,  wie  das  Verhältnis  des  sogenannten  sinnlichen 
zu  dem  sogenannten  Formtriebe,  der  die  Wirksamkeit  der 
Vernunft  vertritt,  gedacht  worden  ist,  da  die  Konsequenzen 
dieses  Grundgedankens,  auch  wenn  die  Schärfe  derselben 
durch  wesentliche  Modifikationen  aufgehoben  scheint, 
immer  wieder  hervortreten  müssen,  wo  es  sich  darum 
handelt,  die  herausgestellten  Postulate  für  die  Praxis  zu 
bestimmen  und  auszuführen. 

2(i.  Indem  der  Briefsteller  die  Notwendigkeit  der  ästhe- 
tischen Erziehung  zu  beweisen  unternommen  hat,  kann 
er  nicht  die  Unterdrückung  der  sinnlichen  Natur  des 
Menschen  gerechtfertigt  finden;  was  er  verlangt,  ist  die 
Einschränkung  des  sinnlichen  durch  den  Formtrieb, 
wie  umgekehrt  die  Einschränkung  des  Formtriebes  durch 
den  sinnlichen,  und  weiterhin  die  Abspannung  beider 
durch  einander,  welche  nicht  durch  den  Wechsel,  sondern 
durch  die  Gleichzeitigkeit  ihres  Wirkens,  oder  dadurch 
hervorgebracht  werden  soll,  daß  sie  einander  in  Schran- 
ken halten.  Wenn  aber  die  beiden  Triebe  sich  ein- 
schränken sollen,  indem  sie  neben  einander  wirken,  d.  h. 

125 


sich  nicht  in  positiver  Weise  gegenseitig  bestimmen, 
so  ist  die  Schranke,  die  der  eine  dem  anderen  setzt, 
eine  einseitige,  welche  jeden  insoweit,  als  er  für  sich 
wirkt,  freiläßt.  Der  Briefsteller  behauptet  nun  mit  vollem 
Recht,  daß  dieses  Verhältnis  der  Unabhängigkeit  nicht 
an  sich  besteht,  sondern  hergestellt  werden  muß,  ob- 
gleich er  auch,  zwar  nur  nebenbei,  aber  in  Konsequenz 
des  Satzes,  daß  der  sinnhche  und  der  Formtrieb  sich 
nicht  in  denselben  Objekten  begegnen,  behauptet,  daß 
die  Überschreitung  der  jedem  gegebenen  Sphäre  aus  einer 
freien  Übertretung  der  Natur  folge  —  ein  Widerspruch, 
der  nur  teilweise  und  nicht  ausdrücklich  gelöst  wird. 
Daß  bei  dem  Naturmenschen  die  Empfindung  in  das  Ge- 
biet des  Willens  unmittelbar  übergreift,  ist  eine  unleug- 
bare Tatsache;  ebenso  aber  wird  die  Empfindung  un- 
mittelbar von  dem  Willen  bestimmt,  d.  h.  vor  ihrer 
Entfaltung,  also  scheinbar  geformt  und  tatsächlich  unter- 
drückt, wo  der  Wille  sein  Gesetz  nicht  gewinnt,  son- 
dern als  solches  empfängt  und  veräußert,  wo  dem- 
nach der  Mensch,  wenn  wir  in  der  früher  angedeuteten 
Weise  Wildheit  und  Barbarei  unterscheiden,  sich  im  Zu- 
stande der  Barbarei  befindet.  Die  unmittelbare  Bestimmt- 
heit des  Willens  durch  die  Empfindung  ist  die  Begierde, 
und  auf  diese,  die  im  Willensgebiete  hervortritt,  muß 
sich  der  von  einem  jenseitigen  bestimmte  Wille  zunächst 
richten,  obgleich  er  in  das  weitere  und  äußerste  Gebiet 
der  Empfindung  »regelnd«  eingreift.  Wie  soll  sich  nun 
die  Erziehung,  die  in  einer  äußerlichen  Willens-  und 
Lebensregelung  nicht  bestehen,  aber  ebensowenig  die  Be- 
gierden als  solche  walten  lassen  kann,  zu  diesen  ver- 
halten? Der  Briefsteller  fordert,  daß  die  Erziehung  und 
Selbsterziehung    die    Kraft    der    Begierden    nicht    durch 

126 


Abstumpfung  überwinden,   sondern  dieselben  trotz  ihrer 
Lebendigkeit  beherrschen  soll.  Aber  offenbar  ist  die  Be- 
gierde ein  »Übergriff«  der  Empfindung  in  das  Gebiet  des 
Willens,   gegen    welchen    der  Wille,   um    die  Scheidung 
der  Empfindungs-  und  Willenssphäre  zu  behaupten,  re- 
agieren muß,  und  wie  diese  Reaktion,  sofern  der  Wille 
durch    die  Empfindung   absolut   nicht   bestimmt  werden 
soll,  nur  negativ,  also  durch  die  Unterdrückung  der  Be- 
gierde stattfinden  kann,  so  ist  es  dem  Willen  unter  der- 
selben Voraussetzung   einer   abgesonderten  Wirksamkeit 
allerdings    nicht  »erlaubt«,    die   Begierde    bis    zu   ihrem 
Grunde  zu  verfolgen,  also  sie  nicht  entstehen  zu  lassen. 
Damit  wäre  als   die  normale  Tätigkeit   des  Willens   die 
fortgesetzte  Unterdrückung  der  hervortretenden  Begierden 
ausgesprochen,   welche   sich   sicher  nicht  als  eine  Herr- 
schaft über  dieselben  und  ebensowenig  als  eine  Beherr- 
schung  des   Empfindungslebens,   aus   welchem   die  Be- 
gierden sich  erzeugen,  bezeichnen  läßt.  Wir  müssen  dem- 
nach   sagen,    daß   die  Aufgabe,    die   der  Briefsteller   der 
Selbsterziehung  und  deshalb  der  einwirkenden  Erziehung, 
welche  die  Selbsterziehung  ersetzt  und  ermöglicht,  nach- 
träglich stellt,   eine  unausführbare  ist,  wenn  durch  eben 
diese  Erziehung  das  Neben-  und  Außereinander  der  Emp- 
findung und  des  Willens  hergestellt  werden  soll.  Anders 
verhält  es  sich,   wenn  wir  annehmen,   daß   die  Empfin- 
dung den  Willen  an  sich  nicht  bloß  unmittelbar,  son- 
dern auch  mittelbar  bestimmt,   und   daß   dieses  an   sich 
gegebene  Verhältnis  durchgesetzt  werden  soll.  Von  die- 
sem Standpunkte  aus  ist  es  eine  Aufgabe  der  Erziehung, 
die  Begierden  zur  Entwicklung  zu  bringen,    und  die  im 
Bewußtsein  erfüllten  und  erhöhten  Begierden  zu  befrie- 
digen;  diese   Aufgabe    aber   ist   durchführbar,    weil   alle 

127 


Empfindungen,  also  auch  diejenigen,  welche  zu  Begierden 
ausschlagen,  indem  sie  sich  zu  Vorstellungen  umwan- 
deln, die  Tätigkeit  des  Bewußtseins,  die  eine  absondernde 
und  kombinierende,  eine  konzentrierende  und  ausdeh- 
nende zugleich  ist,  bestimmend  erregen,  weil  folglich  die 
Vorstellungen,  durch  welche  sich  die  Begierde  vermittelt, 
indem  sie  ungebrochen  auf  das  Selbstgefühl  und  den 
Willen  wirken,  zurückgehalten,  aufgelöst  und  zu  Be- 
stimmungen des  objektiven  und  Selbstbewußtseins  ent- 
wickelt werden  können,  ohne  daß  sie  aufhören  den 
Willen  in  Spannung  zu  setzen.  Denn  was  diese  Vor- 
stellungen für  das  Bewußtsein  enthalten,  ist  die  Korre- 
spondenz zwischen  bestimmten  Objekten  und  denjenigen 
Bedürfnissen,  welche  die  tatsächliche  Assimilation  der 
Objekte,  durch  welche  ihr  Bestand  aufgehoben  wird,  in 
Anspruch  nehmen,  also  auf  die  tatsächliche  oder  äußer- 
Hche  Existenzerfüllung  und  Existenzerweiterung  gerichtet 
sind.  Insofern  aber  diese  Korrespondenz  zum  Bewußt- 
sein kommt,  wird  einerseits  das  besondere  Objekt  als 
Gegenstand  der  Reflexion  schlechthin,  andrerseits  die  Be- 
friedigung als  Zweck  gesetzt,  der  in  der  Bestimmtheit 
des  Selbstgefühls  seinen  unmittelbaren  Ausdruck  hat. 
Sonach  bleibt  der  Wille  durch  die  Begierde,  obgleich 
dieselbe  eine  höhere  Form  angenommen  hat,  bestimmt, 
oder  er  ist  vielmehr  erst  jetzt  als  eigentlicher  Wille,  d.  h. 
als  Energie  des  Selbst  bestimmt,  während  dem  Objekt 
die  Selbständigkeit,  die  es  in  der  tatsächlichen  Befriedi- 
gung verlieren  soll,  durch  seine  Aufnahme  in  das  Be- 
wußtsein im  voraus  wiedergegeben  ist. 

Wie  aber  das  Selbstbewußtsein  ohne  die  wechselnde 
Bestimmtheit  des  Selbstgefühls  ein  leeres  und  eben  des- 
halb  gestaltloses  bleibt,   so  entwickelt  sich  das   theore- 

128 


tische  Interesse,  dem  die  Objektivität  als  solche  »inter- 
essant« ist,  als  energische  Aneignungstendenz  an  den- 
jenigen Objekten,  welche  den  Bedürfnissen  der  tatsäch- 
lichen Assimilation  entsprechen  oder  widersprechen,  sonach 
das  Selbstgefühl,  Lust  oder  Unlust  wirkend,  bestimmen, 
insofern  sie  zu  allseitiger  Vorstellung  gebracht  werden, 
und  zwar  geschieht  dies,  indem  einerseits  die  Objekte, 
die  als  befriedigende  gewußt  werden,  interessant  bleiben 
und  durch  die  Momente  ihrer  Erscheinung  an  die  Mo- 
mente der  Befriedigung  erinnern,  andrerseits  die  außer 
dem  Kreise  der  tatsächlichen  Befriedigung  liegenden  Ob- 
jekte, weil  sie  durch  ihre  momentane  Ähnlichkeit  an 
die  zum  Genuß  gebrachten  oder  schmerzlich  empfun- 
denen erinnern,  die  Empfindung  berühren  und  hier- 
durch als  innerliche  und  bedeutende  vorstellig  werden. 
Das  Kind  setzt  sich  zu  allen  Gegenständen,  die  seinen  Sinn 
frappieren,  in  ein  persönliches  Verhältnis,  indem  es  sie 
zu  Gegenständen  des  Verlangens  oder  der  Furcht  macht, 
es  gibt  also  seinem  praktischen  Interesse  die  weiteste 
Ausdehnung,  und  was  der  »werdende  Mensch«  an  sich 
tut,  hat  der  Erzieher  in  dieser  wie  in  allen  anderen  Be- 
ziehungen zu  regeln  und  durchzusetzen.  Sonach  ist  es 
seine  Aufgabe,  die  Gegenstände  des  theoretischen  Inter- 
esses, das  bei  dem  Zögling  erst  zu  entwickeln  ist,  in 
den  Umkreis  des  praktischen  Interesses  mittels  der  Vor- 
stellungen, die  er  von  ihnen  erweckt,  hereinzuziehen;  um 
dies  aber  zu  können,  vorerst  die  Gegenstände,  zu  denen  der 
Zögling  an  sich  ein  unmittelbares  und  praktisches  Verhältnis 
hat,  zu  objektivieren  d.  h.  zu  Objekten,  mit  denen  sich 
die  Vorstellung  frei  beschäftigt,  zu  erheben.  Diese  dop- 
pelte Operation,  welche  die  Grenzlinien  zwischen  dem 
praktischen  und  theoretischen  Interesse  aufhebt,  läßt  all- 

Deinhardt,  Schiller.      9 


mählich  eine  Objektivität  für  das  letztere  entstehen,  d.  h. 
aus  dem  Bereiche  des  praktischen  Interesses  teils  heraus-^ 
teils  zurücktreten.  Der  Erzieher  kann  aber,  wie  aus  dem 
Bisherigen  hervorgeht,  in  der  geforderten  Art  nicht  ope- 
rieren, ohne  die  Begierde  in  Spiel  zu  setzen,  ohne 
sie  also  zweckmäßig,   d.  h.  scheinbar  willkürlich  zu  er- 
regen und  zurückzuhalten,  um  ihre  Befriedigung  zu  ver- 
mitteln. Auch  wird  das  Spiel  mit  der  Begierde  von  allen 
Erziehern,  den  natürlichen  und  den  berufenen,  denen,  die 
es  gelegentlich,  und  denen,  die  es  ausdrücklich  sind,  min- 
destens instinktiv,  also  mit  mehr  oder  weniger  Bewußt- 
sein und  mehr  oder  weniger  zweckgemäß  geübt.  Indessen 
es  ist  dieses  Mittel,  um  das  theoretische  Interesse  zu  ent- 
wickeln und  die  Freiheit  des  Willens  zu  begründen,  ob- 
gleich unerläßlich,    ein  sehr  unzureichendes  und  einsei- 
tiges.   Die   Erregung   und   Befriedigung   haben  Grenzen,, 
welche  nicht   überschritten  werden   können   und  dürfen, 
und  ihr  Gebiet  ist  ein  viel  zu  enges,  als  daß  es  für  die 
Bestimmung  der  Empfindung  durch  den  Willen,  und  des 
Willens  durch  die  Empfindung  —  eine  Bestimmung,  die 
wir  als  notwendig  für  die  ausdrückliche  Verwirklichung 
des  Menschen  aufgezeigt  haben,  und  die,  wie  eine  mittel- 
bare,  so   eine   allseitige   sein  muß  —  die  »Brücke«  ab- 
geben könnte.   Soll   die  Empfindung  durch   den  Willen 
allseitig  bestimmt  werden,  so  muß  vor  allen  Dingen 
die  allseitige  Betätigung  und  Übung  der  Sinnlichkeit  als 
Zweck  gesetzt  sein,  da  der  bewußte  Zweck  für  die  be- 
stimmende Tätigkeit   des  Willens   notwendig   ist,    diese 
Tätigkeit  aber  eine  durchgreifende  sein  muß,  um  keine 
einengende  zu  sein  und  die  volle  Entwicklung  des  »emp- 
fangenden« Vermögens  zu  sichern.   Daher  ist  »allseitige 
Übung  der  Sinne«  ein  berechtigtes  Losungswort  der  mo- 

130 


dernen  Pädagogik,  das  freilich  noch  lange  nicht  zur 
»Wahrheit«  geworden  ist,  und  zwar  unter  anderem  des- 
halb, weil  man  die  Notwendigkeit,  die  Empfindung 
mittelbar  zu  bestimmen,  übersieht.  Nur  als  vermittelte 
ist  die  Übung  der  Sinne  eine  zwanglose,  wie  sie  es  sein 
muß,  und  da  das  theoretische  Interesse,  welches  die 
Übung  motiviert,  erst  zu  erzeugen,  dasjenige  Inter- 
esse aber,  welches  sich  aus  der  Begehrlichkeit  entwickeln 
läßt,  ein  beschränktes  ist,  so  fragt  es  sich,  worin  die 
weitere  Vermittlung  der  allseitigen  Sinnentätigkeit  be- 
stehen soll.  Um  diese  Frage  zu  beantworten,  haben  wir 
uns  daran  zu  erinnern,  daß  der  Wille  ein  gleiches  Ver- 
hältnis zu  dem  Wirkvermögen,  wie  der  Erkenntnis- 
trieb zu  dem  Empfindungsvermögen  hat,  woraus  von 
selbst  folgt,  daß  für  die  Entwicklung  des  Willens  als 
solchen,  d.  h.  seiner  Energien  die  allseitige  Entwick- 
lung des  Wirkvermögens  notwendig  ist.  Hiermit  aber 
ist  ein  »Gebiet«  gegeben,  auf  welchem  der  noch  unent- 
wickelte und  unbewußte  Wille  durch  den  entwickelten 
und  bewußten  Willen  —  den  erziehenden  —  unmittelbar 
bestimmt  werden  kann  und  muß,  wo  sich  also  die  Selbst- 
bestimmung des  Willens  in  dem  Verhältnis  des  Erzie- 
hers und  des  Zöglings  realisiert,  so  daß  dieses  Verhältnis, 
soweit  das  Wirkvermögen  zu  der  Betätigung  gelangt, 
für  welche  es  angelegt  ist,  als  ein  entsprechendes  und 
freies  empfunden  wird. 

Demnach  hat  der  Erzieher,  wenn  er  die  Empfindung 
bestimmen  will,  den  Willen  des  Zöglings  in  Anspruch 
zu  nehmen,  und  muß,  um  dies  zu  können,  den  Willen 
für  sich,  also  auf  seinem  Gebiete,  dem  der  wirkenden 
Tätigkeit,  entwickelt  haben,  womit  die  pädagogische 
Reglung   der  Wirktätigkeit  als   die  eine  Seite    der  Er- 

131 


Ziehung  und  als  das  notwendige  Mittel  für  die  Entwick- 
lung des  Empfindungsvermögens  und  die  des  theoreti- 
schen Interesses,  welches  als  die  Tendenz  für  jene  Ent- 
wicklung hervortreten  soll,  ausgesprochen  ist.  Wir  haben 
daher  die  Forderung,  die  wir  vorhin  mit  Bezug  auf  die 
erzieherisch  zu  entwickelnde,  zu  bildende  und  zu  be- 
nutzende Begehrlichkeit  aussprachen,  daß  der  Erzieher 
die  Gegenstände  und  Materien,  die  dem  ZögHnge  indiffe- 
rent sind,  weil  das  theoretische  Interesse  für  dieselben 
noch  nicht  vorhanden  ist  und  vorhanden  sein  kann,  in 
das  Bereich  des  praktischen  Interesses  hereinziehen 
müsse,  festzuhalten,  aber  den  Begriff  des  praktischen 
Interesses  auszudehnen  und  in  denselben  das  Betäti- 
gungsbedürfnis und  die  Betätigungstendenz  des  Wirk- 
vermögens aufzunehmen.  Jenes  —  das  Betätigungsbe- 
dürfnis —  ist  durch  die  Notwendigkeit  bedingt,  die 
Gegenstände  der  tatsächlichen  Assimilation  herzustellen, 
also  die  gegebenen  Objekte  dem  Zwecke  der  Assimila- 
tion gemäß  umzuformen ;  diese  —  die  Betätigungs  t  e  n- 
denz  —  hat  in  dem  gegebenen  Vermögen  ihre  orga- 
nische Realität  und  ist  auf  diejenige  Assimilation  der 
Objekte  gerichtet,  welche  eine  objektive  Existenzsphäre, 
die  dem  allgemeinen  Existenzbedürfnisse  und  der  per- 
sönlichen Existenzform  entspricht,  schafft  und  ausprägt. 
Sie  hat  also  die  Tendenz  der  Selbstdarstellung  hinter 
sich,  und  ist  die  Tendenz  der  realen  Darstellung 
dessen,  was  innerlich  Form  gewonnen  hat,  während  die 
den  unmittelbaren  und  besonderen  Existenzbedürfnissen 
dienende  Tätigkeit  nicht  die  Form  als  solche  herausstellt, 
sondern  den  Gegenständen  eine  »dienende«,  für  sich  be- 
trachtet gleichgültige  Form  gibt.  Wie  aber  die  unmittel- 
bare,   so    ist   auch    die    vermittelte,    nämlich    durch    die 

132 


Herstellungstätigkeit  vermittelte  Befriedigung  eine  be- 
schränkte und  beschränkende,  und  zwar  beides  um  so 
mehr,  je  weniger  das  Herstellungsvermögen  entwickelt 
und  je  drängender  dabei  das  Bedürfnis  der  organischen 
Betätigung  und  Entfaltung  ist,  so  daß  sich  einerseits  das 
Unvermögen  zu  der  bestimmten  Leistung,  andrerseits  die 
mit  dieser  Bestimmtheit  gegebene  Beschränktheit,  über 
welche  das  an  sich  vorhandene  Vermögen  hinausreicht 
und  hinausstrebt,  gleichzeitig  fühlbar  machen.  Hieraus 
folgt  für  die  pädagogische  Tätigkeitsreglung,  daß  das 
Wirkvermögen  vorerst  als  Darstellungs  vermögen  in 
Anspruch  genommen  und  entwickelt,  die  Herstellungs- 
tätigkeit dagegen  allmählich  und  zwar  derartig  ein- 
treten muß,  daß  sie  als  solche,  also  abgesehen  von 
der  schließHchen  Benutzung,  durch  das  Bewußtsein  einer 
zweckentsprechenden  und  das  Vermögen  bildenden  Be- 
tätigung anzieht  und  befriedigt.  Damit  scheidet  die  Er- 
ziehung allerdings  von  vornherein  das  Gebiet  der  Be- 
gehrlichkeit, in  dem  sich  der  Zögling  wesentlich  emp- 
fangend verhält,  und  das  der  Tätigkeit,  welche  zuerst 
auf  die  Form  als  solche  gerichtet  ist,  sie  bestimmt  aber 
auf  dem  einen  wie  auf  dem  anderen  Gebiete  die  Emp- 
findung wie  den  Willen,  indem  sie  die  Begierde,  welche 
die  unmittelbare  Bestimmtheit  des  Selbstgefühls  durch  die 
Empfindung  ist,  zum  bewußtvollen  Verlangen,  welches 
den  Willen  füllt,  erhebt,  und  die  unmittelbare  Betäti- 
gung der  Willensenergie  für  ein  Schaffen  in  Anspruch 
nimmt,  das  nicht  nur  an  sich  Sinnenübung  ist,  son- 
dern auch  für  die  Sinnenbefriedigung  stattfindet,  soweit 
diese  an  sich  eine  theoretische,  von  der  materiellen  Be- 
dürftigkeit freie  ist,  woraus  sich  von  selbst  ergibt,  daß  die 
Entwicklung  des  theoretischen  Interesses  an  den  Stoffen 


und  Objekten,  mit  denen  der  Zögling  zu  tun  hat,  aus 
dem  praktischen  Interesse  der  Darstellung  und  Herstellung 
keiner  weiteren  und  ausdrücklichen  Vermittlung  bedarf, 
sondern  eine  durchaus  naturgemäße  ist,  wogegen  die  syste- 
matische und  zwecklos  erscheinende  Übung  der  Sinne  als 
solcher  als  ein  unnatürlicher  Zwang  empfunden  werden  muß. 
27.  Wir  sehen  demnach  in  dem  »Spiel  mit  den  Be- 
gierden« und  in  der  pädagogisch  geleiteten  Wirktätigkeit 
die  unentbehrUchen  Mittel,  um  in  der  Tat  den  Willen 
durch  die  Empfindung  und  die  Empfindung  durch  den 
Willen  mittelbar  zu  bestimmen,  wie  es,  nach  der  obigen 
Ausführung,  notwendig  ist,  wenn  die  Entwicklung  des 
Menschen,  soweit  sie  von  der  einwirkenden  und  Selbst- 
erziehung abhängt,  d.  h.  soweit  sie  Entwicklung  der 
höheren  Menschlichkeit  ist,  eine  zugleich  einheithche  und 
volle  sein  soll.  Fragen  wir  aber  nachträglich,  worin  das 
Spiel  mit  den  Begierden,  d.  h.  ihre  pädagogische  Er- 
regung, Auflösung  und  Verinnerung  zu  bestehen  hat, 
insofern  es  ein  geregeltes,  von  dem  Zufall,  der  dem 
Zöglinge  Gegenstände  der  Begierde  oder  des  Abscheus 
entgegenbringt,  unabhängiges  sein  soll  und  sein  muß, 
so  müssen  wir  die  Entwicklung  der  Begierde  von  vorn- 
herein als  eine  innerliche,  folghch  sich  nicht  nur  in 
Vorstellungen  auflösende,  sondern  auch  durch  Vorstel- 
lungen vermittelte  fordern,  wozu  die  Möglichkeit,  auf 
die  vorstellende  Tätigkeit  bewegend  und  bestimmend  ein- 
zuwirken, vorhanden  sein  muß  und  in  der  Sprache 
gegeben  ist.  Demnach  ist  es  die  Aufgabe  des  Erziehers, 
das  Gebiet  der  Vorstellung  von  dem  der  gegebenen  Wirk- 
lichkeit abzuscheiden  und  inne;rhalb  dieses  Gebietes  die 
Begierden  mit  ihren  Modifikationen,  also  die  Hoffnung 
und  Furcht,  das  Wünschen  und  Bangen,  die  Freude  und 

134 


■den  Schmerz  in  Spiel  zu  setzen,  oder  ein  eigenes  Phan- 
tasieleben, dessen  Gefühlserregungen  nicht  minder  ener- 
gisch und  teilweise  energischer  sind  wie  die  des  wirk- 
lichen Erlebens,  zu  wecken  und  zu  gestalten.  Was  aber 
die  Welt  der  Phantasie,  in  welche  der  werdende  Mensch 
versetzt  werden  soll  und  versetzt  zu  werden  verlangt, 
von  der  wirklichen  zunächst  unterscheidet,  ist  dies,  daß 
in  dieser  die  Objekte  in  der  gegebenen  Gestalt  und 
in  ihrem  selbständigen  Bestände  verharren,  während  sie 
in  jener  flüssig  werden  und  in  einander  übergehen.  Die 
Phantasiewelt,  wie  sie  der  Tendenz  des  Kindes  ent- 
spricht, ist  eine  Welt  der  Verwandlungen,  und  zwar 
von  Verwandlungen,  die  dem  Wunsche  und  der  Furcht 
gemäß  stattfinden,  in  welchen  sich  demnach  diejenige 
Vorstellungstätigkeit,  die  Verlangen  und  Furcht  bedingt, 
durchsetzt  und  frei  wird.  Indem  das  Kind,  wie  früher 
gesagt,  das  Ferne  und  Fremde  wie  das  Nahe  und  Be- 
]{annte,  aber  für  seine  Zuständlichkeit  gleich  Indifi"erente, 
zu  sich  selber  in  ein  persönliches  Verhältnis  bringt,  leiht 
seine  Phantasie  der  äußeren  Erscheinung  einen  Hinter- 
grund oder  ein  Geheimnis,  durch  welche  sie  zum  ber- 
genden Schein  oder  zu  einer  Maske  wird,  hinter  welcher 
die  eigentliche  Gestalt  lauert.  Diese  Vorstellung  aber  ist 
dne  verschwindende,  weil  und  insofern  der  Gegenstand 
in  seinem  Bestände  verharrt,  während  sie  im  Gebiete 
der  Phantasie  das  zunächst  bestimmt  vorgestellte  Objekt 
umwandelt  und  damit  das  gleichzeitig,  aber  unbe- 
stimmt vorgestellte  Geheimnis  offenbart.  Hiernach  ent- 
bindet und  befriedigt  sich  die  dem  Kinde  eigene  Phan- 
tasietendenz erst  und  nur  in  der  Phantasie  weit,  die  es 
sich  selbständig  zu  schaffen  und  zu  gestalten  nicht  ver- 
mag, in  welche  es  also  einzuführen  ist.  Diese  Phantasie- 
Mi 


weit  aber,  die  dem  kindlichen  Bedürfnis  entspricht, 
ist  die  Märchenwelt,  das  Produkt  des  naiv  spielenden 
Glaubens,  welches  eine  Generation  der  anderen  überliefert, 
weil  es  nur  im  Kindheitsalter  des  ganzen  Volkes  pro- 
duziert werden  kann,  das  Bedürfnis  aber  ein  sich  fort- 
gesetzt erneuendes  ist.  Wir  haben  sonach  in  dem  Mär- 
chen —  der  Volksdichtung,  deren  mannigfach  variiertes 
Thema  das  Wunder  und  der  Zauber,  der  Wunsch  und 
die  Verwandlung  abgeben  —  als  ein  erstes  und  not- 
wendiges Bildungsmittel  der  Phantasie,  und  zwar  als  ein 
Mittel,  welches,  indem  es  die  Phantasietätigkeit  befreit, 
der  Begehrlichkeit  eine  höhere  Form  und  einen  tieferen 
Inhalt  gibt,  anzuerkennen.  Wie  aber  neben  der  dar- 
stellenden die  herstellende  Arbeit  rechtzeitig  eintreten 
muß,  um  das  Wirkvermögen  allseitig  zu  entwickeln,  das- 
selbe zu  einem  energischen  zu  machen  und  für  die  Dar- 
stellung einen  realeren  Inhalt  zu  gewinnen,  als  es  bei 
der  einseitigen  Übung  der  Darstellungstätigkeit  möglich 
ist,  so  muß  von  dem  Märchen  aus  einerseits  der  Über- 
gang zu  der  Reproduktion  des  wirklichen  Ereignisses, 
also  zu  einzelnen  Geschichten  und  schließlich  zur  Ge- 
schichte gefunden  werden,  w^ährend  es  andrerseits,  indem 
die  Bewegung  der  Sprache  wie  die  Bewegung  der  Phan- 
tasie eine  feste  Regel  annehmen  und  ihren  Inhalt  der 
Wirklichkeit  abgewinnen,  zur  Dichtung  erhöht  und 
ausgeprägt  wird.  Dieser  Fortschritt  aber  hebt  das  Neben- 
einander der  innerlichen  Phantasiebeschäftigung  und 
der  auf  das  objektive  Produkt  gerichteten  Betätigung  des 
Wirkvermögens  nicht  auf,  sondern  es  ist  vielmehr  von 
vornherein  eine  Vermittlung  der  innerlich  verharren- 
den und  der  objektiv  wirkenden  Tätigkeit  notwendig, 
die  sich  als  notwendige  im  kindHchen  Bedürfnis  und  der 

136 


selbsttätigen  Befriedigung  desselben  deutlich  genug  aus- 
spricht, und  nur  in  einer  freien  und  allseitigen  Betäti- 
gung des  Wirkvermögens,  welche  die  tätige  Befriedigung 
des  Phantasievermögens  ist,  oder  in  der  Selbstbetätigung 
und  Selbstdarstellung,  welche  sich  unmittelbar  eine 
eigene  Objektivität  schafft,  bestehen  kann. 

Damit  haben  wir  das  Bedürfnis  und  das  Wesen  des 
Spiels  ausgesprochen,  welches,  indem  es  sich  zu  ver- 
schiedenen Spielen  auseinandersetzt,  bald  das  Moment 
der  Selbstdarstellung,  bald  das  der  objektiven  Darstellung 
entschiedener  heraustreten  läßt,  aber  ohne  daß  die  Selbst- 
darstellung jemals  als  abstrakter  Zweck  gesetzt  würde 
und  ohne  daß  die  Darstellung  oder  Nachahmung  einer 
objektiven  Wirksamkeit  in  diese  selbst  überginge  und 
die  Freiheit  der  Bewegung  aufhöbe.  Die  objektive  Wirk- 
samkeit bleibt  im  Spiele  Schein  und  insofern  eine 
»zwecklose«  Tätigkeit,  die  zwecklose  Selbstbetätigung 
aber  verlangt  eine  Regel,  in  welche  sie  sich,  ihre  Frei- 
heit bewährend,  einfügt,  oder  eine  Form,  deren  Darstel- 
lung ihr  objektives  Interesse  ist.  Da  das  Spiel  demnach 
die  gleichzeitige  Befriedigung  der  Phantasietendenz 
und  des  objektiven  Wirktriebes  ist,  so  kann  es  zwar  die 
ausdrückliche  und  innerHche  Phantasiebefriedigung  auf 
der  einen,  die  ausdrückhche  und  reale  Betätigung  des 
Wirkvermögens  auf  der  anderen  Seite  nicht  ersetzen, 
vielmehr  hat  es  erst  in  diesen  beiden  die  Möglichkeit 
einer  fortgesetzten  Entwicklung  und  Ausbildung,  es  ist 
aber  als  die  unmittelbare  Einheit  des  Phantasierens 
und  Tuns  die  erste  Betätigung  des  Offenbarungstriebes, 
die  bei  der  menschlichen  Anlage  »von  selbst«  eintreten 
muß,  und  wird  weiterhin  seine  höchste,  indem  es  den 
Inhalt  des  Bewußtseins,  der  aus  der  innerlichen  Phan- 


137 


tasiebefriedigung  und  der  praktischen  Bewältigung  der 
Objekte  resultiert,  in  sich  aufnimmt,  und  die  in  jener 
wie  in  dieser  entwickelten  Energien  in  Wechselwirkung 
treten  läßt.  Damit  ist  ausgesprochen,  daß  die  Erziehung, 
indem  sie  das  Phantasievermögen  als  innerliche  Beweg- 
lichkeit auf  der  einen,  das  Wirkvermögen  auf  der  anderen 
Seite  ausdrücklich  in  Anspruch  nimmt  und  bestimmt, 
dem  frei  gegebenen  und  von  selbst  zur  Übung  gelangen- 
den Spiele  mittelbar  einen  höheren  Inhalt  und  eine 
höhere  Form  gibt,  als  es  ohne  die  erzieherische  Einwir- 
kung zu  erlangen  vermag.  Die  Erziehung  darf  es  aber 
nicht  dabei  bewenden  lassen,  daß  sie  den  Spieltrieb 
mittelbar  erhöht  und  vertieft,  sie  muß  sich  vielmehr  des- 
selben, ohne  ihm  einen  unnatürlichen  Zwang  anzutun, 
bemächtigen,  weil  sie  nur  hierdurch  den  Zusammen- 
hang ihrer  Einwirkungen  sichert  und  durchsetzt. 
Denn  obgleich  das  Kind  den  Spieltrieb  notwendig  selbst 
und  selbständig  befriedigt,  weil  zunächst  seine  ganze 
Betätigung  im  Spielen  aufgeht,  d.  h.  seine  Lebensäuße- 
rung schlechthin  eine  spielende  ist,  so  liegt  doch  die 
Gestaltung  vollkommen  bestimmter  Spiele  —  die 
als  solche  notwendig  gemeinsame  sind  —  über  seinem 
Vermögen,  und  es  verhält  sich  mit  diesen  wie  mit  den 
Märchen:  sie  gehören  der  Tradition  an,  und  die  Auf- 
gabe des  Erziehers  besteht  auch  hier  nicht  in  der  will- 
kürlichen Erfindung,  sondern  in  der  Erhaltung  und  be- 
dürfnisgemäßen Modifikation  des  Überlieferten,  eine  Auf- 
gabe, die  sich  allerdings  noch  anders  stellt,  wo  die 
lebendige  Tradition  —  infolge  einer  unästhetischen  Zivili- 
sation —  abgeschwächt,  also  die  Restauration  notwen- 
dig ist,  als  da,  wo  sie  in  Volk  und  Jugend  mit  der  Kraft 
der  Fortpflanzung  auch  die  der  Neugestaltung  hat. 

138 


28.  Die  verschiedenen  Aufgaben  der  Erziehung,  welche 
wir  hiermit  charakterisiert  haben,  sind  die  Auseinander- 
setzung der  einen  Aufgabe,  den  in  der  menschlichen 
Natur  und  Organisation  gegebenen  Offenbarungstrieb  von 
vornherein,  d.  h.  sobald  die  erzieherische  Einwirkung 
beginnt,  zu  allseitiger  und  geregelter  Betätigung  zu  brin- 
gen, um  ihn  derartig  zu  stärken  und  zu  bilden,  daß  er 
die  durchgreifende  Form  des  Assimilationstriebes  abgibt. 
Die  Erziehung,  welche  sich  diese  Aufgabe  stellt  und  sie 
durchführt,  ist  die  ästhetische  —  ein  Begriff,  der  ein 
notwendiges,  noch  näher  zu  bestimmendes  Verhältnis  zu 
dem  der  Schönheit  hat  —  die  ästhetische  Erziehung 
aber  ist  die  ganze  Erziehung,  d.  h.  durch  ihren  Zweck 
sind  alle  Erziehungs-  und  Bildungsmittel  derartig  be- 
dingt, daß  sie  in  demselben  ihren  notwendigen  Zusam- 
menhang haben,  obgleich  das  Verhalten  und  die  Betäti- 
gung der  Zöglinge  nicht  durchweg  eine  ästhetische  im 
engeren  Sinne,  also  ästhetisches  Genießen  und  Produ- 
zieren sein  kann  und  sein  soll.  Dieses  verschiedene  Ver- 
hältnis der  verschiedenen  Erziehungsmittel  zu  dem  einen 
Zwecke  der  ästhetischen  Bildung  haben  wir  schon  an- 
gedeutet, und  heben  noch  hervor,  daß,  wie  die  prak- 
tische Betätigung  zu  der  zweckgemäß  herstellenden  Ar- 
beit fortgehen  muß,  so  das  theoretische  Interesse  und 
die  theoretische  Fähigkeit  in  demselben  Maße,  als  sie 
entwickelt  sind,  für  sich  in  Anspruch  genommen  und  zu 
einer  konsequenten  Betätigung,  welche  nur  in  der  syste- 
matischen Wissensaneignung  bestehen  kann,  gebracht 
werden  müssen,  daß  ferner  das  Moment  der  Selbstdar- 
stellung, welches  im  Spiel  als  bestimmendes  enthalten 
ist,  sobald  sich  der  Organismus  genügend  entwickelt  und 
befestigt  hat,  für  sich  zu  fassen  und  als  Zweck  der  aus- 

139 


drücklichen  Selbstgestaltung  zur  Geltung  zu  bringen 
ist,  womit  wir  die  pädagogische  Notwendigkeit  der  Gym- 
nastik  aussprechen.  —  Die  ästhetische  Erziehung  schließt 
die  praktische,  die  intellektuelle  und  sittliche  ein;  sie 
treibt  also  weder  das  theoretische  noch  das  praktische 
Interesse  und  Vermögen  zu  einer  einseitigen  Entwick- 
lung —  eine  Einseitigkeit,  welche  trotz  der  Übertreibung 
die  Mangelhaftigkeit  und  Beschränktheit  bedingt  —  und 
sie  ist  die  »wirkliche«  Erziehung  zur  sittlichen  Freiheit, 
d.  h.  sie  begnügt  sich  nicht,  dieselbe  zu  ermögHchen  — 
sofern  die  Möglichkeit  negativ,  d.  h.  als  Unbestimmtheit 
gefaßt  wird  —  sondern  stellt  sie  dadurch  her,  daß  sie 
zu  der  Betätigung,  in  welcher  der  Mensch  wahrhaft  frei 
ist,  bestimmt  und  befähigt.  Allerdings  liegt  in  dem  Be- 
stimmtwerden zu  einem  freien  Verhalten  ein  Widerspruch, 
aber  dieser  Widerspruch  ist  der  der  Erziehung  überhaupt, 
indem  diese  die  Aufgabe  hat,  aus  dem  Menschen  zu 
machen,  was  er  an  sich  ist,  er  liegt  also  weiterhin  in 
der  Natur  des  Menschen,  der  seine  Bestimmung  nur  er- 
füllt, insofern  er  sich  selbstbewußt  zur  Existenz  bringt, 
während  doch  das  Selbstbewußtsein  nur  in  demselben 
Maße,  in  welchem  die  Existenzgestaltung  durchgesetzt 
ist,  zu  der  Freiheit,  d.  h,  Klarheit  gelangt,  die  im  Be- 
griffe desselben  gefordert  ist.  Dieser  schließliche  Wider- 
spruch ist  ein  lösbarer,  weil  einerseits  die  Verwirklichung 
des  Menschen  in  der  Zeit  stattfindet  und  notwendig  eine 
stufenweise  ist,  der  Trieb  aber,  von  welchem  sich  das 
Selbstbewußtsein  noch  nicht  abgelöst  hat,  die  verdeckte 
Wirksamkeit  desselben  ist  und  unmittelbar  das  Selbst- 
gefühl verwirklicht,  also  durch  seine  Befriedigung  das 
Gefühl  der  Freiheit  hervorbringt,  und  weil  andrerseits 
das  Wesen   des  Menschen   nicht   in   dem   einzelnen  In- 

140 


dividuum,  sondern  nur  in  dem  Verhältnis  oder  der  ver- 
mittelten Einheit  der  Individuen  zur  Darstellung  und 
Verwirklichung  kommen  kann,  da  der  Gattungsbegriff 
selbstbewußter  Individuen  zunächst  den  wesentlichen 
Unterschied  derselben  voneinander  und  sodann  die  aus- 
drückliche Ausgleichung  dieses  Unterschiedes,  durch  welche 
die  Gattung  als  solche  wirklich  wird,  bedingt,  weil  es 
demnach  dem  Postulate  der  menschlichen  Selbstbestim- 
mung nicht  widerspricht,  daß  sie  durch  bestimmende 
und  bestimmte  Individuen  dargestellt  wird,  insofern  der 
bestimmende  Wille  mit  der  unbewußten  Tendenz  zu- 
sammentrifft und  das  bestimmte  Individuum  seinerseits 
zum  bestimmenden  werden  kann  und  soll,  also  das  aus- 
gesprochene Verhältnis  ein  sich  fortsetzendes  und  um- 
kehrendes ist. 

Hieraus  folgt,  daß  die  Erziehung,  die  systematische 
Bestimmung  des  Triebes  durch  den  bewußten  Willen, 
möglich,  und  daß  sie,  um  die  Selbstbestimmung  zu  ver- 
wirklichen und  fortzusetzen,  notwendig  ist.  Ihre  Auf- 
gabe, den  Menschen  zu  dem  zu  machen,  was  er  an  sich 
ist,  enthält  also  keinen  Widerspruch,  insofern  sie  den 
Trieb  nicht  willkürlich,  sondern  in  Gemäßheit  seiner 
Natur  und  Tendenz  bestimmt,  folglich  das  freie  Ver- 
halten des  Zöglings  nicht  nur  als  schließliches  Resultat 
erzielt,  sondern  von  vornherein  und  fortgesetzt  dadurch 
verwirklicht,  daß  sie  mittels  der  Befriedigung  des  Trie- 
bes, dessen  jedesmalige  Betätigung  ein  Akt  der  Befreiung 
ist,  das  G  e  f  ü  h  1  der  Freiheit,  das  die  momentane  Er- 
hebung des  Selbstgefühls  zum  Selbstbewußtsein  ist,  er- 
zeugt. Der  Begriff  der  Sittlichkeit  aber  drückt  weiter 
nichts  als  die  Wirklichkeit  der  menschlichen  Freiheit  aus, 
deren  Grundbedingung  das  Gegenseitigkeitsverhältnis  der 

141 


Individuen  zueinander  —  die  Gemeinschaft  —  ist.  Der 
Mensch  ist  sittlich,  wenn  er  in  den  Anderen  sich  selbst 
findet,  das  gemeinsame  Bewußtsein  »offenbarend«  her- 
zustellen und  die  ihm  entsprechende  gemeinsame  Exi- 
stenz zu  verwirklichen  strebt,  folglich  mit  der  Freiheit 
Ernst  zu  machen  den  Willen  und  die  Fähigkeit  hat. 
Hieraus  folgt,  daß  die  ästhetische  Bildung  die  sittliche 
vollkommen  einschließt,  da  in  ihr  der  Trieb  schlechthin 
zur  Menschlichkeit  erhoben  ist,  und  die  Fähigkeit  zu 
einem  positiv  freien  Verhalten,  die  Energie  des  Offen- 
barungstriebes ohne  die  Entwicklung  des  Gemeinschafts- 
bewußtseins und  des  Gemeinschaftssinnes  nicht  gedacht 
werden  kann.  Daß  die  ästhetische  Erziehung  als  Einzel- 
erziehung unmöglich  ist,  daß  sie  die  faktische  Gemein- 
schaftlichkeit der  Betätigung  verlangt  und  die  Fähigkeit, 
der  Gemeinschaft  die  gerade  nötige  Form  zu  geben,  her- 
ausbildet, ist  schon  wiederholt  angedeutet,  und  läßt  sich, 
wenn  die  sittliche  Seite  der  Erziehung  betont  werden 
soll,  aus  der  Natur  der  ästhetischen  Bildungsmittel  auf 
das  bestimmteste  nachweisen.  Während  die  darstellende 
Arbeit  allerdings  als  Betätigung  des  Einzelnen  denkbar 
ist,  aber  die  Tendenz,  der  jenseitigen  Empfindung  zu 
genügen,  hinter  sich  hat,  ist  bei  der  herstellenden 
Arbeit  die  ineinandergreifende,  faktisch  gemeinsame  Tätig- 
keit durch  die  ihr  zukommende  Zweckmäßigkeit  bedingt, 
und  während  die  innerliche  Reproduktion  des  Geschehenen 
und  Geschehenden,  also  der  Lebendigkeit  mensch- 
licher Verhältnisse  die  sozialen  Begierden  und  Leiden- 
schaften zur  Reflexion  bringt  und  veredelt,  stellt  das 
Spiel  an  sich  die  sich  frei  formende  Gemeinschaft  dar 
und  die  Spielfreude  ist  wesentlich  Gemeinschaftsgenuß. 
Daraus  ergibt  sich,   daß  für   das  Moment  der  sittlichen 

142 


Bildung  auf  die  herstellende  Arbeit  und  auf  das  Spiel 
ein  vorzugsweises  Gewicht  zu  legen  ist,  da  sie  die  prak- 
tischen Erziehmittel  zur  Sittlichkeit  sind,  ohne  welche 
die  theoretischen  unwirksam  bleiben,  während  sie  neben 
und  mit  ihnen  nicht  nur  die  sittliche  Tendenz,  son- 
dern auch  die  sittliche  Fähigkeit,  insoweit  diese  in  der 
Beweglichkeit  des  Gemüts  und  dem  Vermögen  der  Mit- 
leidenschaft beruht,  herausbilden.  Was  also  notwendig 
ist,  um  die  ästhetische  Bildung  durchzusetzen,  d.  h.  zu 
einer  zusammenhängenden,  nachhaltigen  und  wahrhaft 
persönlichen  zu  machen,  ist  gleich  notwendig,  um  nicht 
nur  sittliche  Tendenzen  anzuregen,  sondern  den  sittlichen 
Menschen  herzustellen,  und  wie  ohne  den  ästhetischen 
Erziehungszweck,  der  alle  Erziehmittel  zusammenfaßt, 
der  einheitliche  Erfolg  der  Erziehung  überhaupt  unmög- 
lich ist,  so  kann  insbesondere  aus  der  unästhetischen 
oder  »nebenbei«  ästhetischen  Erziehung  unmöglich  die 
sittliche  Persönlichkeit,  die  eine  mit  sich  einige  sein  muß, 
hervorgehen,  während  sie  das  gewisse  Resultat-  der  ästhe- 
tischen Erziehung,  die  ihren  Zweck  erreicht,  ist. 
Das  letztere  kann  allerdings  niemals  durchgängig  der 
Fall  sein,  weil  die  Wirksamkeit  der  Erziehung  immer 
und  notwendig  eine  relative  ist,  und  zwar,  in  ihrer 
Naturgemäßheit  und  Vollkommenheit  gedacht,  als  mehr 
oder  minder  starres  Hemmnis  einerseits  der  Schwäche 
oder  Abnormität  der  individuellen  Naturen  oder  Or- 
ganisationen, andrerseits  die  Natur  des  an  sich  freien 
Willens  hat,  der  sich  nicht  nur  immer  als  Willkür  ankün- 
digt und,  negativ  gefaßt,  Willkür  ist,  sondern  auch  seinen 
negativen  Charakter  zu  reservieren  oder  seine  eigentliche 
Energie  in  die  Negation  zu  legen,  also  sich  jeder  Be- 
stimmung entgegenzusetzen  vermag.  In  diesem  Vermögen 

143 


offenbart  sich  das,  was  Schiller  die  dämonische  Natur 
des  Menschen  nennt,  und  es  muß  in  dem  Entwicklungs- 
prozesse der  Freiheit  zu  momentaner  Betätigung  kom- 
men, um  die  Gewißheit  der  Selbstbestimmung  zu  geben 
und  zu  erhalten,  drückt  aber  als  festgehaltene  Tendenz 
und  einseitige  Energie  eine  innerliche  Abnormität  aus, 
die  als  solche  nur  eine  Ausnahme  sein  kann. 

Damit  ist  ausgesprochen,  daß  der  Erzieher  wie  jeder 
Künstler  durch  seinen  Stoff,  der  ein  unzureichender  oder 
schlechthin  widerstrebender  sein  kann,  beschränkt  ist, 
und  daß  er  insbesondere  den  sittlichen  Willen  nicht  un- 
mittelbar, d.  h.  durch  Einwirkungen  auf  die  innerlichste 
Willenstätigkeit  zu  erzeugen  vermag,  aber  keineswegs, 
daß  er  auf  die  Herstellung  der  sittlichen  Persönlichkeit 
zu  verzichten  hat.  Die  Erziehung,  aus  welcher  die  sitt- 
liche Persönlichkeit  nicht  resultiert,  soweit  dieses  Re- 
sultat bei  den  gegebenen  Individualitäten  möglich  ist, 
ist  eine  halbe  oder  verkehrte,  und  wenn  wir  behaupten, 
daß  die  ästhetische  Erziehung  als  ausgeprägte  und  aus- 
gestaltete die  ganze  Erziehung  ist  und  demnach  die 
ganze  Erziehung  i  n  der  ästhetischen  begriffen  sein  muß, 
so  dürfen  wir  nicht  zugeben,  daß  mit  der  Herstellung 
des  ästhetischen  »Zustandes«,  insofern  dieser  als  die  Zu- 
ständlichkeit  der  Person  begriffen  wird,  nur  die  Mög- 
lichkeit des  »moralischen,  wie  des  logischen  Zustan- 
des« hergestellt  werde,  so  daß  es  außer  der  ästhetischen 
noch  eine  moralische  Erziehung  geben  müßte  oder  die 
moralische  Erziehung  überhaupt  unmöglich  wäre.  Den 
Gedanken  aber,  daß  der  moralische,  nämlich  der  frei 
sittliche  und  der  logische  Zustand  nur  durch  den  ästhe- 
tischen möglich  wird,  führt  der  Briefsteller  durch  meh- 
rere  Briefe    hindurch   in   der  Art   aus,    daß   er    in    dem 

144 


ästhetischen  Zustande  auch  nicht  mehr  als  die  Mög- 
lichkeit des  moralischen  und  logischen  anerkennen 
will,  um  den  SittlichkeitsbegrifF,  den  er  mit  der  Ent- 
gegensetzung der  sinnlichen  und  vernünftigen  Natur  des 
Menschen  angenommen  hat,  nicht  aufgeben  zu  müssen. 
Allerdings  versteht  er  unter-  dem  ästhetischen  Zustande 
nicht  sowohl  den  ästhetischen  Charakter  der  zur  Wirk- 
lichkeit gebrachten  Persönlichkeit  als  die  durch  ästhe- 
tische Einwirkungen  —  die  Schönheit  —  hervorgebrachte 
»Stimmung«,  und  wir  müssen  mit  ihm  zugestehen 
oder  vielmehr  hervorheben,  daß  die  ausdrücklich  hervor- 
gebrachte ästhetische  Stimmung  sich  verflüchtigt,  ohne 
ein  Resultat  für  »den  Verstand  und  die  Gesinnung«  ab- 
zusetzen, insofern  die  Fähigkeit,  nicht  nur  die  Wirk- 
lichkeit fortgesetzt  ästhetisch  zu  b  e  handeln,  sondern  auch 
aus  der  gehobensten  ästhetischen  Stimmung  und  Be- 
stimmtheit heraus,  diese  Stimmung  und  Bestimmtheit 
betätigend,  zu  handeln,  also  die  ästhetischen  Eindrücke 
nicht  sowohl  in  ästhetische  Taten  als  in  Taten  ästheti- 
schen Charakters  zu  übersetzen,  nicht  ausdrücklich 
herausgebildet  ist,  daß  demnach  auch  die  bleibende 
ästhetische  Stimmung  die  Energie  des  sittlichen  Willens 
keineswegs  verbürgt.  Aber  die  ganze  und  ausgestaltete 
ästhetische  Erziehung  bildet  in  der  Tat|  die  doppelte 
Fähigkeit,  die  wir  eben  bezeichnet,  heraus,  weil  sie  von 
vornherein  und  konsequent  fortschreitend  die  ästhetische 
Betätigung  bis  zum  äußersten  Tun  fortsetzt,  und  die 
Ideale  schöner  Gemeinschaft,  die  sie  erzeugt,  zu  un- 
mittelbarer und  lebendiger  Darstellung  bringt,  folglich 
das  ästhetische  Genußbedürfnis  in  das  ästhetische  Dar- 
stellungsbedürfnis und  zwar  in  ein  über  die  ästhetische 
Produktion  im  engeren  Sinne   hinausgreifendes  umsetzt. 

Deinhardt,  Schiller.      lO 


Offenbar  schließt  aber  die  Fähigkeit,  die  Schönheit  im 
Leben  darzustellen,  den  bewußten  Willen  hierzu  ein, 
weil  sie  ohne  diesen  Willen  nicht  entwickelt  und  ge- 
bildet werden  könnte,  und  wenn  die  Schönheit  des  Le- 
bens die  schöne  Gemeinschaft  und  diese  die  sittUche 
Wirklichkeit  oder  die  wirkUche  SittUchkeit  ist,  so  er- 
zeugt die  ästhetische  Erziehung  den  Sittlichkeitsbegriff 
wie  die  Energie  seiner  Verwirklichung,  indem  sie  ihn 
aus  dem  Erleben  und  Tun  hervorgehen  wie  das  Er- 
leben und  Tun  fortgesetzt  bestimmen  läßt. 

Dieser  aus  dem  Erleben  und  Tun  entwickelte  Sittlich- 
keitsbegriff ist  der  erfüllte,  der  durch  die  Betätigung 
entwickelte  Wille  der  wahrhaft  freie,  während  ein  Sitten- 
gesetz, welches  sich  als  ein  in  der  Vernunft  gegebenes 
der  Wirksamkeit  des  Naturtriebes  entgegensetzen  und, 
nachdem  die  Nötigung  des  Triebes  aufgehoben  ist,  seiner- 
seits zu  freier  Wirksamkeit  kommen  soll,  notwendig  den 
Charakter  einer  abstrakten  Moral  an  sich  trägt,  und  den 
Kampf  des  Willens  mit  dem  Triebe,  den  es  eingeleitet 
hat,  fortgesetzt  fordern  muß.  Denn  wenn  das  Sittengesetz 
als  ein  in  der  Vernunft  gegebenes  erscheint  und 
als  solches  in  seine  Bestimmungen  auseinandergesetzt 
wird,  so  geschieht  dies,  weil  der  unbefriedigte,  in  seiner 
Äußerung  gehemmte  Form-  oder  Offenbarungstrieb  sich 
zurück-  und  zusammennimmt,  um  sich  vorerst  den  Aus- 
druck einer  unbedingten  Notwendigkeit  zu  geben,  dieser 
Ausdruck  ist  aber  in  der  Tat  ein  bedingter,  und  zwar 
die  ausdrückliche,  aber  abstrakte  Negation  der  erfah- 
renen Hemmungen  oder  des  formlos  wirkenden  Trie- 
bes, dessen  sich  die  Formtendenz  nicht  zu  bemäch- 
tigen vermag.  Eine  »Moral«,  welche  auf  diese  Art  »ent- 
steht«, ist  also  keineswegs  das  Produkt  der  frei  wirkenden 

146 


sondern  der  gehemmten  Vernunfttätigkeit,  und  kann, 
weil  ihre  Bestimmungen  wesentlich  negative,  und  zwar 
einseitig  und  vorgreifend,  negative  sind,  nicht  die  Posi- 
tion der  wirklichen  und  freien  Sittlichkeit  enthalten.  Sie 
beschränkt  sich,  insoweit  sie  positive  Bestimmungen 
hat  oder  ein  positiv  Notwendiges  ausdrückt,  auf  die 
Grundbedingungen  der  sozialen  Existenz,  ohne  welche 
diese  überhaupt  nicht  gedacht  werden  kann,  ist  also,  so- 
weit sie  positiv  ist,  der  Ausdruck  eines  unfreien  Zu- 
standes,  während  ihr  das  positive  Ideal  des  freien  Zu- 
stand es  fehlt,  folglich  dieser  einseitig  in  die  negative 
Tätigkeit,  die  sich  gegen  die  überall  durchbrechende 
Wirksamkeit  des  nur  äußerlich  beschränkten  Triebes  richtet, 
gesetzt  werden  muß.  Ebenso  verhält  es  sich  mit  der 
Betätigung  des  objektiven  Bewußtseins,  welches  sich  der 
Objektivität  nur  scheinbar  und  formell  bemächtigt,  wenn 
es  aus  der  Zurückgezogenheit  von  der  Welt  der 
Empfindungen  und  Erscheinungen  heraus  in  Tätigkeit 
treten  will  und  soll,  ohne  daß  die  Zurückgezogenheit 
wirklich  und  sich  fortgesetzt  erneuende  Sammlung, 
folglich  das  Bewußtsein  fortgesetzt  in  dem  Empfin- 
dungstriebe tätig  gewesen  wäre  und  sich  entwickelt 
hätte.  Jede  Weltanschauung  aber,  welche  aus  der  vor- 
eiligen Zurückgezogenheit  von  der  Welt  der  Empfin- 
dungen und  Erscheinungen  oder  aus  einem  Akte  gewalt- 
samer Abstraktion,  welcher  die  Äußerlichkeit  als  solche 
negiert,  hervorgeht,  objektiviert  notwendig  den  Bruch 
mit  der  Wirklichkeit  als  den  Gegensatz  des  Geistes  und 
der  Materie,  und  macht,  indem  sie  diesen  Gegensatz 
festhält,  die  Betrachtung  der  natürlichen  und  geschicht- 
lichen Tatsachen  zu  einer  nur  formell  zusammenhängenden, 
entweder   dogmatischen   oder   quasirationellen,   zu   einer 

147 


solchen,  welche  von  den  Tatsachen,  die  nicht  in  ihr 
Schema  passen,  abstrahiert,  oder  bei  den  vereinzelten 
Tatsachen  und  ihrer  »Sektion«  stehen  bleibt. 

Wir  folgern  hieraus,  daß  die  Erziehung,  um  keine 
halbe  oder  verkehrte  zu  sein,  wie  sie  die  sittliche  Per- 
sönlichkeit herzustellen  hat,  so  das  »Weltbewußtsein« 
insoweit  zu  entwickeln  und  zu  gestalten  hat,  als  es  für 
ein  bewußtes  und  sicheres  Verhalten  zur  Objektivität 
notwendig  ist,  und  daß  die  ästhetische,  aber  auch  nur 
die  ästhetische  Erziehung  diese  Aufgabe  löst,  indem  sie 
das  theoretische  Interesse  überall  vorbereitet,  also  sich 
entwickeln  läßt  und  befriedigt,  um  das  gegenständlich 
Gewordene  überall  wieder  der  Darstellungstendenz  zu- 
zuführen und  dem  Darstellungsvermögen  zu  akkommo- 
dieren.  Bei  dem  Einzelnen  die  eigentlich  produktive  Denk- 
kraft, welche  sich  dem  allgemeinen  Bewußtsein  entgegen- 
setzt oder  ihm  Form  gibt,  zu  entwickeln,  liegt  nicht  in 
der  Aufgabe  der  Erziehung,  so  wenig  wie  sie  die  eigent- 
lich künstlerische  Produktivität  als  individuelles  Vermögen 
hervortreiben  kann  und  soll,  und  so  wenig  sie  die  mäch- 
tigen oder  herrschenden  sittlichen  Persönlichkeiten,  deren 
Willensenergie  den  allgemeinen  Willen  überwindet,  zu 
bilden  vermag  und  dies  versuchen  darf.  Sie  ist  nach 
dieser  Seite  hin  ebenso  beschränkt,  wie  sie  es  durch  die 
Schwäche  und  Abnormität  der  vorhandenen  Individuen 
ist,  aber  sie  macht  als  ästhetische  Erziehung  das  Denken 
und  das  Wollen  Aller  zu  einem  produktiven,  d.  h.  sie 
erzeugt  und  bildet  die  gesellschaftliche  Produktivität. 

29.  Insofern  es  ein  Hauptzweck  unserer  Erörterungen 
ist,  den  von  Schiller  gegebenen  Begriff  der  ästhetischen 
Erziehung  aufzunehmen  und  für  die  allgemeine  Erzie- 
hungspraxis weiter  und  näher  zu  bestimmen,  so  weit  es 

148 


geschehen  kann  und  darf,  ohne  in  das  Gebiet  der  spe- 
zifischen Pädagogik  überzugehen,  sind  wir  gegenwärtig 
zum  Abschlüsse  berechtigt,  wie  durch  die  UnmögHch- 
keit,  den  Expositionen  der  Briefe  nach  allen  Richtungen 
mit  gleicher  Eingängigkeit  und  Konsequenz  zu  folgen, 
verpflichtet.  Die  eben  gegebene  Darstellung  der  ästheti- 
schen Erziehungszwecke  und  Erziehungsmittel  schließt 
sich  mit  dem,  was  früher,  dem  Gange  der  Briefe  teil- 
weise vorgreifend,  über  das  Verhältnis  der  Jugenderzie- 
hung zu  der  Volkserziehung,  über  die  Faktoren  der  ge- 
schichtHchen  Lebensgestaltung,  zu  denen  die  Erziehung 
wesentHch  gehört,  über  den  Charakter  der  falschen  Zivili- 
sation und  der  wahren  Kultur  und  über  die  Aufgabe, 
die  letztere  inmitten  der  ersteren  zu  begründen,  gesagt 
ist,  auf  das  genaueste  zusammen,  und  der  denkende  Leser 
wird  die  MittelgHeder  dieses  Zusammenschlusses  leicht 
entdecken  und  die  Korrespondenz,  die  zwischen  den  frü- 
heren »historischen«  undj  der  späteren  »anthropologischen« 
Darstellung  der  Erziehungsaufgabe  besteht,  anerkennen. 
Auch  die  Gesichtspunkte,  von  denen  wir  für  die  Be- 
trachtung der  Kunst  und  der  Kunstwirkungen  ausgehen, 
sind  teilweise  schon  herausgestellt  und  das  Verhältnis, 
in  welchem  wir  nach  dieser  Seite  zu  der  Schillerschen 
Darstellung  stehen,  im  allgemeinen  bezeichnet.  Wenn 
wir  aber  hiernach  der  Versuchung,  bei  den  weiteren  Ausein- 
andersetzungen der  Briefe,  wo  sie  dazu  einladen  —  was 
fast  überall  der  Fall  ist  —  zu  verweilen,  widerstehen 
müssen,  so  dürfen  wir  doch  nicht  unmittelbar  und  ohne 
die  wichtigsten  Themen,  die  noch  zu  besonderer  Be- 
handlung kommen,  berührt  zu  haben,  abbrechen.  Hierbei 
möge  ausdrücklich  bemerkt  sein  —  was  ohnedies  keinem 
aufmerksamen  Leser  entgehen  kann  —  daß  wir  uns  mit 

149 


Schiller  um  so  mehr  in  Übereinstimmung  befinden,  je 
weiter  er  sich  einerseits  von  den  abstrakten  Begriffs- 
scheidungen, die  der  Kantischen  Philosophie  eignen,  ent- 
fernt, und  je  entschiedener  andrerseits  sein  philosophi- 
scher Gedanke  mit  den  Ideen,  die  seinen  größten  poe- 
tischen Schöpfungen  zugrunde  liegen,  zusammenhängt. 
Überall,  wo  sich  dieser  Zusammenhang  zeigt,  ist  das 
Schillersche  Philosophieren  ein  selbstständiges  und,  ob- 
gleich die  Darstellung  weniger  methodisch  erscheint,  ein 
selbstgewisses.  In  dieser  Beziehung  verweisen  wir  zu- 
nächst auf  die  folgenden  Besprechungen  des  »Spazier- 
ganges« und  der  »Braut  von  Messina«,  welche,  ihrer 
Natur  nach  weniger  kritisch  als  exponierend,  unserer 
Kritik  der  Briefe  zur  Ergänzung  dienen  können,  und  so- 
dann auf  die  übersichtliche  Charakteristik  der  philosophisch- 
ästhetischen Abhandlungen  Schillers,  welche  diese  durch- 
weg auf  die  »Briefe«  beziehen  soll.  — 

Der  Spieltrieb,  den  wir  unsererseits  in  ein  be- 
stimmtes Verhältnis  zu  dem  Offenbarungstriebe  schlecht- 
hin und  zu  der  Aufgabe  der  praktischen  Erziehung  ge- 
setzt haben,  wird  von  dem  Briefsteller  schon  in  dem 
vierzehnten  Briefe  vorläufig  eingeführt  und  als  der  Trieb, 
in  welchem  der  sinnliche  und  Formtrieb  verbunden 
wirken,  bezeichnet,  in  dem  fünfzehnten  Briefe  auf  den 
Begriff  der  Schönheit  bezogen,  und,  nachdem  in  den 
folgenden  Briefen  die  Wirkungen  der  Schönheit  und  das 
Wesen  der  ästhetischen  Stimmung  auseinandergesetzt 
sind,  in  dem  sechsundzwanzigsten  Briefe  mit  der  Ten- 
denz zum  Scheine,  die  an  sich  die  allgemeinere  ist, 
zusammengestellt,  in  dem  siebenundzwanzigsten  und 
letzten  Briefe  aber  als  Bewährung  des  Überflusses,  der 
seine   Bedingung  ist,   charakterisiert,   also   mit   dem  Be- 

.150 


griffe  des  Luxus  verknüpft.  Während  wir  aber  überall 
die  weitreichende  Bedeutung  des  Spieltriebes  und  der 
Spiele  mit  treffender  Entschiedenheit  hervorgehoben  finden, 
geht  doch  der  Briefsteller  auf  die  unterschiedenen  Äuße- 
rungen des  Spieltriebes  und  auf  die  Arten  des  Spiels 
nirgends  näher  ein,  er  läßt  demnach  auch  das  Verhältnis, 
in  welchem  die  unmittelbare  Befriedigung  des  Spieltriebes 
zu  der  künstlerischen  Produktion  steht,  unent- 
wickelt, obgleich  dasselbe  mehrfach  angedeutet  wird. 
Deshalb  bleibt  die  Aufgabe,  die  Genesis  der  Kunst  in 
dem  Spieltriebe  bestimmter  nachzuweisen  und  die  Kunst 
schlechthin  unter  den  Begriff  des  Spiels  zu  bringen  — 
wozu  dieser  Begriff  allerdings  erweitert  und  erhöht  wer- 
den muß  —  noch  auszuführen,  da  sie  keiner  der  spä- 
teren Ästhetiker  ausdrücklich  übernommen  hat,  was  doch 
unzweifelhaft  für  den  Fortschritt  der  ästhetischen  Wissen- 
schaft, insbesondere  für  die  Bestimmung  des  Verhältnisses, 
in  welchem  die  einzelnen  Künste  zueinander  stehen  und 
in  welcher  sie,  um  das  Auseinandergehen  der  Kunst- 
wirkungen zu  überwinden,  also  die  einheitliche  Wirkung 
der  Kunst  als  solcher  zu  vermitteln,  gesetzt  werden  müs- 
sen, von  großem  Belange  wäre.  Auch  die  im  engeren 
Sinne  pädagogische  Bedeutung  des  Spiels  ist  bis  jetzt, 
trotz  der  theoretischen  Anerkennung,  die  sie  vielfach 
findet,  zu  wenig  auseinandergesetzt,  und  noch  weniger 
getan  worden,  um  das  Spiel  als  ein  allgemeines,  schlecht- 
hin unentbehrliches  Erziehungsmittel  zu  gestalten.  Wir 
müssen  uns  hier,  wie  gesagt,  darauf  beschränken,  die 
Gesichtspunkte,  welche  sich  in  dem  Bisherigen  für  die 
eine  und  für  die  andere  Aufgabe  schon  herausgestellt 
haben,  teils  noch  ausdrücklicher  zu  bezeichnen,  teils  zu 
rekapitulieren,  indem  wir  bemerken,  daß  die  weitere  Aus- 

151 


führung  teilweise  schon  anderweitig  gegeben  ist,  anderen- 
teils aber  uns  und  Andern  vorbehalten  bleibt.  Was  ins- 
besondere die  Aufgabe  betrifft,  das  Spiel  für  die  Schule 
—  denn  nur  diese  vermag  den  Begriff  der  Erziehung  zu 
realisieren  —  zu  gestalten  und  in  sie  einzuführen,  so 
hängt  sie  nach  unserer  Ansicht  mit  der  anderen,  die  dar- 
stellende und  herstellende  Arbeit  zu  einem  allgemeinen 
Bildungs-  und  Erziehungsmittel  zu  machen,  genau  zu- 
sammen, weil  beide  im  Begriffe  der  ästhetischen  Erzie- 
hung liegen,  und  die  Pädagogik  mit  dem  Spiele  nicht 
eher  Ernst  machen  wird,  als  bis  sie  den  vollen  Begriff 
der  ästhetischen  Erziehung  an-  und  aufgenommen  hat. 
In  diesem  vollen  Begriffe  ist  die  Forderung,  die  Unfrei- 
heit der  durch  das  äußerliche  Bedürfnis  bedingten  Tätig- 
keit, also  die  Konsequenzen  der  Arbeitsteilung  im  vor- 
aus aufzuheben,  enthalten,  und  wenn  das  Spiel  ohne 
die  x\rbeitsübungen  in  die  Schule  eingeführt  würde  — 
was  nicht  zu  erwarten  ist  —  so  würde  sich  der  Einfluli 
desselben  inmitten  einer  Zivilisation,  welche  die  Wirk- 
samkeit der  Erziehung  als  eine  restauratorische  verlangt, 
schnell  verflüchtigen. 

30.  Daß  der  Briefsteller  den  abstrakten  Gegensatz  des 

Spiels  und  der  Arbeit  festhält,  also  von  der  letzteren,, 
soweit  es  sich  um  die  Herstellung  des  ästhetischen  Zu- 
standes  handelt,  abstrahiert  oder  sie  doch  nur  insofern 
berücksichtigt,  als  ihre  unfrei  machenden  Wirkungen  auf- 
zuheben sind,  haben  wir  schon  früher  ausgeführt.  Damit 
stimmt  aber  zusammen,  daß  er  zwar  den  Überfluß,  und 
zwar  den  Stoffüberfluß  oder  den  Überfluß  der  äußerlichen 
Befriedigungsmittel  als  eine  Vorbedingung  für  das  Her- 
vortreten des  Spieltriebes  erklärt,  aber  auf  die  Erzeu- 
gung des  Überflusses  nicht  eingeht,  sondern  denselben, 

132 


auch  hier  von  der  Arbeit  abstrahierend,  als  eine  ge- 
gebene Tatsache  verlangt  und  behandelt,  obgleich  er 
nicht  den  Überfluß,  den  eine  üppige  Natur  an  sich  ge- 
währt, im  Sinne  haben  kann;  da  ihm  die  »günstige 
Natur«,  welche  die  Schönheit  als  solche  hervorbringt  und, 
damit  sie  überhaupt  in  die  Wirklichkeit  trete,  hervor- 
bringen muß,  keineswegs,  wie  die  Schilderung  derselben 
in  dem  sechsundzwanzigsten  Briefe  zeigt,  die  den  Men- 
schen mit  ihren  Gaben  überschüttende  und  ihm  die  Ar- 
beit ersparende  Natur  ist.  Sonach  ist  die  Beziehung, 
welche  zwischen  dem  ökonomischen  und  ästheti- 
schen Zustande  besteht,  nur  angedeutet,  wie  die  zwischen 
der  Ästhetik  und  Pädagogik  sich  zwar  bestimmter  heraus- 
stellt, aber  ohne  daß  ihr  Verhältnis  ausdrücklich  gefor- 
dert und  auseinandergesetzt  würde.  Dagegen  wird  der 
ästhetische  Zustand  und  zwar  als  durch  den  ästhetischen 
Genuß  erzeugte  Stimmung  wie  als  Charakter  ausführ- 
licher entwickelt,  wobei  die  anthropologische  von  der 
kulturhistorischen  Betrachtung  abgelöst  wird. 

Das  Entstehen  des  Spieltriebes  leitet  der  Briefsteller 
aus  der  Erfahrung  von  »Fällen«  ab,  in  denen  der  Mensch 
sich  zugleich  seiner  Freiheit  bewußt  wird  und  sein  Da- 
sein empfindet,  zugleich  als  Materie  fühlt  und  als  Geist 
kennen  lernt,  so  daß  er  in  dieser  Erfahrung  das  Symbol 
seiner  ausgeführten  Bestimmung  gewinnt.  Damit  wahrt 
der  Briefsteller  seine  Behauptung,  daß  es  außer  dem 
Empfindungs- und  Formtriebe  keinen  dritten  ursprüng- 
lichen Trieb  geben  könne,  stellt  aber  den  aus  der  Er- 
fahrung entstehenden,  »sekundären«  Trieb  als  denjenigen 
dar,  in  welchem  die  Menschheit  sich  ankündigt  und 
durch  dessen  Betätigung  sie  sich  verwirklicht.  Hiergegen 
kann  man  nicht  umhin,   zu  bemerken,   daß  zu   der  Er- 

^53 


fahrung  nicht  nur  ein  Objekt,  sondern  auch  die  ent- 
sprechende Empfänglichkeit  gehört,  daß  also  die  letztere 
in  dem  Menschen  gegeben  sein  muß,  und  zwar,  da  der 
Trieb  nur  aus  der  Befriedigung  heraus  wächst,  als  ein 
entschiedenes  Bedürfnis,  mit  diesem  aber,  wenn  es  der 
Mensch  überhaupt  selbsttätig  befriedigen  kann  und  soll, 
wie  er  es  im  Spiele  tut,  mindestens  die  Tendenz  dieser 
Selbstbefriedigung;  daß  ferner  erfahrungsgemäß  die  spie- 
lende Betätigung  die  erste  des  Kindes  oder  vielmehr 
seine  Betätigung  schlechthin  ist,  folglich  nur  von  einem 
Übergange  des  noch  unästhetischen  zu  dem  ästhetischen 
Spieltriebe  die  Rede  sein  könnte.  Wenn  weiterhin  der 
Briefsteller,  nachdem  er  schon  den  kulturhistorischen  Ge- 
sichtspunkt herausgestellt  hat,  die  Erfahrung,  welche  den 
Spieltrieb  weckt  oder  ihm  wenigstens  seine  ästhetische 
Form  gibt,  von  der  Gunst  des  Zufalles  abhängig  macht, 
indem  er  die  ästhetische  Stimmung  als  das  Produkt 
einer  günstigen  Natur,  welche  die  Nötigung  des  Bedürf- 
nisses zuvorkommend  aufhebt  und  dem  Schönheitssinne 
Nahrung  bietet,  kennzeichnet,  so  ist  zwar  die  Tatsache, 
daß  der  Mensch  bis  zu  einem  gewissen  Grade  das  Pro- 
dukt der  ihn  umgebenden  Natur  ist,  anzuerkennen,  es 
folgt  aber  gerade  aus  dieser  Tatsache,  daß  die  ästhetische 
Stimmung  und  das  ästhetische  Verhalten  eine  relativ 
vollkommene  Organisation  verlangen,  daß  also  da,  wo 
diese  vorhanden  ist,  die  sinnliche  und  geistige  Natur 
ihre  Einheit  nicht  aus  der  Entgegensetzung  gewinnen, 
sondern  an  sich  haben  —  weshalb  ein  Moralgesetz,  wel- 
ches sich  dem  sinnlichen  Triebe  entgegengesetzt,  der 
Ausdruck  einer  durch  die  Einseitigkeit  oder  Schwäche 
der  Sinnlichkeit  gehemmten  Vernunfttätigkeit  ist  —  und 
daß  der  ästhetische  Spieltrieb   nicht  sowohl  der  ästheti- 

154 


sehen  »Einwirkung«  als  der  ästhetischen  Produk- 
tivität der  Natur  sein  Entstehen  verdankt,  insofern 
diese  eine  gerade  dem  menschUchen  Organismus  »gün- 
stige« ist.  Denn  die  Erfahrung  beweist  vielfach,  daß  die 
schöne  Natur  keineswegs  notwendig  den  schönen  Men- 
schen hervorbringt,  daß  aber  die  einmal  gegebene  Form 
eine  von  der  Bestimmtheit  der  äußeren  Natur  unab- 
hängige Produktivität  besitzt  und  bewährt,  d.  h.  sich 
auch  noch  unter  durchaus  veränderten  Naturumgebungen 
und  Natureinwirkungen  fortpflanzt.  Ist  demnach  der  Cha- 
rakter des  Spieltriebes  von  der  mehr  oder  minder  voll- 
kommenen, gröberen  oder  feineren,  kräftigeren  oder 
schwächeren  Organisation  abhängig,  sein  Hervortreten 
aber  unmittelbare  organische  Betätigung,  so  hat  er  auch 
die  doppelte  Tendenz,  den  an  sich  gegebenen  Organis- 
mus auszugestalten  und  die  Selbstempfindung  desselben 
tätig,  also  durch  die  Bewegung,  zu  vermitteln,  hinter 
sich,  eine  Tendenz,  die  als  ästhetische  auf  die  Produk- 
tion und  den  Genuß  der  schönen  menschlichen  Gestalt 
hinausgeht.  Damit  ist  ausgesprochen,  daß  die  Genesis 
des  Spieltriebes  nicht  in  einer  »Erfahrung«  liegt,  welche 
die  »vollständige  Entwicklung  der  beiden  Grundtriebe« 
zur  Voraussetzung  hat,  daß  er  vielmehr  in  der  Tat  als 
ein  ursprünglicher  Trieb  wirkt  und  aus  seiner  Betätigung 
die  Erfahrungen,  die  er  zunächst  braucht,  gewinnt,  ob- 
gleich er  weiterhin  die  Anschauungen  der  Wirklichkeit 
in  sein  Bereich  zieht.  Daß  er  aber  der  Tendenz  nach 
von  vornherein  ästhetischer  Trieb  ist,  liegt  in  dem  Be- 
griffe der  »Selbstproduktion«,  welcher  die  äußere  Nöti- 
gung ausschließt  und  das  Gefühl  wie  das  Verlangen 
der  Freiheit  voraussetzt. 

Wenn  dennoch,  wie  wir  früher  ausgeführt  haben,  um 

«      155 


ihn  als  ästhetischen  Trieb  zu  gestalten,  bestimmte  und 
zwar  erzieherische  Einwirkungen  notwendig  sind,  so  be- 
stehen diese  doch  nicht  einseitig  in  der  Vermittlung 
ästhetischer  Eindrücke,  d.  h.  der  Spieltrieb  entwickelt 
und  gestaltet  sich  nicht  infolge  irgendwie  bewirkter  ästhe- 
tischer Stimmungen,  sondern  die  ästhetische  Stimmung 
ist  das  Produkt  seiner  Betätigung,  wie  es  die  Schön- 
heit ist.  Wir  haben  dies  zu  betonen,  weil  der  Briefsteller 
seinerseits  zunächst  die  Wirkungen  des  Kunstschönen 
und  sodann  die  des  Naturschönen  in  den  Vordergrund 
stellt  und  die  Entwicklung  und  Gestaltung  des  Spiel- 
triebes von  ihnen  abhängig  macht  —  gemäß  dem  Zwecke, 
der  Kunst  als  solcher  eine  reformatorische  Wirksam- 
keit beizulegen  —  während  es  uns  darauf  ankommt,  die 
Möglichkeit  und  Notwendigkeit  der  praktischen  ästhe- 
tischen Erziehung  nachzuweisen,  ohne  deshalb  den  Ein- 
fluß der  schöpferischen  Kunst  auf  den  Zeitcharakter  zu 
leugnen  und  zu  unterschätzen.  Wie  der  Spieltrieb  das 
Gebiet  der  Selbstdarstellung  allmählich  erweitert,  indem 
er  einerseits  die  gemeinsame  Bewegung  und  Äuße- 
rung zu  gestalten  sucht,  andrerseits  die  Nachahmung 
ernster  Tätigkeiten  und  Vorgänge  in  seinen  Darstellungs- 
kreis aufnimmt,  haben  wir  früher  angedeutet.  Indem  sich 
aber  das  Spiel,  das  zunächst  die  Betätigung  des  noch 
unentwickelten  und  unselbständigen  Menschen  schlecht- 
hin ist,  entfaltet,  scheidet  sich  zuerst  die  objektive  For- 
mendarstellung, die  einen  Stoff  fordert,  von  demselben 
ab,  späterhin  nehmen  Gesang  und  Tanz  eine  selbständige 
Gestalt  an  und  werden  hierdurch  zu  den  ersten  Künsten, 
und  endlich  erhebt  sich  das  Nachahmungsspiel,  indem 
es  einerseits  Gesang  und  Tanz  von  neuem  vereinigt  und 
zur  Folie  der  nachahmenden  Darstellung:  macht,  andrer- 


'ö 


156 


seits  der  religiösen  Feier,  der  es  in  dieser  erhöhten  Form 
dient,  den  DarstellungsstoflF  entnimmt,  also  den  Mythus 
vergegenwärtigt,  zur  dramatischen  Kunst 

Diese  ist  demnach  das  höchste  Produkt  des  Spieltrie- 
bes, der  das  Spiel  bis  zu  ihr  hinauf  fortsetzt,  indem  er 
^ie  übrigen  Künste,  die  sich  von  demselben  ablösten, 
von  neuem  zusammenfaßt,  Die  dramatische  Kunst  aber 
offenbart  die  Macht,  welche  das  Freiheitsbewußtsein  in 
der  Entwicklung  des  Spieltriebes  erlangt  hat,  dadurch, 
daß  sie  den  tiefsten  Ernst  des  Lebens,  die  Zertrümme- 
rung der  menschlichen  Existenz  durch  ein  unvermeid- 
liches Geschick,  die  ein  immer  wiederkehrendes  Ereignis 
ist,  in  ein  Spiel  umsetzt,  um  sich  der  Macht  der  Not- 
wendigkeit, die  über  alles  menschliche  Wollen  und  Tun 
unaufhaltsam  hinwegschreitet,  gewachsen  zu  zeigen.  An 
die  Tragödie  schließt  sich  sodann  die  Komödie  an,  welche 
den  Zufall  als  Gelegenheitsmacher  von  Geschichten  auf- 
zeigt, die  ebenso  Karikaturen  der  Geschichte  sind  wie 
die  in  Spiel  gesetzten  Personen  Karikaturen  der  ausge- 
prägten Persönlichkeit,  um  die  Ausartungen  des  Mensch- 
lichen, welche  die  Heiterkeit  des  Bewußtseins  trüben 
könnten,  als  oberflächliche  Erscheinung  darzutun  und 
aufzulösen.  Daß  der  Briefsteller  sonderbarerweise  gerade 
die  dramatische  Kunst  zu  dem  Spieltriebe  in  kein  Ver- 
hältnis setzt,  und  die  Wirkungen  derselben,  wo  er  von 
dem  notwendigen  Charakter  der  ästhetischen  Stimmung 
spricht,  gewissermaßen  entschuldigt,  haben  wir  schon 
erwähnt.  Seine  Worte  sind:  »Künste  des  Affekts,  der- 
gleichen die  Tragödie  ist,  sind  kein  Einwurf  (gegen  die 
geforderte  Gemütsfreiheit);  denn  erstlich  sind  es  keine 
ganz  freien  Künste,  da  sie  unter  der  Dienstbarkeit  eines 
besonderen  Zweckes  —  des  Pathetischen  —  stehen,  und 

157 


dann  wird  wohl  kein  wahrer  Kunstkenner  leugnen,  daß 
Werke  auch  selbst  aus  dieser  Klasse  um  so  vollkom- 
mener sind,  je  mehr  sie  auch  im  höchsten  Affekte  die 
Gemütsfreiheit  schonen.«  Durch  den  ersten  Entschuldi- 
gungsgrund ist  nun  offenbar  die  dramatische  Kunst  tiefer 
gestellt,  als  es  sonst  von  Schiller  geschieht,  der  zweit? 
aber  würde  die  spezifische  Bedeutung  der  dramatischen 
Kunst,  welche  sie  über  die  übrigen  erhebt,  ausdrücken, 
wenn  statt:  »im  höchsten  Affekte  die  Gemütsfreiheit 
schonen«,  gesagt  wäre:  aus  dem  höchsten  Affekte  die 
Gemütsfreiheit  wiederherstellen  oder  hervorgehen  lassen. 
Die  ausbeugende  Wendung  dieser  Stelle,  die  uns  bei 
Schiller  auffallen  muß,  ei'klärt  sich  daraus,  daß  er  durch 
den  Fortschritt  seines  Beweises  für  die  Notwendigkeit 
des  ästhetischen  Zustandes  gezwungen  ist,  die  Freiheit 
von  jeder  Bestimmtheit  des  Gemütes,  möge  sie  der  Emp- 
findung oder  dem  Gedanken  entstammen,  zu  betonen, 
und  daß  er  die  ästhetische  Stimmung  nicht  als  eine  sich 
entwickelnde,  sondern  als  einfaches  Resultat  charakteri- 
siert. Aber  die  Entschuldigung  ist  hiermit  nicht  entschul- 
digt, d.  h.  wir  müssen  in  der  angeführten  Stelle  einen 
Beweis  unter  anderen  finden,  daß  die  kantisch-philo- 
sophische Basis,  welche  Schiller  seiner  Erörterung  ge- 
geben hat,  keine  ausreichende  ist,  um  daraus  die  ver- 
schiedenartigen Kunstwirkungen  zwanglos  und  jeder  ge- 
nügend abzuleiten. 

31.  Daß  der  Briefsteller  die  ästhetische  Stimmung  als 
eine  mittlere  zwischen  der  sinnlichen  und  logischen 
charakterisieren  muß,  ergibt  sich  von  selbst  aus  der  An- 
lage seiner  Auseinandersetzungen.  Den  Gegenstand,  wel- 
cher diese  Stimmung  erzeugt,  bezeichnet  er  konsequent 
als  »lebende  Gestalt«,   und  definiert  hiermit  die  Schön- 

158 


heit.  Er  hat  aber  die  »lebende  Gestalt«  zuerst  als 
Gegenstand  des  Spieltriebes  ausgesprochen  und  gefordert, 
daß  der  Mensch  »nur  mit  der  Schönheit  spielen  solle«, 
während  bei  der  weiteren  Charakteristik  der  ästhetischen 
Stimmung  unmerklich  das  Kunstwerk  als  der  wirkende 
Faktor  derselben  eintritt.  Sonach  ließe  sich  annehmen, 
daß  der  Spieltrieb  produktiv  gedacht  ist,  wenn  nicht 
weiterhin  sein  Entstehen,  wie  wir  sahen,  von  dem  Ein- 
druck des  Schönen  abhängig  gemacht  würde.  Jeden- 
falls fehlt  in  den  Briefen  sowohl  die  ausdrückliche  und 
auseinandersetzende  Beziehung  des  Spieltriebes  auf  die 
künstlerische  Produktivität,  wie  die  ausdrückliche  Unter- 
scheidung des  produktiven  und  rezeptiven  ästhetischen 
Verhaltens,  indem  er  nur  das  letztere  charakterisiert,  die 
ästhetische  Produktivität  aber  aus  dem  Spieltriebe  nicht 
abgeleitet  ist.  Was  die  Definition  der  Schönheit  als 
»lebende  Gestalt«  anbetrifft,  so  kann  sie  als  ausreichend 
gelten,  wenn  einerseits  die  Gestalt  als  die  notwendige 
und  vollkommene  Form  einer  gegebenen  Existenz,  an- 
drerseits das  Leben  als  die  Lebensempfindung,  die  sich 
für  die  Empfindung  objektiviert,  begriffen,  beide  Begriffe 
aber  so  zusammengefaßt  werden,  daß  in  der  Gestalt 
der  Ausdruck  der  bestimmten  Lebensempfindung  und 
diese  als  eine  trotz  ihrer  Bestimmtheit  volle,  als  unbe- 
schränktes Existenzgefühl  gefordert  ist. 

An  die  Wirksamkeit  des  Offenbarungstriebes  anknü- 
pfend können  wir  die  Schönheit  als  die  ungehemmte 
und  abgeschlossene  Erscheinung  eines  in  sich  be- 
stimmten Inneren  oder  als  ein  Ganzes  definieren, 
welches  in  seiner  Veräußerung  als  solches  erscheint. 
Die  Schönheit  befriedigt  uns  zunächst  dadurch,  daß  sie 
Offenbarung  ist,   d.  h.  die  Vorstellung  eines  Innern  er- 

159 


zeugt,  welches  den  Hintergrund  der  Erscheinung  abgibt, 
weiterhin  aber  dadurch,  daß  wir  die  in  der  Erscheinung 
begriffene  Existenz  als  eine  ungehemmt  veräußerte  und 
in  der  Veräußerung  zusammengehaltene  empfinden,  folg- 
lich die  Offenbarung  des  bestimmten  Seins  als  eine  trotz 
ihrer  Vermittlung  unmittelbare  und  trotz  oder  wegen 
ihrer  Begrenztheit  unbegrenzte.  Daher  konzentriert  der 
schöne  Gegenstand  unser  Empfinden,  Vorstellen  und 
Denken  auf  sich,  ohne  daß  wir  uns  beschränkt  fühlen: 
er  fesselt  uns,  indem  er  unsere  Vorsteilungstätigkeit 
entbindet,  und  er  setzt  sie  in  eine  ungehemmte  Bewegung; 
indem  er  sie  in  seinen  Schranken  hält.  Definieren  wir 
aber  die  Schönheit  und  ihre  Wirkung  in  dieser  Art,  so 
dürfen  wir  nicht  zugeben,  daß  sie  an  sich  für  unsere 
Erkenntnis  und  Gesinnung  unfruchtbar  sei  oder  kein 
Resultat  abgebe.  Denn  daß  die  Schönheit  kein  Resultat 
für  unsere  Erkenntnis  abgeben  soll,  widerstreitet  dem 
Begriffe  der  Offenbarung,  daß  sie  für  unsere  Gesinnung 
unfruchtbar  sein  soll,  ist  unmöglich,  weil  die  Befriedi- 
gung, die  sie  gewährt,  das  Verlangen  nach  Schönheit, 
also  nach  vollkommener  Veräußerung  des  Innern  zu- 
rückläßt, und  zwar  sind  unsere  Erkenntnis  und  unser 
Wille  erweitert  und  bestimmt  sowohl  wenn  die  Schön- 
heit zu  unserem  Genüsse  gelangte  als  wenn  wir  sie 
selbsttätig  dargestellt  haben.  Wir  können  daher  die  ästhe- 
tische Stimmung  nicht  einseitig  in  eine  Gemütsfreiheit 
setzen,  welche  mit  der  Unbestimmtheit  des  Gemütes 
gleichbedeutend  ist,  wenn  es  auch  die  Unbestimmtheit 
der  Fülle  sein  soll,  sondern  finden  in  dem  erneuten  Be- 
wußtsein unseres  allseitigen  Vermögens  nur  das  eine 
Moment  derjenigen  ästhetischen  Stimmung,  in  welche 
der  Schönheitsgenuß  schließlich  ausläuft,  das  andere 

i6o 


aber  in  der  verstärkten  Überzeugung,  daß  die  Offen- 
barung des  Innersten  möglich  und  die  Hingabe  an  das 
andere  der  Gewinn  des  Selbst  ist.  Diese  Momente  der 
Befriedigung  aber  hat  der  Schönheitsgenuß  als  solcher, 
nur  in  einer  Bestimmtheit  des  Gefühls,  welche  unmög- 
lich als  ein  unästhetischer  Zustand  bezeichnet  werden 
kann.  Dabei  bleibt  zu  bemerken,  daß  das  ästhetische  Ver- 
halten, das  rezeptive  wie  das  produktive,  ein  sich  fort- 
setzendes und  abstufendes  ist  und  sein  muß,  das  es  also 
in  dem  höchsten  Schönheitsgenusse  und  in  der  gesam- 
melten künstlerischen  Produktion  nur  seine  Konzentra- 
tion hat. 

32.  Nach  einer  stellenweise  wahrhaft  glänzenden  Dar- 
stellung der  Aufeinanderfolge  des  sinnlichen,  ästhetischen 
und  logischen  Zustandes  in  der  Entwicklung  der  Mensch- 
heit —  ein  Nacheinander,  das  wir  in  seiner  abstrakten 
Fassung  nicht  anzuerkennen  vermögen  —  und  nachdem 
insbesondere  die  Religiosität  der  beiden  ersten  »Entwick- 
lungsstufen« als  Produkt  der  den  eigenen  Zustand  ins 
Unendliche  ausdehnenden  Imagination  ge- 
schildert ist,  kommt  der  Briefsteller  auf  den  Spieltrieb 
zurück,  und  läßt  ihn  aus  dem  Zwange  des  Überflusses 
hervorgehen,  der  zunächst  das  physische  Spiel  und  mit- 
tels dieses  das  ästhetische  bedingen  soll.  Wenn  aber  zu- 
gegeben werden  muß,  daß  der  Zwang  der  Notdurft  den 
Spieltrieb  zurückhält  —  sofern  wir  darunter  das  nur  be- 
schwichtigte oder  nur  mittels  stetiger  Anstrengung  be- 
friedigte physische  Bedürfnis  verstehen,  welches  in  dem 
einen  Falle  Verkümmerung  und  Schwäche,  in  dem  an- 
deren den  Verlust  der  natürlichen  Elastizität  bedingt  — 
so  folgt  doch  hieraus  keineswegs,  daß  der  Stoffüberfluß 
zum  ästhetischen  Spiele   führt  oder  auch  nur  zum  phy- 

Deinhardt,  Schiller.      II 

161 


sischen  zwingt.  Wäre  dies  der  Fall,  so  müßte  die  ver- 
schwenderische Natur  den  Spieltrieb   zu   raschester 
Entfaltung  bringen,  daß  dies  aber  nicht  der  Fall  ist,  hat 
der  Briefsteller,  wo  er  die  der  Schönheit  günstige  Natur 
charakterisiert,  eingeräumt.   Wir  finden  häufig  genug  im 
Schöße  der  üppigsten  Natur  die  menschliche  Verkümme- 
rung, und  wenn  nicht  diese,  so  doch  eine  völlig  unbe- 
herrschte  Sinnlichkeit,    die    auch    das    Spiel    beherrscht. 
Sehen  wir  aber  von  dem  Reichtume  der  tropischen  Natur 
mit  ihren  stiefmütterlich   behandelten  Menschen  ab,   so 
finden  wir   auch   innerhalb  der  gemäßigten  Zonen  arme 
Bergvölker,    die    das   Leben   täglich    erkämpfen   und   bei 
denen   mindestens    das    physische   Spiel   in   Blüte   steht, 
aber  nicht  selten  auch  Ansätze  zu  dem  ästhetischen  zeigt, 
während  die  Bewohner  fruchtbarer  Ebenen,  schwerfällig 
schaffend  und  bequem  genießend,  das  Spiel  verschmähen. 
Nicht   das   üppige  BÖotien,   sondern   das   magere  Attika 
entwickelte   die  griechische  Lebendigkeit  und  den   grie- 
chischen Geist,  und  die  dürftige  Küste  zwang  die  Phö- 
nizier,   wenn    auch    nicht    ein   Kunstvolk    so    doch   ein 
Luxusvolk  zu  werden.  Die  Erfahrung  zeigt  also,  daß  es 
nicht   der  Überfluß   des  gebotenen   Stoffes   ist,    der   das 
physische  Spiel  und  die  geistige  Elastizität,   die  es  zum 
ästhetischen  macht  oder  ihm  annähert,  hervorbringt,  daß 
es  vielmehr  in  dieser  Beziehung  auf  eine  glückliche  Or- 
ganisation ankommt,  deren  Urbedingungen  sich  teils  der 
Untersuchung  entziehen,  teils  zwar  als  geographische  er- 
scheinen, aber  nicht  einseitig  auf  Temperatur-  und  Frucht- 
barkeitsverhältnisse zurückzuführen  sind.  Faßt  man  aber 
den  geschaffenen,   also  erarbeiteten  Überfluß  in  das 
Auge,   so  kann    er   erstens    nur    durch    die    notdürf- 
tige Befriedigung  derer,  die  arbeiten,  entstehen,   da  kein 

162 


Überfluß  über  die  volle  Befriedigung  der  Arbeitenden  und 
die  notwendigen  Arbeitsanlagen  hinausreicht,  wobei  so- 
gleich zu  bemerken  ist,  daß  die  Befriedigung  des  Kunst- 
triebes bei  einem  Volke,  welches  ihn  überhaupt  zu  ent- 
wickeln vermag,  von  vornherein  eine  Notwendigkeit  ist 

—  er  setzt  also  die  Unfreiheit  voraus  und  wird  als  schon 
verarbeiteter,  für  das  Bedürfnis  bestimmter  einer  privi- 
legierten Klasse  überHefert,  wodurch  die  ästhetische  Kultur 
zu  einem  Privilegium  werden  müßte,  wenn  sie  in  der 
Tat  durch  den  Überfluß  bedingt  wäre;  zweitens  aber 
ist  kein  Grund  vorhanden,  warum  dies  bei  dem  Über- 
flusse schon  zugerichteter  Bedürfnismittel  eher  oder  mehr 
der  Fall  sein  sollte,  wie  bei  dem  Überflusse,  den  die 
Natur  bietet,  da  der,  welcher  den  Stoff  nicht  formt,  son- 
dern geformt  erhält,  mit  ihm  nicht  »spielen«  kann,  in- 
sofern er  nicht  das  Spiel  der  zwecklosen  Zerstörung 
treibt,  und  der,  welcher  die  Arbeit  beherrscht,  allerdings 
seine  Bedürfnisse  zu  raffinieren  vermag,  um  die  Arbeit 
im  Gange  zu  halten  und  sich  die  Leere,  die  der  Über- 
fluß für  i  h  n  bedingt,  wie  für  den  Arbeitenden  der  Mangel, 
zu  verbergen,  aber  aus  diesem  Raffinement  der  Be- 
dürfnisse unmöglich  die  Lust  und  Fähigkeit  der  freien 
Kraftbetätigung  hervorgehen  kann,  vielmehr  notwendig 
eine  Erschlafi^ung  hervorgeht,  welcher  Reize  zu  gewähren 
auch  eine  Art  von  Kunst  —  die  Luxuskunst  —  sich 
abmüht. 

Zwischen  dem  Überflusse  und  der  Notdurft  liegt  das 
Notwendige,  dessen  Grenzen  zu  erreichen  und  ein- 
zuhalten Bedingnis  der  sozialen  —  wie  der  individuellen 

—  Gesundheit  und  Fruchtbarkeit  ist.  Wo  der  Über- 
fluß Bestand  gewinnt,  also  nicht,  wie  er  entsteht,  in  der 
Gestaltung  und  Entwicklung  aufgehoben  wird,   beweist 

163 


er  die  Schwäche  des  »Formtriebes«  und  läßt  den  Emp- 
findungstrieb ausarten,  während  allerdings  da,  wo  der 
Überfluß  überhaupt  nicht  entsteht,  entweder  die  gegebene 
Objektivität  eine  besonders  dürftige  und  reizlose,  oder 
die  gegebene  Organisation  —  die  mit  der  gegebenen 
Objektivität,  wie  schon  bemerkt,  nicht  in  einfacher  Kor- 
respondenz steht  —  eine  besonders  beschränkte  sein  muß. 
Fassen  wir  den  individuellen  Organismus  in  das  Auge, 
so  ist  der  an  ihm  Bestand  gewinnende  Überfluß  die 
Folge  einer  sich  nicht  durchsetzenden  Assimilation,  d.  h. 
einer  Assimilation,  welche  den  verinnerten  Stoff"  in  die 
Formation  der  höheren  Empfindungs-  und ,  Wirkorgane 
nicht  eingehen  läßt,  sondern  in  der  Sphäre  der  äußer- 
lichsten Selbstgestaltung  festhält.  Die  Folge  wird  aber 
umgekehrt  zur  Ursache,  d.  h.  der  festgehaltene  Überfluß 
wird  ein  Hemmnis  für  die  Energie  der  Betätigung,  wäh- 
rend er  auf  die  Selbstempfindung  einen  Druck  und  Reiz 
ausübt,  der  teils  abstumpfend  wirkt,  teils  das  Bedürfnis 
der  äußeren  Reizung  steigert  —  eine  Steigerung,  deren 
Grad  und  Art  derartige  werden  können,  daß  sie  eine 
krankhafte  Zersetzung  des  vorhandenen  Überflusses,  also 
einen  Prozeß  der  Auflösung  bedingen,  den  der  Orga- 
nismus schlechthin  erleidet.  Sonach  ist  zunächst  für  die 
Gesundheit  und  allgemeine  Kräftigkeit,  und  weiterhin  für 
die  Schönheit  oder  vollkommene  Selbstgestaltung  und 
für  die  vollkommene  Produktivität  des  individuellen 
Organismus  die  stetige  Aufhebung  des  stetig  entstehen- 
den Überflusses  notwendig.  Was  die  Schönheit  ins- 
besondere betrifft,  so  widerspricht  ihrem  Begriff  die 
Erscheinung  einer  nur  quantitativen  Fülle  oder  der  Mas- 
senhaftigkeit  als  solcher  ebenso  entschieden  wie  die  Er- 
scheinung  des  Stoffmangels,   die  Produktivität  aber   er- 

164 


fordert  als  die  höhere  Form  der  Ab-  und  Ausscheidung 
die    durchgesetzte  Assimilation,   kann   also    da,    wo    der 
Überfluß  sich  unmittelbar  veräußert,   nur  unvollkommen 
statthaben.  Dasselbe  gilt  von  dem  sozialen  Organismus, 
dessen  notwendige  Form  mit  der  gegebenen  des  in- 
dividuellen Organismus   allerdings   nicht  in  so  einfacher 
Korrespondenz  steht  oder  stehen  soll,   wie   sie   z.  B.  in 
dem  Idealstaate  Piatos   dargestellt  ist.    In   bezug  hierauf 
ist  insbesondere   hervorzuheben,   daß   der  soziale  Orga- 
nismus notwendig  um  so  vollkommener  ist,  je  vollkom- 
mener die  Individuen,    die   ihn    durch   ihre   fortgesetzte, 
d.  h.  sich  fortgesetzt  erneuende  Vereinigung  bilden,  für 
sich  sind,  je  weniger  sich  also  die  im  Begriff  des  Or- 
ganismus schlechthin   gegebene  Teilung  der  Funktionen 
zu  einer  die  Allgegenwart  des   sozialen  Geistes  und  die 
freie  Entwicklung  der  Individuen  aufhebenden  Einteilung 
veräußert    oder,    um    den   Bestand    der   Gesellschaft    zu 
sichern,    veräußern    muß.    Aber    die    Unvollkommenheit 
einer  solchen  Organisation,  die  scheinbar  nicht  nur  ihren 
eigenen  Bestand,  sondern  auch  die  Freiheit  der  höheren 
Funktionen  sichert,  zeigt  sich  eben  darin,  daß  sie  einen 
Überfluß  bedingt,  der  sich  als  solcher  erhält  und  formt, 
also  weder   der  Wirkkräftigkeit   noch  der   höheren,    den 
»schönen    Schein«    realisierenden    Produktivität    zugute 
kommt.    Denn    die   wahre  Kunst   hat   sich   niemals   mit 
und  aus  dem  Luxus  entwickelt,  sondern  immer  nur  aus 
der  allgemeinen  Spiellust  und  Spielfähigkeit,  welche  aller- 
dings einen  Überschuß  von  Kräften,  die  in  der  notwen- 
digen Arbeit  nicht  aufgehen,  verlangen,  aber  diesen  Über- 
schuß durch  sich    selbst   bedingen,    indem    sie    die  Ent- 
wicklung der  Stoffbedürftigkeit  begrenzen,  den  Umkreis 
derjenigen  Befriedigung,   welche  »der  Mensch  am  Men- 

165 


sehen«  findet,  deren  »Material«  also  eip  gegebenes  ist, 
erweitern,  und  die  Kraft  zur  Arbeit  ihrerseits  und  positiv 
erhöhen,  weil  das  Spiel  nicht  nur  eine  wohltätige  Ab- 
spannung und  Ausgleichung  bewirkt,  sondern  auch  das 
Zusammenwirken  der  Organe  übt,  die  Zweckmäßigkeit  der 
Bewegungen  allseitig  vergegenwärtigt,  und  den  Mut  und 
Willen  erzeugt,  in  der  Arbeit  sich  frei  zu  verhalten,  also 
die  Gezwungenheit,  die  ihre  Schwere  ausmacht,  zu  lösen. 
}}.  Der  Spieltrieb  nimmt  eine  ästhetische  Form  an 
und  wird  zum  Kunsttriebe,  wo  überhaupt  die  Voraus- 
setzungen und  Anlagen  zu  einer  Kultur  historischen  Cha- 
rakters vorhanden  sind.  Wie  die  Kunstübung  aus  dem 
Spiele  erwächst,  sich  gestaltet  und  gliedert,  haben  wir 
früher  andeutungsweise  angegeben.  Es  versteht  sich  hier- 
bei von  selbst,  daß  das  ästhetische  Verhalten  und  die 
ästhetische  Betätigung,  indem  sie  sich  in  der  Kunstpro- 
duktion und  dem  Kunstgenüsse  konzentrieren,  wo  die 
Kunst  in  der  Tat  eine  organisch  entwickelte  ist,  in  dieser 
Konzentration  nicht  aufgehen,  daß  sie  also  das  Gebiet 
des  Spieltriebes,  der  die  künstlerische  Befähigung  —  die 
rezeptive  und  produktive  —  erzeugt,  nicht  verengen,  seine 
Kraft  nicht  erschöpfen  darf.  Auch  der  Briefsteller,  der 
auf  das  Verhältnis  der  allgemeineren  und  freieren  Form 
des  ästhetischen  Verhaltens  zu  derjenigen  Erhöhung  des- 
selben, welche  in  der  Absonderung  der  Darstellungs- 
arten und  in  dem  Gegenüber  der  produzierenden  und 
genießenden  Tätigkeit  liegt,  nicht  eingeht,  führt  doch  da, 
wo  er  den  dynamischen,  den  ethischen  und  den  ästhe- 
tischen Staat  entgegensetzen  oder  vielmehr  das  Inein- 
ander dieser  drei  »Staaten«  charakterisieren  will,  einen 
neuen  Begriff,  den  der  »schönen  Geselligkeit«  oder  des 
»schönen  Umgangs«  ein,   was  insofern  unvermittelt  ge- 

i66 


schiebt,  als  bei  der  Cbarakteristik  des  Spieltriebes  das 
Moment  der  »zwecklosen«  oder  freien  Gemeinschafts- 
verwirklichung und  des  Gemeinschaftsgenusses  nicht  aus- 
drücklich hervorgehoben  ist.  »Wenn  in  dem  dynami- 
schen Staate  der  Rechte,«  sagt  der  Briefsteller,  »der 
Mensch  dem  Menschen  als  Kraft  begegnet  und  sein  Wir- 
ken beschränkt  —  wenn  er  sich  ihm  in  dem  ethischen 
Staat  der  Pflichten  mit  der  Majestät  des  Gesetzes  ent- 
gegenstellt und  sein  Wollen  fesselt,  so  darf  er  ihm  im 
Kreise  des  schönen  Umgangs,  in  dem  ästhetischen 
Staat,  nur  als  Gestalt  erscheinen,  nur  als  Objekt  des 
freien  Spiels  gegenüberstehen.  Freiheit  zu  geben  durch 
Freiheit  ist  das  Grundgesetz  dieses  Reiches.«  Weiterhin 
wird  ausgesprochen,  daß  der  dynamische  Staat  die  Ge- 
sellschaft nur  möglich,  der  ethische  nur  moralisch  not- 
wendig machen  könne,  der  ästhetische  aber  verwirkliche, 
indem  er  den  geselligen  Charakter  hervorbringe, 
der  weder  aus  dem  Zwange,  den  das  Bedürfnis  übe, 
noch  aus  den  geselligen  Grundsätzen,  welche  die  Ver- 
nunft pflanze,  hervorgehen  könne. 

Hierbei  ist  die  Anschauung,  nach  welcher  der  Staat 
ein  Produkt  der  Not  und  das  Bedürfnis,  welches  sein 
Entstehen  bedingt,  am  allerwenigsten  der  Gesellschafts- 
trieb ist,  »Rousseauisch«,  die  Forderung  aber,  die  Ge- 
selligkeit auszubilden,  um  die  Gesellschaft  zu  verwirk- 
lichen, anti-Rousseauisch.  Trieb  und  Vermögen  der  Ge- 
sellschaft werden  demnach  nicht  als  ursprünglich  wirksam, 
sondern  als  bedingt  und  vermittelt  vorgestellt,  wie  es 
der  früher  gegebenen  Darstellung  der  Genesis  des  Spiel- 
triebes entspricht.  Denn  der  Umkreis  des  Spieltriebes  und 
der  Umkreis  des  schönen  Umgangs  sind  ofl"enbar  als 
ineinanderhegende  angenommen,  obgleich  der  Briefsteller 

167 


unerörtert  läßt,  inwieweit  sie  sich  decken  und  nicht 
decken.  In  dieser  Beziehung  genügt  es,  nach  dem,  was 
wir  früher  über  die  Bedeutung  des  Spieles  gesagt  haben, 
hervorzuheben,  daß  sich  der  Begriff  desselben  erst  in  der 
Gemeinsamkeit  erfüllt,  obgleich  es  auch  ein  einsames 
Spiel  gibt,  daß  aber  der  Gemeinschaftsgenuß,  den  'das 
Spiel  ausdrücklich  vermittelt,  an  die  Form  und  Förm- 
lichkeit desselben  nicht  gebunden,  also  insofern  der 
Umkreis  des  freien,  »selbstzwecklichen«  und  dadurch 
schönen  Umgangs  ein  weiterer  ist  als  der  des  eigent- 
hchen  Spieles,  welches  seinerseits,  abgesehen  davon,  daß 
es  als  ein  einsames  außerhalb  der  Grenzen  des  Umgangs 
überhaupt  liegt,  sich  zur  künstlerischen  Produktion  er- 
höhen kann,  und  als  solche  einen  Umkreis  passiver 
Teilnahme  gewinnt,  der  sich  überall  über  die  Sphären 
der  faktischen  —  also  nicht  bloß  möglichen  —  Gesellig- 
keit ausdehnt.  Dasjenige  Moment  der  Offenbarungsten- 
denz, welches  wir  als  Mitteilungstrieb  bezeichen,  ist  im 
eigentlichen  Spiele  ein  verschwindendes,  während  es  für 
den  Geselligkeitsgenuß  wesentlich  ist  und  in  ihm  zur 
vollen  Entfaltung  gelangt.  Da  aber  erst  in  der  freien 
Mitteilung  die  geistige  Natur  des  Menschen  entbunden 
wird  und  das  gemeinsame  Bewußtsein  sich  erfüllt,  so 
würde  das  Spiel  ein  geistloses  sein  und  bleiben,  wenn 
es  den  ganzen  Raum  der  Geselligkeit  einnähme,  und 
seine  Erhöhung  zur  Kunstproduktion  besteht  eben  darin, 
daß  es  den  Inhalt  des  gemeinsamen  Bewußtseins,  der 
sich  aus  der  stetigen  Übung  des  freien  Mitteilens  oder 
aus  der  »geselligen  Unterhaltung«  ergibt,  in  sich  auf- 
nimmt und  formiert.  Ihrerseits  ist  die  gesellige  Unter- 
haltung insoweit  Spiel  —  wenn  auch  nur  im  weiteren 
und  uneigentlichen  Sinne  —  als  sie  eben  eine   freie  und 

168 


vermöge  ihrer  Freiheit  schöne  ist.  Mit  dem  Spiele  der 
Mitteilung  —  das  sich  als  solches  von  der  Mitteilungs- 
arb ei  t  unterscheidet  —  verknüpft  sich  naturgemäß  und 
notwendig  das  spielende  Herausstellen  der  Persönlichkeit 
und  die  spielende,  also  genießende  Beobachtung  der  An- 
dern. Wenn  aber  hiernach' die  Geselligkeit  in  demselben 
Maße  zu  einer  schönen  wird,  in  welchem  die  Einzelnen, 
die  an  ihr  teilnehmen,  sich  von  der  Spannung  der 
egoistischen  und  der  Gesellschaftsinteressen  frei  machen 
und  desjenigen  Charakters,  der  ihnen  die  bestimmte 
Teilnahme  an  der  gesellschafthchen  Arbeit  oder  ihre  ge- 
sellschaftliche Stellung  leiht,  entkleiden,  um  ihre  Persön- 
lichkeit als  solche  in  Spiel  zu  setzen;  so  wird  andrer- 
seits die  gesellige  Mitteilung  und  die  Geselligkeit  über- 
haupt zu  einer  frivolen  oder  Luxusgeselligkeit,  wo  und 
soweit  sie  das  naturgemäße  und  notwendige  Verhältnis 
zu  der  gesellschaftlichen  Arbeit  —  das  Wort  im  weite- 
sten Sinne  genommen  —  nicht  hat,  also  eine  »schein- 
selige« Indifferenz  gegen  die  gesellschaftlichen  Aufgaben 
und  Interessen  ausbildet  und  affektiert.  Die  Geselligkeit 
hat  keinen  ideellen  Inhalt  und  Hintergrund,  sofern  sie 
nicht  die  realen  Strebungen  und  Gegenstrebungen  der 
Gesellschaft,  indem  sie  die  Spannung  und  Abgeschlossen- 
heit derselben  löst,  zu  freier  Reflexion  bringt;  da  aber 
der  inhaltslose  Schein  sich  unmittelbar  verflüchtigt,  so 
ist  für  seinen  Bestand  ein  Hintergrund  unentbehrlich,  der 
kein  anderer  sein  kann  als  das  möglichst  veräußerte 
Gesellschaftsinteresse.  Die  Veräußerung  des  Gesellschafts- 
interesses aber  besteht  darin,  daß  die  sozialen  Aufgaben 
teils  als  ein  für  allemal  gegebene,  teils  als  willkürlich 
bestimmte  aufgefaßt,  die  sozialen  Gegensätze  auf  ego- 
istische  Rivalitäten    reduziert,    und    hervorragende   Lei- 

169 


stungen  einseitig  unter  die  Gesichtspunkte  des  Erfolgs, 
wie  ihn  das  Glück  oder  die  Intrige  bedingen,  und  der 
abstrakten  »Auszeichnung«  gebracht  werden.  Eine  Gesell- 
schaft in  der  Gesellschaft,  welche  für  sich  die  eigentliche 
Gesellschaft  repräsentieren  will  und  deren  Gesellschafts- 
interesse sich  nach  den  angedeuteten  Richtungen  veräußert 
hat,  löst  die  Geschichte  theoretisch  und  praktisch  in  Anek- 
doten, die  sozialen  Strebungen  und  Kämpfe  in  ein  Spiel 
gemeinen  Charakters  auf,  ohne  die  Persönlichkeiten  als 
solche  in  Spiel  treten  zu  lassen,  indem  sie  vielmehr  die 
Attribute  der  gesellschaftlichen  Geltung  und  Stellung 
als  notwendige  »Bekleidung«  fordert,  statt  der  Gestalten 
Figuren  verlangt  und  die  Schranken  eines  künstlichen  An- 
Standes  ausbildet,  um  das  Spiel  egoistischer  Leiden- 
schaften, Rivalitäten  und  Reibungen,  das  sie  nicht  aus- 
schHeßt,  zu  einem  versteckten  zu  machen.  Diese  Ge- 
sellschaft, die  sich  schlechthin  als  solche  bezeichnet,  weil 
sie  ihrer  Natur  nach  exklusiv  ist  —  le  monde,  wie  die 
Franzosen  sagen,  die  für  dieselbe  mustergebend  waren, 
bevor  sie  für  die  Umkehr  des  Privilegienstaates  in  den 
Gleichheitstaat  mustergebend  wurden  oder  zu  werden 
suchten  —  zeigt  allerdings  die  Charaktermerkmale  der 
schönen  Geselligkeit,  und  zwar  in  entschiedener  Ausprä- 
gung: die  Freiheit  und  die  Form;  denn  sie  hält  sich 
von  dem  Ernste  der  sozialen  Arbeit  und  des  sozialen 
Interesses  frei,  sie  vergnügt  sich  am  Schein  und  regelt 
die  Beweglichkeit  der  Mitteilung  und  Berührung,  die  sie 
nicht  nur  zuläßt,  sondern  in  Anspruch  nimmt,  durch 
strenge  und  minutiöse  Gesetze.  Aber  dieses  Gesetz  ent- 
behrt der  Notwendigkeit  —  es  offenbart  sich  als  will- 
kürliches im  Wechsel  der  Mode,  deren  Herrschaft  eine 
launenhafte,  also  im  eigentlichsten  Sinne  despotische  ist  — 

170 


der  Schein  ist  materieller  Aufwand  oder  bleibt  mit  einer 
Realität,  die  er  verbirgt,  behaftet,  und  weil  beides  der 
Fall,  weil  das  Gesetz  ohne  Notwendigkeit  und  der  Schein 
kein  Erscheinen  ist,  kann  von  einem  wahrhaften  Frei- 
heitsgenusse  im  Umkreise  dieser  organisierten  Geselligkeit 
nicht  die  Rede  sein,  und  'Weit  entfernt,  den  Begriff  der 
Schönheit  zu  erfüllen,  stellt  sie  nur  die  anspruchsvolle 
und  aufgeputzte  Widernatürlichkeit  dar. 

34.  Es  ist  hiernach  nicht  die  abstrakte  Abscheidung 
von  den  sozialen  Arbeiten  und  Interessen,  welche  die 
schöne  Geselligkeit  ermögHcht  und  begründet,  vielmehr 
geben  jene  für  diese  den  notwendigen  Inhalt  ab,  wel- 
cher, indem  er  zu  ungehemmter  und  allseitiger,  also 
spielender  Reflexion  kommt,  sich  abklärt  und  zum  freien 
Eigentume  des  Gemeinbewußtseins  wird,  wie  die  Form, 
welche  sich  die  Gesellschaft  in  der  Geselligkeit  gibt,  not- 
wendig die  spielende  Selbstgestaltung  derselben,  die 
zu  der  Selbstgestaltungsarbeit  an  sich  ein  bestimmtes 
Verhältnis  hat,  sein  muß,  wenn  sie  nicht  eine  willkür- 
liche und  dadurch  unschöne  sein  oder  werden  soll.  Das 
an  sich  bestehende  Verhältnis  aber,  welches  das  Spiel 
zur  Arbeit  hat,  ist  dies,  daß  es  deren  freie,  von  der  ma- 
teriellen Vermittlung  unabhängige,  durch  die  Vorstellung 
sich  ergänzende  und  daher  schöpferische  Nachahmung 
ist,  welche  als  solche,  was  sie  nachbildet,  idealisiert,  und 
den  Inhalt  des  Kennens  und  Könnens,  den  sie  emp- 
fängt, vermehrt  zurückgibt.  Damit  ist  ausgesprochen,  daß 
Arbeit  und  Spiel  nicht  nur  einen,  im  einfachen  Gegen- 
satze aufgehenden  Wechsel  des  Zustandes  und  des  Ver- 
haltens ausdrücken,  sondern  sich  gegenseitig  nach  Inhalt 
und  Form  bestimmen  und  erhöhen,  d.  h.  bestimmen  und 
erhöhen  müssen,  wenn  ihr  Wechsel  ein  fruchtbarer  sein 

171 


soll,  daß  also  der  ästhetische  Charakter  des  Spiels  sich 
auf  die  Arbeit  ebensogut  zu  übertragen  hat,  wie  das 
Spiel  das  in  der  Arbeit  entwickelte  Vermögen  aufnimmt, 
und  daß,  wenn  wir  den  Umkreis  der  Geselligkeit  als 
die  notwendige  Erweiterung  und  Umgebung  des  Spiels 
auffassen,  aus  dem  Selbstgenusse  der  Gesellschaft  in  der 
Geselligkeit  die  Fähigkeit  der  sozialen  Formierung,  des  an- 
standsvollen  Kampfes  und  der  freien  und  freudigen  Ver- 
einigung, mit  einem  Worte  aus  der  schönen  Gesellig- 
keit, welche  die  Teilnahme  an  der  Selbstgestaltungsarbeit 
der  Gesellschaft  verlangt,  der  schöne  Staat  hervor- 
gehen muß,  wie  die  Karikatur  der  schönen  Geselligkeit 
das  unfreie  und  dadurch  unschöne  Staatswesen  nicht  nur 
zur  Voraussetzung  hat,  sondern  auch  die  mit  dieser  Vor- 
aussetzung gegebenen  unschönen  Zustände  ihrerseits  aus- 
prägt. Damit  ist  die  Möglichkeit  einer  exklusiven 
schönen  Geselligkeit  ausgeschlossen,  obgleich  die  Ab- 
stufungen, die  in  der  Teilnahme  an  der  durchgreifenden 
Selbstgestaltung  der  Gesellschaft  ebenso  notwendig  statt- 
finden wie  die  Teilung  der  Arbeit  überhaupt  notwendig 
ist,  den  Charakter  der  Geselligkeit  vielfach  modifizieren 
müssen.  Denn  während  diejenigen,  welche  der  Teil- 
nahme an  der  sozialen  Arbeit  enthoben  sind  oder  sich 
selbst  entheben,  für  die  Darstellung  der  schönen  Ge- 
selligkeit des  Stoffes  und  der  Kraft  entbehren,  tritt  überall, 
wo  die  Teilnahme  an  der  Gestaltung  der  Gesellschaft 
eine  durch  äußerliche  Privilegien  verengte  ist,  jene  Ver- 
äußerung des  gesellschaftlichen  Interesses  ein,  welche 
zwar  die  förmliche  Organisation  der  GeseUigkeit  nicht 
nur  zuläßt,  sondern  bedingt,  aber  die  wahrhafte  Leben- 
digkeit und  Schönheit  derselben  unmöglich  macht.  Der 
Begriff  der  schönen  Geselligkeit    erfüllt   sich  also  nur 

172 


da,  wo  sie  vermöge  der  allgemeinen,  obgleich  abge- 
stuften Teilnahme  an  der  Gestaltung  der  Gesellschaft 
eine  allgemeine  sein  kann,  und  den  ästhetischen  Cha- 
rakter, den  sie  gewinnt,  den  verschiedenen  Formen  der 
Arbeit  und  der  Vereinigung  mitteilt.  Während  daher  die 
Darstellung  der  Geselligkeit  in  einer  durch  das  Privi- 
legium abgesonderten  Gesellschaftssphäre  nur  eine  aus- 
geprägte Karikatur  des  Gesellschaftsideales  hervorbringen 
kann,  bleibt  die  sporadische  Verwirklichung  der 
schönen  Geselligkeit,  wie  sie  unter  besonders  günstigen 
Verhältnissen  stattfinden  zu  können  scheint,  immer  nur 
eine  ansatzweise  und  verschwindende,  die  eine  dauernde 
Befriedigung  nicht  zu  gewähren  vermag. 

Wir  können  demnach  auch  die  Antwort,  welche  der 
Briefsteller  auf  die  Frage  gibt,  ob  »ein  solcher  Staat  des 
schönen  Scheines  —  wie  er  ihn  als  Bereich  des  schönen 
Umgangs  charakterisiert  hat  —  existiere  und  wo  er 
zu  finden  sei«,  keineswegs  befriedigend  finden,  abge- 
sehen davon,  daß  wir  schon  die  Fragstellung,  insofern 
sie  das  Verlangen  nach  einem  Staate  im  Staate,  einem 
abgesonderten  Bereiche  des  schönen  Umgangs  voraus- 
gesetzt, nicht  anerkennen  können.  Denn  diese  Antwort  ver- 
weist das  Bedürfnis  nach  einer  ästhetischen  und  damit  freien 
Existenz  auf  die  sporadische  Verwirklichung  der  schönen 
Geselligkeit,  die  nach  unserer  Ansicht  nur  eine  unge- 
nügende sein  kann,  welche  bei  energischer  Geselligkeits- 
tendenz dieses  Ungenügen  von  vornherein  herausstellt, 
bei  schwächlicher  ein  die  Auflösung  in  sich  selbst  tra- 
gendes Werden,  ein  zufälliges  und  vergängliches  »Glück« 
ist.  Die  Worte  des  Briefstellers  lauten:  »Dem  Bedürfnis 
nach  existiert  er  —  der  Staat  des  schönen  Scheines  — 
an  jeder  feingestimmten  Seele;  der  Tat  nach  möchte  man 

1/3 


ihn  wohl  nur,  wie  die  reine  Kirche  und  die  reine  Re- 
pubHk,  in  einigen  wenigen  auserlesenen  Zirkeln  finden, 
wo  nicht  die  geistlose  Nachahmung  fremder  Sitten,  son- 
dern eigene  schöne  Natur  das  Betragen  lenkt,  wo  der 
Mensch  durch  die  verwickeltsten  Verhältnisse  mit  kühner 
Einfalt  und  ruhiger  Unschuld  geht,  und  weder  nötig  hat, 
fremde  Freiheit  zu  kränken,  um  die  seinige  zu  behaupten, 
noch  seine  Würde  wegzuwerfen,  um  Anmut  zu  zeigen.« 
Diesen  Worten  gegenüber  haben  wir  nicht  nur  auf  das 
oben  Gesagte,  das  sich  auf  die  Unmöglichkeit  bezieht, 
die  schöne  Geselligkeit  für  sich  und  abgesondert  zu 
realisieren,  sondern  auf  unsere  ganze  Besprechung  der 
»Briefe«  zurückzuweisen,  da  diese  überall  dem  Genügen 
am  Ideal  als  solchem  und  an  seiner  momentanen  Verwirk- 
hchung  entgegentritt.  Die  Charakteristik  aber,  die  Schiller 
hier  und  zum  Schlüsse  von  der  schönen  Geselligkeit, 
wie  sie  in  »auserlesenen  Zirkeln«  herrscht,  aufstellt, 
schließt  offenbar  einen  kritischen,  gegen  die  Verfälschung 
des  Geselligkeitsideales  durch  die  »auserlesene«  Gesell- 
schaft gerichteten  Gedanken  ein,  der  insbesondere  auch 
in  der  Erwähnung  der  »geistlosen  Nachahmung  fremder 
Sitten«  hindurchschlägt.  Dabei  ist  die  Beziehung  auf  das 
mustergebende  französische  Geselligkeitswesen  unzweifel- 
haft; gegen  die  Nachahmung  aber  nicht  nur  der  fremden 
Geselligkeitsformen,  sondern  auch  der  fremden  Staats- 
formen, und  überhaupt  der  »fremden  Fortschritte«  kann  in 
der  Tat  nicht  ernst  und  entschieden  genug  gesprochen  wer- 
den. Die  Kraft  und  Zukunft  eines  Volkes  liegt  in  seiner  Ori- 
ginalität, in  den  Hilfsmitteln,  die  es  aus  sich  selbst  schöpft, 
während  die  Nachahmung  nicht  nur  immer  »zu  spät« 
kommt,  sondern  auch  als  fortgesetzte  die  Schwäche,  aus  der 
sie  hervorgeht,  bis  zur  gänzlichen  Energielosigkeit  steigert. 

174 


35-  In  den  »Reden  an  die  deutsche  Nation«  nimmt 
Fichte  für  das  deutsche  Volk  den  Vorzug  der  Originalität 
als  einem  in  seiner  »Urtümlichkeit«  und  üngemischtheit 
begründeten  derart  in  Anspruch,  daß  die  Zuerkennung 
zugleich  und  sogleich  zum  energischen  Postulat  wird. 
In  der  Tat  steht  zu  dem  Vorzuge  der  Originalität,  der 
bei  einem  Volke  die  Fähigkeit  ist,  seine  historische 
Wirklichkeit  frei  und  eigenartig,  aus  seinem  angeborenen 
und  unveräußerlichen  Wesen  schöpfend,  zu  schaffen,  die 
Nachahmungssucht,  deren  Deutsche  das  deutsche  Volk 
von  jeher  bezichtigt  haben,  in  einem  scharfen  und  schein- 
bar unlöslichen  Widerspruche.  W^enn  wir  aber  nur  die- 
jenige Originalität,  welche  eine  historisch  berechtigte  und 
bedeutende  ist,  als  einen  Vorzug  anzuerkennen  haben, 
und  demgemäß  für  die  Eigenartigkeit  einer  volkstüm- 
lichen Existenz  und  Bildung  den  Charakter  der  relativen 
Allgemeinheit  verlangen  —  wie  es  Fichte  hypothe- 
tisch dadurch  tut,  daß  er  das  deutsche  Volk  das  Volk 
schlechthin  nennt  —  so  finden  wir  für  die  Erscheinung 
der  Nachahmungssucht  einen  Erklärungsgrund,  der  den 
bezeichneten  Widerspruch  teilweise,  d.  h.  insoweit  löst, 
als  jeder  Trieb  mit  der  Fähigkeit,  die  er  einschließt,  die 
Möglichkeit  der  Veräußerung  und  Entartung  in  sich 
trägt.  Denn  eine  Volksbildung  kann  den  Charakter  re- 
lativer Allgemeinheit  nicht  durch  ein  abstraktes  Ver- 
halten des  Volkes  —  durch  die  Absonderung  und  Abge- 
schlossenheit —  sondern  nur  dadurch  gewinnen,  daß 
das  Volk  seine  Selbständigkeit  in  möglichst  weiten  und 
mannigfaltigen  Beziehungen  nicht  sowohl  erhält  als  ent- 
wickelt, und  das  Fremde  oder  Gegebene  als  Element 
—  als  Stoff  und  Reiz  —  der  Selbstgestaltung  aufnimmt 
und  verarbeitet.   Die  historische  Energie   eines  Volkes 

175 


liegt  in  der  doppelten  Fähigkeit,  Beziehungen  herzustellen 
und  Gebildetes  zu  assimilieren,  und  sie  wird  in  dem- 
selben Maße  zu  einer  wahrhaft  produktiven  oder  be- 
dingt die  konkrete  Darstellung  freier,  allseitiger  und 
schöner  Menschlichkeit,  in  welchem  der  Trieb  und  die 
Fähigkeit  der  Assimilation  Verinnerungs-  und  Gestal- 
tungstrieb und  Verinnerungs-  und  Gestaltungsvermögen 
sind,  während  die  vorwiegende  Kraft  einer  mehr  äußer- 
lichen Aneignung,  Ausgleichung  und  Beherrschung,  welche 
einseitige  Entwicklung  der  Wirkfähigkeit  ist,  als  unge- 
wöhnliche die  historische  Bedeutsamkeit  und  Bestim- 
mung allerdings  einschließt,  aber  wesentlich  negative, 
wenn  auch  durch  ihre  Dimension  großartige  Resultate 
bedingt.  Hiermit  ist  wie  der  gemeinsame  Charakter  aller 
historisch  bedeutenden  Völker  so  der  tiefgreifende  Unter- 
schied dessen,  was  sie  sind  und  leisten,  ausgesprochen, 
und  die  »Ausnahmen  von  der  Regel«  —  die  Erschei- 
nungen in  und  aus  der  Abgeschlossenheit  entwickelter, 
historisch  bedeutender  Existenzen  und  Kulturen  —  können 
nur  scheinbare  sein,  als  welche  sie  gerade  die  gegen- 
wärtige Geschichtsforschung  mit  unbewußter  und  be- 
wußter Tendenz  überall  nachweist.  Ein  nahe  liegendes 
und  bekanntes  Beispiel  geben  die  Juden  ab,  welche  — 
unzweifelhaft  ein  »originelles«  Volk  von  großer  histo- 
rischer Bestimmung  und  zur  Absonderung  und  Ab- 
schließung  geneigt  oder  genötigt,  weil  es  seinen  unbe- 
grenzten Herrschaftstrieb  wegen  der  mangelnden  reellen 
Befähigung  nicht  befriedigen  konnte  —  sich  gegen  die 
orientalischen  Kulturen,  mit  denen  sie  in  Berührung 
kamen,  und  insbesondere  auch  gegen  die  religiösen  Ideen, 
die  sie  kennen  lernten,  keineswegs  abstrakt  verhielten, 
sondern  dieselben   trotz   des   ausgeprägt   oppositionellen 

176 


Standpunktes,  den  sie  gegen  die  fremden  Völker  und 
Götter  einnahmen,  mit  ihrem  nationalen  Monotheismus 
zu  verschmelzen  verstanden,  eben  hierdurch  aber  ihre 
rehgiöse  Produktivität,  die  in  ihrer  Art  einzig  ist,  be- 
währten und  entwickelten.  Wir  haben  also  in  der  jüdi- 
schen Abgeschlossenheit,  dem  Ergebnis  der  zurückge- 
schlagenen Herrschaftstendenz,  die  umgrenzende  und 
sichernde  Verhüllung  einer  Assimilationstätigkeit  zu  sehen, 
die  unbeschadet  ihrer  Energie  eine  »geheime«,  und  zwar 
für  das  jüdische  Bewußtsein  selbst,  teilweise  blieb,  teil- 
weise, indem  sie  sich  durchsetzte,  wurde.  Der  strenge 
jüdische  Geist  aber,  der  die  Abgeschlossenheit  oder  Rein- 
heit der  nationalen  Existenz  und  mit  ihr  die  Innerlich- 
keit der  sich  stetig  fortsetzenden  Assimilation  religiösen 
Stoffes  vertrat,  hatte  mit  der  Sucht  der  Götzenaneignung 
und  der  Lüsternheit,  verbotene  Kulte  buhlerisch  zu  ko- 
sten, einen  unausgesetzten  und  harten  Kampf  zu  bestehen, 
so  daß  gerade  das  jüdische  Volk  ein  typisches  Beispiel 
der  Entartung  gewährt,  in  welcher  sich  Trieb  und  Ver- 
mögen der  Assimilation  veräußern,  verfälschen  und  auf- 
lösen —  einer  Entartung,  die  nur  da  als  eine  sich  wieder- 
holende Entwicklungskrankheit  auftreten  kann,  wo  Trieb 
und  Vermögen  von  vornherein  auf  die  Verinnerung  und 
selbständige  Reproduktion  des  Angenommenen  gerichtet 
sind,  und  gerichtet  bleiben,  während  da,  wo  die  Energie 
der  äußerhchen  Aneignung  vorwiegt,  nur  von  einer  Er- 
schlaffung, die  nach  vollbrachter  Arbeit  -das  Genußbe- 
dürfnis entfesselt,  die  Rede  sein  kann.  Rom,  welches 
die  Weltherrschaft,  von  der  die  Juden  träumten,  durch- 
setzte und  mit  den  fremden  Ländern  auch  die  fremden 
Götter  eroberte  und  unterbrachte,  hatte  allerdings  auch 
mit  gefährlichen  Geheimkulten,  z.  B.  den  geheimen  Bac- 

Deinhardt,  Schiller.     12 


chanalien  zu  kämpfen,  aber  dieser  Kampf  galt  nicht  den 
Kulten  als  solchen,  sondern  dem  Geheimnis,  das  sie  zur 
Hülle  sozialer  Verschwörungen  praktischen  Charakters 
machte;  das  Eindringen  der  griechischen  »Bildung«  aber 
läßt  sich  nur  als  Folge,  nicht  als  Ursache  der  Abspan- 
nung betrachten,  in  welcher  die  spezifische  Energie  des 
römischen  Wesens  sich  verlor,  wie  es  keine  noch  vor- 
handene Produktivität  schwächte,  sondern  eine  kaum  in 
der  Anlage  gegebene  zu  künstlicher  Blüte  brachte. 

Je  älter  die  Klage  über  die  Nachahmungssucht  und 
Ausländerei  der  Deutschen  ist,  um  so  weniger  begründet 
sie  einen  Zweifel  an  der  Originalität  des  deutschen  We- 
sens, ohne  daß  deshalb  ein  indifferentes  Verhalten  gegen 
das  vorhandene  Übel  zulässig  wäre.  Wenn  der  Trieb 
und  die  Fähigkeit,  sich  vergangener  Bildungen  zu  be- 
mächtigen, neue  Kulturelemente  schöpferisch  aufzuneh- 
men und  die  Mannigfaltigkeit  der  Gestaltungen,  welche 
die  historische  Gegenwart  ausmachen,  zu  reflektieren,  bei 
keinem  Volke  so  groß  sind  wie  bei  den  Deutschen  und 
als  ein  Beweis  für  die  Tiefe  seiner  Eigenartigkeit  aner- 
kannt werden  müssen,  so  haben  wir  die  deutsche  Nach- 
ahmungssucht, die  alles  Fremde  leicht  annimmt,  obgleich 
das  am  leichtesten  Angenommene  nur  schwerfällig  re- 
produziert, und  sich  bis  auf  die  Formen  der  ökonomi- 
schen und  politischen  Tätigkeit  erstreckt,  als  die  Ver- 
äußerung und  Verfälschung  einer  historischen  Energie 
anzusehen,  welche  diese  Veräußerung  und  Verfälschung 
nicht  erleiden  kann,  ohne  in  ihr  teilweise  und  langsam 
absorbiert  zu  werden,  und  nicht  erleiden  würde,  wenn 
sie  nicht  an  sich  in  einseitiger  Richtung  gesteigert  und 
in  entgegengesetzter,  nämlich  als  praktische  Gestaltungs- 
und Produktionstendenz  zurückgetreten  wäre.  Soll  daher 

178 


das  deutsche  Volk  seinen  historischen  Charakter  be- 
haupten und  entwickeln,  soll  es  der  Zukunft,  auf  die  es 
einen  wohlbegründeten  Anspruch  hat,  sicher  bleiben,  so 
ist  ihm  ein  zeitweiliger  Reinigungs-  und  Ausscheidungs- 
prozeß, durch  den  es  abstößt,  was  es  äußerlich  ange- 
nommen, ein  unerläßliches  Bedürfnis,  die  Nachhaltigkeit 
der  Befreiung  aber  ist  durch  das  Freiwerden  des  gebun- 
denen Gestaltungstriebes,  also  durch  Schöpfungen  be- 
dingt, die  als  unzweideutig  selbständige  und  grund- 
legende die  vorhandene  Originalität  neu  bewähren. 

Das  Postulat  der  Nationalerziehung,  zu  welchem  Fichte 
gelangt,  indem  er  einen  gründlichen  Reinigungs-  und 
Ausscheidungsprozeß  in  Anspruch  nimmt,  ist  ein  un- 
praktisches insofern,  als  es  die  Forderung  einer  un- 
möglichen Absonderung  und  Abschließung,  und  zwar 
einer  nicht  nur  nach  außen,  sondern  auch  nach  innen 
durchzusetzenden,  enthält  und  ausprägt.  Der  Gedanke 
aber,  daß  das  deutsche  Volk  mittels  der  Erziehung  aus 
sich  machen  müsse,  was  es  seiner  Natur  und  Bestim- 
mung nach  ist,  gehört  Fichte  nicht  allein  an;  er  erscheint 
bei  allen  Denkern  und  Dichtern  unserer  philosophisch- 
poetischen Epoche  mehr  oder  weniger  entschieden,  mehr 
oder  weniger  »national«  gefaßt  und  in  mannigfachen 
Modifikationen,  so  daß  sich  schon  hieraus  seine  innere 
Notwendigkeit  ergibt.  Er  ist  ebensowenig  unpraktisch 
wie  willkürlich,  wenn  in  dem  oft  wiederholten  Satze, 
daß  die  Deutschen  das  spezifisch  pädagogische  Volk  der 
Neuzeit  sind  —  in  der  Alten  Welt  waren  es  die  Grie- 
chen —  eine  Wahrheit  liegt,  und  wenn  es  praktischer 
ist,  die  spezifische  Befähigung  zu  entfalten  und  zu  ver- 
werten, als  sich  die  Mittel  aneignen  zu  wollen,  die 
Andere  voraus  haben  und  Wege  zu  betreten,  auf  denen 

179 


sie  uns  zuvorgekommen  sind.  Das  Verlangen  nach  reeller 
Macht  ist  ein  natürliches  und  in  gewissem  Sinne  die 
Rückkehr  zu  einer  natürlichen  Anschauungs-  und  Denk- 
weise; es  ist  aber  auch  durch  die  ideelle  historische  Auf- 
gabe, die  dem  deutschen  Volke  zugewiesen  wird  und 
zugewiesen  ist,  gerechtfertigt,  so  daß  nur  ein  falscher 
Idealismus  sich  demselben  entgegensetzen  kann.  Aber 
das  deutsche  Volk,  das  in  dem  gegenwärtigen  »Industrie- 
kampfe« bei  dem  Charakter  und  mit  den  Mitteln  des- 
selben nur  mühsam  »konkurriert«,  und  dem  andrerseits 
die  pohtische  Zentralisation,  welche  die  fertigen  Kräfte 
wirksam  zusammenfaßt,  fehlt,  wie  sie  als  mechanische 
seiner  Natur  widerstrebt,  ist,  um  die  gebührende  Mäch- 
tigkeit zu  gewinnen,  wenn  auch  nicht  einseitig,  so  doch 
vorzugsweise  auf  die  Erzeugung  und  Bildung  von  Kräften,, 
auf  die  gründliche  Entwicklung  der  Wehr-  und  Arbeits- 
fähigkeit, auf  die  Gestaltung  der  »Einheit«  von  unten 
auf,  die  ein  allgegenwärtiges  Einigungsvermögen  ver- 
langt, folglich  auf  die  Organisation  der  allgemeinen  Er- 
ziehung angewiesen.  Mit  dieser  Überzeugung  wird 
sich  hoffentlich  die  andere  ausbreiten  und  befestigen, 
daß  die  wahrhaft  praktische  Erziehung  bei  der  An- 
lage und  Bestimmung  des  deutschen  Volkes  die  zu  voller 
Wirklichkeit  gebrachte  ästhetische  Erziehung  ist, 
deren  Begriff  und  Ideal  fortgesetzt  bestimmt  werden  muß. 
Für  diese  Bestimmung  aber  ist  —  wie  sich  aus  den  vor- 
anstehenden Erörterungen  hoffentlich  herausgestellt  hat 
—  das  mit  erneutem  Ernste  aufgenommene  Studium 
Schillers  ein  unumgängliches,  weil  gegebenes  Mittel. 


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